Vollgeld-System

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Vollgeld ist bestandsicheres und unbeschränktes gesetzliches Zahlungsmittel. Es wird von einem öffentlichen Organ herausgegeben, in Europa der Zentralbank eines nationalen Währungsraums, speziell im Euroraum der Europäischen Zentralbank (EZB). Vollgeld umfasst neben Bargeld (Münzen und Banknoten) auch das Buchgeld der Zentralbanken, die sog. Reserven, die jedoch nur unter Banken zirkulieren. Dagegen ist das Buchgeld auf Konten von Bankkunden, das sog. Giralgeld, kein Vollgeld, sondern nur ein Anspruch auf solches.[1]

Geldschöpfung jeder Art wäre in einer reinen Vollgeldordnung der entsprechenden Zentralbank vorbehalten, insbesondere auch in Form von Vollgeldkonten für den allgemeinen Zahlungsverkehr sowie in Form von digitalem Blockchain-basiertem Zentralbankgeld, das nicht an herkömmliche Konten gebunden ist und eine moderne Form von Bargeld darstellt. Buchgeldschöpfung durch Kreditinstitute wie Geschäftsbanken wäre ausgeschlossen. Es gibt jedoch auch Ansätze, die das Weiterbestehen von Giralgeld parallel zur schrittweisen Einführung von unbarem Vollgeld vorsehen.[2]

Geschichte

US-Ökonomen wie Irving Fisher analysierten die Weltwirtschaftskrise ab 1929. Die zu hohe Giralgeldschöpfung der Geschäftsbanken während des vorgängigen Wirtschaftsaufschwungs wurde als auslösende Hauptursache erkannt. Fisher veröffentlichte daraufhin seine Vorstellungen zum sogenannten 100-%-Geld. Nach diesem Ansatz sollte die Kreditvergabe der Banken ausschließlich mit hinterlegtem Zentralbankgeld erfolgen dürfen. Auch Ökonomie-Nobelpreisträger Milton Friedman war von der Idee überzeugt, dass der Staat Banken verbieten sollte, im Zuge ihrer Kreditvergabe einfach neues Geld in Umlauf zu bringen. Ein Geldinstitut dürfe nur dann ein neues Darlehen vergeben, wenn es im gleichen Ausmaß über Bargeldreserven verfüge.[3][4] Der deutsche Wirtschaftswissenschafter und Mitglied des Direktoriums der Deutschen Bundesbank Rolf Gocht schlug 1975 eine neue Geldordnung vor, welche die Geldschöpfung durch Geschäftsbanken verhindern würde.[5] Im Gegensatz zu Fisher und Friedman handelte es sich bei den Vorschlägen von Gocht um ein System, bei welchem alles Geld nur von der Zentralbank ausgegeben werden soll. Dieses System wurde durch Professor Joseph Huber auf dem Lehrstuhl für Wirtschafts- und Umweltsoziologie an der Martin-Luther-Universität in Halle weiterentwickelt und in der Folge als Vollgeld-System bezeichnet.[6]

Richard A. Werner, Professor für internationales Bankwesen an der Universität Southampton in England, entwickelte verwandte Vorschläge für ein weniger krisenanfälliges Geldsystem. Er stellte ebenfalls fest, dass die Kreditvergabe durch Geschäftsbanken für spekulative Zwecke jeweils vor Ausbruch von Krisen stark anstieg. Ob die Kreditgewährung übertrieben und spekulativ ist oder nicht, verrät nach seinen Untersuchungen die Mittelverwendung. Falls die Kredite hauptsächlich unproduktiven Zielen dienten, liegt eine Fehlentwicklung vor. Deshalb wünscht Werner, dass die zuständige Zentralbank entscheidet, wie groß das Kreditvolumen insgesamt sein darf und wem die neugeschaffenen Mittel überlassen werden sollen.[7]

Allen genannten Vorschlägen ist gemeinsam, dass Geldschöpfung der Geschäftsbanken durch die Zentralbank entweder eingeschränkt oder ganz abgeschafft werden soll.

Funktionsweise eines Vollgeld-Systems

Nachdem die zuständige Zentralbank Vollgeld im von der Wirtschaft eines Währungsraumes notwendigen Umfang ausgegeben hat, finanzieren Geschäftsbanken mit zirkulierendem Geld wirtschaftliche Aktivitäten wie durch das Vergeben von Krediten nach eigenem Ermessen, durch das Platzieren von Wertpapieren oder durch das Vermitteln von Kapitalbeteiligungen. Die Banken erbringen auch Dienstleistungen wie Geldwechseln, Abwicklung des Zahlungsverkehrs und Vermögensverwaltung. Jedoch zirkuliert Vollgeld auf Girokonten außerhalb der Bankbilanzen. Es entsteht und existiert nicht als Kundenforderung an die Bank beziehungsweise als Bankverbindlichkeit gegenüber dem Kunden. Zahlungsverkehr stellt nicht mehr Verrechnungen von Bankverbindlichkeiten dar, sondern einen tatsächlichen Fluss von liquiden Aktiva. Die Banken werden zu reinen Intermediären (Kreditvermittlern).[8]

Einlagen bei Banken

Gesicherte zinslose Kundeneinlagen auf Girokonten bei Geschäftsbanken werden durch diese treuhänderisch verwaltet. Bei Ausfall einer Bank sind diese Kundengelder nicht gefährdet, weil ein entsprechendes Kundenguthaben bei der Zentralbank besteht. Alternativ können Kunden der Bank Geld zu einem durch die Geschäftsbank definierten Zins auf einem Sparkonto überlassen. Die Bank kann diese Gelder für Ausleihungen nutzen. In diesem Fall besteht das Gegenparteirisiko bei der entsprechenden Geschäftsbank.[9]

Kreditvergabe

Kredite können von Geschäftsbanken nur mit Geld vergeben werden, welches sie sich bei der Zentralbank ausgeliehen haben, ihnen auf verzinsten Kundenkonten überlassen wurde oder ihnen durch Aufnahme am Kapitalmarkt zugeflossen ist. Jede Bank entscheidet unabhängig, an wen sie zu welchen Bedingungen Kredite erteilt. Dafür trägt die Bank das alleinige Risiko. Falls ein Kreditinstitut durch ungeeignete Kreditvergabe in Schwierigkeiten gerät, ist eine Abwicklung einfacher. Girokonten außerhalb der Bankbilanz und Aufrechterhaltung des Zahlungsverkehrs lassen den Ausfall eines Instituts verkraften.

Kontrolle der Geldmenge

Die Zentralbank hat in diesem System Kontrolle über die zur Verfügung gestellte gesamte Geldmenge. Antizyklische Steuerung ist möglich, um konjunkturelle Schwankungen auszugleichen. Damit Wirtschaftswachstum möglich bleibt, wird nach Bedarf zusätzliches Geld in die Wirtschaft eingespeist, entweder durch Verteilen an alle Einwohner[10][11] oder durch zusätzliche verzinsliche Darlehen der Zentralbank an die Geschäftsbanken.

Systemwechsel

Die Umstellung von einem Mindestreserve-System auf ein Vollgeld-System kann durch einmaliges Ersetzen des vorhandenen Buchgeldes mit Vollgeld geschehen, welches der Zentralbank geschuldet wird. Dabei werden die bisherigen Verbindlichkeiten der Geschäftsbanken gegenüber ihren Kunden in eine Verbindlichkeit gegenüber der Zentralbank umgewandelt und erscheinen nicht mehr in der Bilanz der Geschäftsbanken. Die Geschäftsbanken verwalten dann diese bisherigen Kundenbeziehungen als Treuhänder. Bei der Rückzahlung ausstehender Bankkredite nach dem Systemwechsel werden Tilgungszahlungen ihrer Kunden von den Banken an die Zentralbank weitergeleitet, was zunächst zu einer Reduktion der Geldmenge führt. Dadurch kann die bisher aufgeblähte Geldmenge verringert oder alternativ durch die Zentralbank Vollgeld neu geschöpft werden. Diese Umtauschgeldschöpfung könnte zur Schuldenverringerung des Staates genutzt werden.[12]

Unterschied zu Mindestreserve- und Vollreserve-System

Ein vollständig implementiertes Vollgeld-System unterscheidet sich von Reserve-Systemen dadurch, dass real- und finanzwirtschaftlich nur noch Vollgeld zirkuliert, anstatt virtuelles Giralgeld, welches beim Mindestreserve-System lediglich durch eine kleine Reserve an Zentralbankgeld unterlegt ist. Der Unterschied zwischen Giralgeld (Bankengeld) und Reserven (Zentralbankgeld) wird damit aufgehoben. Es gibt nur noch Vollgeld von der Zentralbank, das unter allen Wirtschaftsteilnehmern in prinzipiell gleicher Weise umläuft, obschon in unterschiedlichen Gebrauchsformen (Bargeld, Kontogeld, digitales Geld).[13][8]

Praktische Umsetzung

  • In der Schweiz möchte der Verein Monetäre Modernisierung mittels einer Volksinitiative (Vollgeld-Initiative)[14] eine Verfassungsänderung erreichen, dass nur noch die Schweizer Nationalbank für die Versorgung der Wirtschaft mit Geld (Bargeld und Buchgeld) zuständig ist. Die Initiative ist am 1. Dezember 2015 gültig eingereicht worden.[15] Anschließend werden sich Parlament und Bundesrat mit der Initiative befassen und diese mit einer Empfehlung (zur Annahme oder Ablehnung) dem Schweizer Volk zur Abstimmung unterbreiten.[16]
  • Nachdem das isländische Bankensystem nach der Finanzkrise von 2008 beinahe zusammenbrach, prüft die isländische Regierung seit April 2015 einen Plan des Fortschrittspartei-Abgeordneten Frosti Sigurjónsson zur Einführung von Vollgeld.[17][18]

Argumente von Befürwortern und Gegnern

Wie üblich, meldeten sich schon während der Unterschriftensammlung in der Schweiz Befürworter[19] und Gegner[20] zu Wort. Auch außerhalb der Schweiz findet eine Diskussion statt.[21]

Stellungnahmen

Literatur

  • Christian Felber: Geld. Die neuen Spielregeln, Wien: Deuticke 2014, ISBN 978-3-552-06213-9
  • Timm Gudehus: Neue Geldordnung. Notwendigkeit, Konzeption und Einführung, Wiesbaden: Springer Gabler 2016. ISBN 978-3-658-13121-0
  • Joseph Huber, Monetäre Modernisierung: Zur Zukunft der Geldordnung – Vollgeld und Monetative. Marburg: Metropolis, 5. überarbeitete Auflage 2016 [zuerst 2010], ISBN 978-3-7316-1198-1
  • Joseph Huber, Sovereign Money. Beyond Reserve Banking, London: Palgrave Macmillan 2017, ISBN 978-3-319-42173-5
  • Thomas Mayer und Roman Huber: Vollgeld. Das Geldsystem der Zukunft. Unser Weg aus der Finanzkrise, Tectum Verlag 2014 ISBN 978-3-8288-3350-0
  • Christoph Pfluger, Das nächste Geld. Zehn Fallgruben des Geldsystems und wie wir sie überwinden, Zürich: Edition  Zeitpunkt 2015, ISBN 978-3-9523955-3-0
  • Jürgen Kremer, Geld ohne Schuld. Geldsysteme und Vollgeldreform, Marburg: Metropolis 2016. ISBN 978-3-7316-1221-6
  • Helge Peukert, Das Moneyfest, Marburg: Metropolis 2013, 978-3-7316-1042-7

Einzelnachweise

  1. Michael McLeay, Amar Radia and Ryland Thomas, Money creation in the modern economy, Bank of England Quarterly Bulletin, London 2014 Q1, S. 14–27. Deutsche Bundesbank (Hg), Geld und Geldpolitik, Frankfurt: Stand Frühjahr 2015, S. 57–83.
  2. John Barrdear und Michael Kumhof: The macroeconomics of central bank issued digital currencies. Bank of England Staff Working Paper, No. 605, Juli 2016, London. - Bank for International Settlements: CPMI report on digital currencies. Basel, 23. November 2015.
  3. Olaf Storbeck: IWF-Forscher spielen radikale Bankreform durch. Handelsblatt online, 16. August 2012
  4. Benes, Jaromir und Kumhof, Michael: The Chicago Plan Revisited, IMF-Working Paper, WP 12/202, International Monetary Fund, Washington 2012 (engl.).
  5. Rolf Gocht: Kritische Betrachtungen zur nationalen und internationalen Geldordnung. Duncker & Humblot, Berlin 2. Auflage 2011, ISBN 978-3-428-13651-3.
  6. Joseph Huber, James Robertson: Geldschöpfung in öffentlicher Hand. Weg zu einer gerechten Geldordnung im Informationszeitalter. Gauke, Kiel 2008, ISBN 978-3-87998-454-1 (überarbeitete deutsche Ausgabe von Creating New Money. A monetary reform for the information age).
  7. Richard A. Werner: Neue Wirtschaftspolitik. Vahlen Verlag, München 2007, ISBN 978-3-8006-3247-3.
  8. a b Verein Monetäre Modernisierung (Hrsg.): Die Vollgeld-Reform – wie Staatsschulden abgebaut und Finanzkrisen verhindert werden können, Edition Zeitpunkt, 3. Auflage 2013, S. 27–53, ISBN 978-3-9523955-0-9
  9. Helge Peukert: Neues Geldsystem für Europa, Deutschlandradio Kultur, 21. November 2011.
  10. Michael Malquarti: Bares für Bürger, Neue Zürcher Zeitung vom 16. Februar 2015
  11. Michael Malquarti: Mit Geldrationen gegen die Krise (Ausschütten von neuem Zentralbankgeld an die Bevölkerung). In: Handelszeitung vom 3. März 2016, S. 23
  12. Paul Schreyer: Eine neue Geldordnung. (Memento vom 27. Februar 2016 im Webarchiv archive.today) Telepolis, 1. Februar 2012
  13. Joseph Huber: Vollgeld und 100%-Reserve (Chicago Plan), abgerufen am 23. Februar 2016.
  14. 3-Minuten-Info Kurzinformation zur Schweizer Vollgeldinitiative auf Web der Initianten (vollgeld-initiative.ch)
  15. Verein sagt dem Buchgeld den Kampf an. In: Tagesanzeiger online. 1. Dezember 2015
  16. aktueller Stand: Eidgenössische Volksinitiative 'Für krisensicheres Geld: Geldschöpfung allein durch die Nationalbank! (Vollgeld-Initiative)' auf Web der Schweizerischen Bundeskanzlei (admin.ch)
  17. Iceland Prime Minister’s Office, 31. März 2015: Fundamental reform of the monetary system must be considered, says head of Iceland Parliament’s Committee for Economic Affairs
  18. Isländische Regierung prüft Vollgeld-Vorschlag, Telepolis, 8. April 2015
  19. z.B. Reinhold Harringer: Ein notwendiger Schritt. In: Neue Zürcher Zeitung. 13. Oktober 2015, S. 12
  20. z. B. Jörg Baumberger: Das Sein und das Nichts. In: Neue Zürcher Zeitung. 13. Oktober 2015, S. 12
  21. Kritik und Gegenkritik, abgerufen am 23. Februar 2016