Slawophilie
Slawophilie (russisch славянофильство Slawjanofilstwo) entstand als intellektuelle Bewegung im Russland des 19. Jahrhunderts und verfolgte die Absicht, die zukünftige Entwicklung des Landes auf Werte und Institutionen zu gründen, die aus der frühen Geschichte Russlands abgeleitet waren. Zu den Begründern der Bewegung gehörten der Religionsphilosoph Alexei Chomjakow, die Brüder Iwan und Konstantion Aksakow sowie Iwan Kirejewski. Ihre Interessengebiete waren breitgefächert und umfassten Philosophie, Geschichte, Philologie und Folklore; doch alle vertraten die Ansicht, dass Russland nicht Westeuropa als Modell für seinen Modernisierungsprozess nehmen sollte, sondern sich in seiner künftigen Entwicklung am Verlauf seiner eigenen Geschichte orientieren sollte. Als Gegensatz zur Slawophilie erschien zu jener Zeit „Slawophobie“ oder die von Iwan Aksakow so bezeichneten „Westler“.
Geschichte im 19. Jahrhundert
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Bewegung entstand in den 1830er Jahren und war zunächst vom deutschen Idealismus beeinflusst, insbesondere von Friedrich Schelling. Die Diskussion zwischen Westlern und Slawophilen entfachte 1836 Pjotr Tschaadajew mit seinem „Ersten Philosophischen Brief“, in dem er negative Seiten Russlands anprangerte und das Land als rückschrittlich bezeichnete:
„Einsam stehen wir da in der Welt, haben ihr nichts gegeben, haben sie nichts gelehrt; wir haben keine einzige Idee zur Gesamtheit der menschlichen Ideen beigetragen; wir haben nichts zum Fortschritt des menschlichen Geistes beigesteuert, und alles, was von diesem Fortschritt zu uns kam, haben wir entstellt.“
Die ersten Slawophilen hielten ihrerseits Westeuropa, das durch den Katholizismus und den Protestantismus geprägt war, für moralisch korrupt und betrachteten westliche politische und wirtschaftliche Institutionen (z. B. Verfassungen oder den Kapitalismus) als Auswüchse einer mangelhaften Gesellschaft. Ihr Ideal war der russisch-orthodoxe Glaube, dem die Mehrheit der Bewohner Russlands angehörte und der das russische Volk zu einer „christlichen Gemeinschaft“ prägte. Die russische Dorfgemeinschaft, organisiert als Mir bzw. Obschtschina und Artel[2] betrachteten sie als unverfälschte Verkörperung dieser christlichen Gemeinschaft. Sie vertraten auch die Ansicht, dass eine autokratische Regierungsform einem geistig-religiös verbundenen Volk angemessen war und dass es Russlands Pflicht sei, den Westen neu zu beleben, indem Rationalismus, Materialismus und Individualismus durch die in Russland traditionell überlieferten Werte ersetzt würden.[3] Die Bewegung pries den Mir als positiven Gegenpol zur Industrialisierung und zur städtischen Entwicklung, und der Schutz der Dorfgemeinschaft erschien ihnen als wichtige Maßnahme, um den Aufstieg der Arbeiterklasse zu verhindern.[4]
Andererseits erkannten die Anhänger der Slawophilie, dass ihre zeitgenössische Gesellschaft nicht ihrem Ideal entsprach. Sie glaubten, dass Zar Peter der Große während seiner Herrschaft von 1682 bis 1725 durch die Einführung westlich orientierter Reformen Russland korrumpiert, einen Keil zwischen Adel und Bauernschaft getrieben und die natürlichen sozialen Beziehungen gestört habe. Sie verachteten die unter Peter dem Großen organisierte Staatsbürokratie mit der Einführung der Rangtabelle und des Regierenden Senats sowie die kirchlichen Reformen mit der Einführung des Heiligsten regierenden Synod und wandten sich auch gegen die Reformen von Katharina der Großen. Gleichzeitig drängten die Slawophilen auf die Emanzipation der Leibeigenen, die schließlich mit der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 erfolgte, und auf den Abbau der Bürokratie.[3]
Die meisten Slawophilen waren Anhänger des Liberalismus, ihr politisches Ideal war eine konstitutionelle Monarchie nach dem Vorbild der Wetsche oder der Ständeversammlung des Semski Sobor im 16. und 17. Jahrhundert.[5]
Während Ukrainer und Weißrussen von den Slawophilen als Teil der „großen russischen Nation“ angesehen wurden, bildeten Polen ein besonderes Problem. Seit 1795, dem Abschluss der drei Teilungen Polens, lebten Hunderttausende von ihnen auf russischem Boden. Am Wiener Kongress 1815 erhielt Russland weitreichende Kontrolle über Kongresspolen, das später als „Weichselland“ bezeichnet wurde. Die Polen, ebenfalls ein slawisches Volk, standen durch ihr Bekenntnis zur römisch-katholischen Kirche in scharfem Gegensatz zu den orthodoxen Russen. Die antipolnischen Gefühle der Slawophilen verstärkten sich nach dem Januaraufstand 1863 gegen die russische Teilungsmacht.
Potschwennitschestwo
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im späteren 19. Jahrhundert entstand innerhalb der Slawophilie die konservative Bewegung Potschwennitschestwo (russisch почвенничество), wörtlich etwa: „Rückkehr zum Erdboden“. Sie wurde von Dostojewski, Konstantin Leontjew, Nikolai Danilewski und Apollon Grigorjew eingeführt und galt unter Konstantin Pobedonoszew, dem Ober-Prokurator der Heiligen Synode Russlands, als offizielle staatliche Ideologie unter der Herrschaft der Zaren Alexander III. und Nikolaus II.[6]
Heutige Bedeutung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Gennadi Sjuganow, seit 1993 Vorsitzender des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) und orthodoxer Christ, beruft sich In seinen zahlreichen national-patriotischen Schriften auf die Kontinuität des autokratischen und des sowjetischen Imperiums. In Anlehnung an das Leitprinzip Orthodoxie, Autokratie, Nationalität von Uwarow, Minister für Volksaufklärung unter Nikolaus I., prägte Sjuganow die Formel Staatlichkeit, Geistigkeit, Gemeinschaftlichkeit für einen neuen starken Staat und einen neuen Sozialismus.[2]
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- N. O. Losski: History of Russian Philosophy London, George Allen & Unwin, 1952. Online
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Slavophile In: Encyclopedia Britannica.
- Slawophile, Slawophilismus und Panslawismus KOHA, 11. Februar 2024
- Russland auf der Suche nach einer postsowjetischen und postkommunistischen Identität 'OST-WEST. Europäische Perspektiven'
- Zwischen Ost und West – Russlands Suche nach Identität Bundeszentrale für politische Bildung
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Pjotr Tschaadajews "Philosophischer Brief" von 1836
- ↑ a b Russland auf der Suche nach einer postsowjetischen und postkommunistischen Identität
- ↑ a b Slavophile
- ↑ From Nyet to Da, Yale Richmond 2011
- ↑ N. O. Losski: History of Russian Philosophy S. 83
- ↑ Joseph Frank: Dostoevsky. The Stir of Liberation, 1860–1865. Princeton University Press, Princeton, New Jersey 1986, ISBN 0-691-01452-3, S. 34 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).