„Wirtschaftsdemokratie“ – Versionsunterschied

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== Definitionen ==
== Definitionen ==
Das ''Lexikon zur Soziologie'' definiert Wirtschaftsdemokratie folgendermaßen:
Das ''Lexikon zur Soziologie'' definiert Wirtschaftsdemokratie folgendermaßen:
{{Zitat|(1) Bezeichnung für die Durchsetzung demokratischer Entscheidungsstrukturen und sozialistischer Wirtschaftsformen innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse (u.a. mittels Ausbau der schon in Staatshand befindlichen Wirtschaftsbereiche, Übernahme bestimmter Betriebe und Branchen, die direkt von öffentlichem Intreresse sind, in Staatshand, Etablierung überbetrieblicher Wirtschaftsplanung, weitgehende Mitbestimmung). Der Begriff entstammt der Theoriediskussion in Sozialdemokratie und Gewerkschaften in den 1920er Jahren. (2) Heute in der gesellschaftspolitischen Debatte meist gleichbedeutend mit Mitbestimmung.<ref>Eintrag ''Wirtschaftsdemokratie''. In: Werner Fuchs-Heinritz, Rüdiger Laufmann, Otthein Rammstedt, Hans Wienold (Hrsg.): ''Lexikon zur Soziologie''. 3. Auflage. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994.</ref>}}
{{Zitat|(1) Bezeichnung für die Durchsetzung demokratischer Entscheidungsstrukturen und sozialistischer Wirtschaftsformen innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse (u.a. mittels Ausbau der schon in Staatshand befindlichen Wirtschaftsbereiche, Übernahme bestimmter Betriebe und Branchen, die direkt von öffentlichem Intreresse sind, in Staatshand, Etablierung überbetrieblicher Wirtschaftsplanung, weitgehende Mitbestimmung). Der Begriff entstammt der Theoriediskussion in Sozialdemokratie und Gewerkschaften in den 1920er Jahren. (2) Heute in der gesellschaftspolitischen Debatte meist gleichbedeutend mit Mitbestimmung.<ref>Eintrag ''Wirtschaftsdemokratie''. In: Werner Fuchs-Heinritz, Rüdiger Laufmann, Otthein Rammstedt, Hans Wienold (Hrsg.): ''Lexikon zur Soziologie''. 3. Auflage. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994ISBN 3-531-11417-4, S. 747.</ref>}}


Der Gewerkschafter und Politikwissenschaftler [[Fritz Vilmar]] definiert Wirtschaftsdemokratie wie folgt:{{Zitat|Wirtschaftsdemokratie ist der Inbegriff aller ökonomischen Strukturen und Verfahren, durch die an die Stelle autokratischer Entscheidungen demokratische treten, die durch die Partizipation der ökonomisch Betroffenen und/oder des demokratischen Staates legitimiert sind.<ref>Fritz Vilmar: ''Wirtschaftsdemokratie - Zielbegriff einer alternativen Wirtschaftspolitik. Kritische Bilanz und Aktualität nach 40 Jahren''. [http://www.globallabour.info/de/2008/06/wirtschaftsdemokratie_zielbegr.html @Internetseite des Global Labour Institute - German] (Abgerufen am 24. März 2015)</ref>}}
Der Gewerkschafter und Politikwissenschaftler [[Fritz Vilmar]] definiert Wirtschaftsdemokratie wie folgt:{{Zitat|Wirtschaftsdemokratie ist der Inbegriff aller ökonomischen Strukturen und Verfahren, durch die an die Stelle autokratischer Entscheidungen demokratische treten, die durch die Partizipation der ökonomisch Betroffenen und/oder des demokratischen Staates legitimiert sind.<ref>Fritz Vilmar: ''Wirtschaftsdemokratie - Zielbegriff einer alternativen Wirtschaftspolitik. Kritische Bilanz und Aktualität nach 40 Jahren''. [http://www.globallabour.info/de/2008/06/wirtschaftsdemokratie_zielbegr.html @Internetseite des Global Labour Institute - German] (Abgerufen am 24. März 2015)</ref>}}

Version vom 24. März 2015, 23:35 Uhr

Mit Wirtschaftsdemokratie werden verschiedene historische und zeitgenössische Konzepte bezeichnet, welche die Mitbestimmung und Beteiligung der Arbeitnehmer an wirtschaftlichen Prozessen und eine demokratisch legitimierte Steuerung der Wirtschaft beinhalten.

Geprägt wurde der Begriff von einer im Auftrag des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes von Fritz Naphtali geleiteten Kommission zur Ausarbeitung eines Programms zu Demokratisierung der Wirtschaft. Das von namhaften Wissenschaftlern kollektiv erarbeitete Programm zur Wirtschaftsdemokratie wurde 1928 von den Delegierten des Hamurger Gewerkschaftskongresses verabschiedet. In ihrem Verständnis stellte es ein Übergangsprogramm zum Sozialismus dar.

Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte der Deutsche Gewerkschaftsbund mit seinem Münchener Programm von 1949 an diese Konzeption an, mit der eine wirtschaftliche Neuordnung zwischen Kapitalismus und kommunistischer Planwirtschaft angestrebt wurde.

Definitionen

Das Lexikon zur Soziologie definiert Wirtschaftsdemokratie folgendermaßen:

„(1) Bezeichnung für die Durchsetzung demokratischer Entscheidungsstrukturen und sozialistischer Wirtschaftsformen innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse (u.a. mittels Ausbau der schon in Staatshand befindlichen Wirtschaftsbereiche, Übernahme bestimmter Betriebe und Branchen, die direkt von öffentlichem Intreresse sind, in Staatshand, Etablierung überbetrieblicher Wirtschaftsplanung, weitgehende Mitbestimmung). Der Begriff entstammt der Theoriediskussion in Sozialdemokratie und Gewerkschaften in den 1920er Jahren. (2) Heute in der gesellschaftspolitischen Debatte meist gleichbedeutend mit Mitbestimmung.[1]

Der Gewerkschafter und Politikwissenschaftler Fritz Vilmar definiert Wirtschaftsdemokratie wie folgt:

„Wirtschaftsdemokratie ist der Inbegriff aller ökonomischen Strukturen und Verfahren, durch die an die Stelle autokratischer Entscheidungen demokratische treten, die durch die Partizipation der ökonomisch Betroffenen und/oder des demokratischen Staates legitimiert sind.[2]

Chronologie

Weimarer Republik

Die Forderung nach der Demokratisierung der Wirtschaft war in den 1920er Jahren eine programmatische Forderung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB). Zu ihrer theoretischen Grundlage wurde die von dem Sozialdemokraten Rudolf Hilferding formulierte Theorie des organisierten Kapitalismus, eine Theorie, die sich vom orthodoxen Marxismus abwandte und die Grundlagen für den sozialdemokratischen Reformismus legte.

Die von Fritz Naphtali in Gemeinschaft mit führenden, den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie verbundenen Wissenschaftlern (u.a. Fritz Baade, Rudolf Hilferding, Ernst Nölting, Hugo Sinzheimer)[3] entworfene Programm war als eine Zwischenetappe auf dem Weg zum Sozialismus konzipiert worden. Wie Naphtali auf dem Hamburger Gewerkschaftskongress 1928 in seinem Referat „Die Verwirklichung der Wirtschaftsdemokratie“ erklärte, könne man jetzt schon mit einer schrittweisen Demokratisierung der Wirtschaft beginnen, da der Kapitalismus „bevor er gebrochen wird, auch gebogen werden“ könne.[4] Die von Naphtali in einem Buch zusammengefasste Programmschrift wurde den Delegierten des Gewerkschaftstages zur Abstimmung vorgelegt. Sie ist wie folgt gegliedert:

  • I. Kapitel: Die Demokratisierung der Wirtschaft
  • II. Kapitel: Die Demokratisierung der Organe staatlicher Wirtschaftspolitik
  • III. Kapitel: Die Demokratisierung des Arbeitsverhältnisses
  • IV. Kapitel: Die Demokratisierung des Bildungswesen. Die Durchbrechung des Bildungsmonopols
  • V. Kapitel: Die Gegenwartsforderungen der Demokratisierung der Wirtschaft auf dem Wege zum Sozialismus[5]

Im umfänglichen I. Kapitel, das fast zwei Drittel des Buches ausmacht, werden die planmäßigen Formen einer „Vergesellschaftung des Kapitals“ (Kartelle, Syndikate, Trusts) und die demokratischen Selbstverwaltungsorgane der Wirtschaftsführung beschrieben sowie die nichtkapitalistischen Formen des Eigentums (öffentliche Betriebe, Konsumgenossenschaften, gewerkschaftliche Eigenbetriebe) vorgestellt. Mit ihnen werden die Tendenzen zu einem organisierten Kapitalismus (Hilferding) deutlich gemacht.

Als konkrete Schritte wurden „die Ausgestaltung des kollektiven Arbeitsrechts, des sozialen Arbeitsschutzrechts, der Ausbau und die Selbstverwaltung der Sozialversicherung, die Erweiterung des Mitbestimmungsrechts der Arbeitnehmer im Betrieb, die paritätische Vertretung der Arbeiterschaft in allen wirtschaftspolitischen Körperschaften, die Kontrolle der Monopole und Kartelle unter voller Mitwirkung der Gewerkschaften, die Zusammenfassung von Industrien zu Selbstverwaltungskörpern, die Ausgestaltung der Wirtschaftsbetriebe in öffentlicher Hand, die Produktionsförderung in der Landwirtschaft durch genossenschaftliche Zusammenfassung und Fachschulen, die Entwicklung der gewerkschaftlichen Eigenbetriebe, die Förderung der Konsumgesellschaften, die Durchbrechung des Bildungsmonopols“. (ADGB, 1928, 436f) gesehen.

Nachkriegsdeutschland

Im Jahre 1949 bei der Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes griffen die Gewerkschaften die Idee der Wirtschaftsdemokratie wieder auf, unter anderem als Ergebnis ihrer Erfahrungen von Weimar. „Die Erfahrungen der Jahre 1918 bis 1933 haben gelehrt, daß die formale politische Demokratie nicht ausreicht, eine demokratische Gesellschaftsordnung zu verwirklichen. Die Demokratisierung des politischen Lebens muß deshalb durch die Demokratisierung der Wirtschaft ergänzt werden“ (DGB, 1949, 459). Nach dem Verständnis des wirtschaftspolitischen Sprechers des DGB, Viktor Agartz, wurde die „neue Wirtschaftsdemokratie“ Bestandteil des DGB-Programms zur „Neuordnung der Wirtschaft“[6] In der damaligen Situation wurde dieses Programm als Alternative zur ordoliberalen Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft begriffen.

Der IG Metall Vorsitzende Otto Brenner schlug 1960 ein mehrere Ebenen (Makro-, Meso-, Mikroebene) umfassendes Konzept der Wirtschaftsdemokratie vor.[7]

Aktuelle Debatte

Die Mitbestimmung ist ein wichtiges Instrument zur Demokratisierung der Wirtschaft. In der Bundesrepublik gibt es drei Formen: die überbetriebliche, die unternehmensbezogene und die betrieblichen Mitbestimmung. Die überbetriebliche Einflussnahme findet sich insbesondere in den Selbstverwaltungsorganen der Sozialversicherungen, z.B. der Bundesagentur für Arbeit. Die zweite Variante, die Unternehmensmitbestimmung, existiert in verschieden Formen: die paritätischen Mitbestimmung, wie sie 1951 für den Bereich der Kohle- und Stahlindustrie festgelegt wurde, über die unterparitätische Mitbestimmung (1976) bis zur Drittelbeteiligung (500 bis 2.000 Beschäftigte). Die dritte Ebene der Mitbestimmung, die betriebliche, ist die bedeutendste Form der institutionalisierten Mitbestimmung.

Die Entwicklung der Mitbestimmungs war auch Gegenstand von Regierungskommissionen. Eine erste Regierungskommission wurde 1967 einberufen, die unter Leitung Kurt Biedenkopfs in ihrem Bericht von 1970 feststellte, dass die Montanmitbestimmung sich keineswegs negativ auf Wirtschaftlichkeit und Rentabilität der Unternehmen ausgewirkt habe. Die 2005 ins Leben gerufene Mitbestimmungskommission kam zu einem ähnlichen Ergebnis.[8]

Die Gewerkschaft ver.di hat eine „Arbeitsgemeinschaft Wirtschaftsdemokratie“ ins Leben gerufen, die Konzepte zur Erneuerung der Wirtschaftsdemokratie diskutieren und entwickeln soll.

Literatur

Ursprungstext und Quellen

  • Fritz Naphtali (Hrsg.): Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel. Berlin 1928. (Neudruck: Bund-Verlag, Köln 1984, ISBN 3-434-45021-1)
  • ADGB (1928): Resolution des ADGB-Kongress 1928 in Hamburg über „Die Verwirklichung der Wirtschaftsdemokratie“. In: M. Schneider (Hrsg.): Kleine Geschichte der Gewerkschaften - ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfängen bis heute. Dietz, Bonn 1989, S. 436–437.
  • DGB (1949): Wirtschaftspolitische Grundsätze des Deutschen Gewerkschaftsbundes vom Oktober 1949. In: M. Schneider (Hrsg.): Kleine Geschichte der Gewerkschaften - ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfängen bis heute. 1. Auflage. Dietz, Bonn 1989, S. 457–462.

Grundlegende Literatur

Weitere Literatur

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Eintrag Wirtschaftsdemokratie. In: Werner Fuchs-Heinritz, Rüdiger Laufmann, Otthein Rammstedt, Hans Wienold (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie. 3. Auflage. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994ISBN 3-531-11417-4, S. 747.
  2. Fritz Vilmar: Wirtschaftsdemokratie - Zielbegriff einer alternativen Wirtschaftspolitik. Kritische Bilanz und Aktualität nach 40 Jahren. @Internetseite des Global Labour Institute - German (Abgerufen am 24. März 2015)
  3. Michael Schneider: Höhen, Krisen und Tiefen. Die Gewerkschaften in der Weimarer Republik 1018 bis 1933. In: Klaus Tenfelde, Klaus Schönhoven, Michael Schneider, Detlef J. K. Peukert: Geschichte der deutschen Gewerkschaften von den Anfängen bis 1945. Bund-Verlag, Köln 1987, ISBN 3-7663-0861-0, S. 279–389, hier: S. 379.
  4. Michael Schneider: Höhen, Krisen und Tiefen. Die Gewerkschaften in der Weimarer Republik 1018 bis 1933. In: Klaus Tenfelde, Klaus Schönhoven, Michael Schneider, Detlef J. K. Peukert: Geschichte der deutschen Gewerkschaften von den Anfängen bis 1945. Bund-Verlag, Köln 1987, S. 279–389, hier: S. 379.
  5. Fritz Naphtali: Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1966, S. 195.
  6. Eberhard Schmidt: Die verhinderte Neuordnung 1945–1952. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1970.
  7. Wirtschaftsdemokratie - Zielbegriff einer alternativen Wirtschaftspolitik
  8. Wirtschaft und Demokratie - Demokratie Report 2011 (PDF; 677 kB)