Tröpfchenmodell

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Das Tröpfchenmodell (engl.: liquid drop model, LDM[1]) beschreibt auf halb-empirische, makroskopische Art einen Atomkern wie einen Flüssigkeitstropfen. Die Grundidee entwickelte George Gamow.[2] 1935 stellte Carl Friedrich von Weizsäcker seine darauf beruhende Bethe-Weizsäcker-Massenformel (1936 vorgestellt und weiterentwickelt von Hans Bethe[3]) für Atomkerne vor, die mit den beobachteten Massen gut übereinstimmt.[4] 1936 entwickelte Niels Bohr das Tröpfchenmodell weiter (Compoundkernreaktion als möglicher Mechanismus von Kernreaktionen).[5] Lise Meitner und Otto Frisch nutzten das Tröpfchenmodell 1939 zur ersten Erklärung der Kernspaltung und der dabei frei werdenden Kernenergie.[6] Wichtige theoretische Ergebnisse erzielte die Arbeit von Niels Bohr und John Archibald Wheeler.[7] Ebenfalls lieferte Enrico Fermi weitere Beiträge.[8]

Das Tröpfchenmodell beschreibt in guter Übereinstimmung mit den gemessenen Werten die Bindungsenergien der Kerne. Die Grundannahme dabei ist, dass es zwischen den Bestandteilen eines Kerns (Nukleonen, also Protonen und Neutronen) eine starke anziehende Kernkraft gibt, die aber eine so kurze Reichweite hat, dass sie nur zwischen jeweils direkt benachbarten Nukleonen wirkt. Daraus ergibt sich, dass die Massendichte in allen Atomkernen weitgehend gleich ist, man kann sie also wie eine inkompressible Flüssigkeit betrachten, nur dass die Dichte der Kerne 1014 mal so groß ist wie die von Wasser. Die kurze Reichweite der Kernkraft führt auch dazu, dass Nukleonen an der Kernoberfläche schwächer gebunden sind als im Kerninnern. Dies führt zu einer Oberflächenspannung. Diese beiden Aspekte der Kernmaterie (Inkompressibilität und Oberflächenspannung) bedingen die Ähnlichkeit mit einem Flüssigkeitstropfen.

Die gegenseitige elektrische Abstoßung der Protonen, die Coulombkraft, ist selbst zwischen benachbarten Protonen schwächer als die anziehende Kernkraft, hat aber eine lange Reichweite und erfasst daher von einem Proton aus alle anderen Protonen eines Kerns. Daher sind große Kerne umso weniger stabil, je mehr Protonen sie enthalten. So sind Kerne, die mehr als 82 Protonen enthalten, instabil, also radioaktiv. Da aufgrund der genauen Gegebenheiten auch Kerne mit 43 und 61 Protonen instabil sind, existieren genau 80 verschiedene stabile chemische Elemente. Weitere 13 radioaktive Elemente kommen wegen ihrer langen Halbwertzeit auf der Erde natürlich vor, wobei die maximale Protonenzahl 94 ist.

Das Modell berücksichtigt nicht die Schalenstruktur des Atomkerns und zeigt Schwächen bei den magischen Zahlen.[9] Als eine Weiterentwicklung des klassischen Modells ist z. B. das Finite-range-droplet-model (FRDM) zu erwähnen.[10][11] Das Tröpfchenmodell gibt auch Anlass zur mathematischen Forschung.[12]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • G. Gamow, C. L. Critchfield: Theory of Atomic Nucleus and Nuclear Energy-Sources (= The International Series of Monographs on Physics). Oxford University Press ; Clarendon Press, 1949 (englisch, archive.org).
  • C. F. von Weizsäcker: Die Atomkerne (= Physik und Chemie und ihre Anwendungen in Einzeldarstellungen. Band 2). Akademische Verlagsgesellschaft, Leipzig 1937.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. P. Möller, A.J. Sierk: 80 Years of the liquid drop—50 years of the macroscopic–microscopic model. In: International Journal of Mass Spectrometry. Band 349-350, September 2013, S. 19–25, doi:10.1016/j.ijms.2013.04.008 (englisch, elsevier.com [abgerufen am 27. März 2024]).
  2. G. Gamow: Mass defect curve and nuclear constitution. In: Proceedings of the Royal Society of London. Series A, Containing Papers of a Mathematical and Physical Character. Band 126, Nr. 803, 3. März 1930, ISSN 0950-1207, S. 632–644, doi:10.1098/rspa.1930.0032 (englisch, royalsocietypublishing.org [abgerufen am 21. März 2023]).
  3. H. A. Bethe, R. F. Bacher: Nuclear Physics A. Stationary States of Nuclei. In: Reviews of Modern Physics. Band 8, Nr. 2, 1. April 1936, ISSN 0034-6861, S. 82–229, doi:10.1103/RevModPhys.8.82 (englisch, aps.org [abgerufen am 30. März 2023]).
  4. C. F. v. Weizsäcker: Zur Theorie der Kernmassen. In: Zeitschrift für Physik. Band 96, Nr. 7, 1. Juli 1935, ISSN 0044-3328, S. 431–458, doi:10.1007/BF01337700.
  5. Niels Bohr: Nuclear Physics (1929–1952). In: Rudolf Peierls, Erik Rüdinger (Hrsg.): Niels Bohr Collected Works. Band 9. North-Holland Publishing Company (Elsevier), Amsterdam 1986, ISBN 0-7204-1800-3 (englisch, sciencedirect.com).
  6. Lise Meitner, O. R. Frisch: Disintegration of Uranium by Neutrons: a New Type of Nuclear Reaction. In: Nature. Band 143, Nr. 3615, Februar 1939, ISSN 1476-4687, S. 239–240, doi:10.1038/143239a0 (englisch, nature.com [abgerufen am 27. August 2023]).
  7. Niels Bohr, John Archibald Wheeler: The Mechanism of Nuclear Fission. In: Physical Review. Band 56, Nr. 5, 1. September 1939, S. 426–450, doi:10.1103/PhysRev.56.426 (englisch, aps.org [abgerufen am 27. August 2023]).
  8. Enrico Fermi and Uranium Fission. IAEA, 19. Mai 2014, abgerufen am 27. August 2023 (englisch).
  9. Klaus Blaum, Michael Wiescher: Von der Massenformel zum Multizyklus. Zum 100. Geburtstag von Carl Friedrich von Weizsäcker (1912 – 2007). In: Physik Journal. Band 11, Nr. 7, 2012 (pro-physik.de [abgerufen am 1. April 2023]).
  10. Peter Möller, William D. Myers, Hiroyuki Sagawa, Satoshi Yoshida: New Finite-Range Droplet Mass Model and Equation-of-State Parameters. In: Physical Review Letters. Band 108, Nr. 5, 31. Januar 2012, ISSN 0031-9007, S. 052501, doi:10.1103/PhysRevLett.108.052501 (englisch, aps.org [abgerufen am 1. April 2023]).
  11. P. Möller, A.J. Sierk, T. Ichikawa, H. Sagawa: Nuclear ground-state masses and deformations: FRDM(2012). In: Atomic Data and Nuclear Data Tables. Band 109-110, Mai 2016, S. 1–204, doi:10.1016/j.adt.2015.10.002, arxiv:1508.06294 [abs] (englisch, elsevier.com [abgerufen am 1. April 2023]).
  12. Rustum Choksi, Cyrill B. Muratov, Ihsan Topaloglu: An Old Problem Resurfaces Nonlocally: Gamow's Liquid Drops Inspire Today's Research and Applications. In: Notices of the American Mathematical Society. Band 64, Nr. 11, 1. Dezember 2017, ISSN 0002-9920, S. 1, doi:10.1090/noti1598 (englisch, ams.org [PDF; abgerufen am 21. März 2023]).