„Poinsotsche Konstruktion“ – Versionsunterschied

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Die '''Poinsot’sche Konstruktion''' nach [[Louis Poinsot]] modelliert die Bewegung des [[Euler-Kreisel|kräftefreien Kreisels]] als [[Schlupf| gleitungslos]]es Abrollen des [[Energieellipsoid]]s auf einer festen ''invariablen Ebene''<ref>Louis Poinsot: ''Théorie nouvelle de la rotation des corps.'' Bachelier, Paris 1834/1851, Grammel (1920), S. 24, Grammel (1950), S. 122 ff., Magnus (1971), S. 54, Leimanis (1965), S. 18, siehe Literatur.</ref>, siehe Abb.&nbsp;1.
Mit der '''poinsotschen Konstruktion''' nach [[Louis Poinsot]] kann die kräftefreie [[Drehbewegung]] [[starrer Körper]] visualisiert werden, siehe Abb.&nbsp;1. Die im [[Massenmittelpunkt]] aufgetragene [[Winkelgeschwindigkeit]] endet im ''Pol'' ({{grcS|prefix=nein|πόλος|pólos}} „Achse“). Dieser bewegt sich im körperfesten System auf geschlossenen Kurven, den ''Polhodien'' („Polpfade“ von {{lang|grc|ὁδός|hodós}} „Weg, Pfad, Straße“), die auf dem [[Energieellipsoid]] oder ''Poinsotellipsoid'' liegen. Je nachdem, ob die Polhodien die Hauptträgheitsachse mit dem kleinsten oder dem größten Hauptträgheitsmoment umschließen, werden die Polhodien ''epi''- bzw. ''perizykloidisch'' genannt. Die Polhodie im Abb.&nbsp;1 ist epizykloidisch. Im raumfesten Inertialsystem berührt die Winkelgeschwindigkeit im Pol die ''invariable Ebene'' und zeichnet die ''Herpolhodien'' nach („Schlängelwege des Pols“ von {{lang|grc|ἕρπω|hérpo}} „kriechen“). Die invariable Ebene [[Tangentialebene|tangiert]] jederzeit das Poinsotellipsoid.


Die im [[Massenmittelpunkt]] aufgetragene [[Winkelgeschwindigkeit]] endet im ''Pol'' ({{grcS|prefix=nein|πόλος|pólos}} „Achse“). Dieser bewegt sich im körperfesten System auf geschlossenen Kurven, den ''Polhodien'' („Polpfade“ von {{lang|grc|ὁδός|hodós}} „Weg, Pfad, Straße“), die auf dem [[Energieellipsoid]] oder ''Poinsotellipsoid'' liegen. Je nachdem, ob die Polhodien die Hauptträgheitsachse mit dem kleinsten oder dem größten Hauptträgheitsmoment umschließen, werden die Polhodien ''epi''- bzw. ''perizykloidisch'' genannt. Die Polhodie im Abb.&nbsp;1 ist epizykloidisch. Im raumfesten Inertialsystem berührt die Winkelgeschwindigkeit im Pol die invariable Ebene und zeichnet die ''Herpolhodien'' nach („Schlängelwege des Pols“ von {{lang|grc|ἕρπω|hérpo}} „kriechen“). Die invariable Ebene [[Tangentialebene|tangiert]] jederzeit das Poinsotellipsoid.
Durch die Poinsot’sche Konstruktion wird die Untersuchung der Drehbewegung von Starrkörpern zu einer geometrischen Aufgabe.

Die genannten Elemente bilden die ''Poinsot’sche Konstruktion'' und ihr Zeitverlauf definiert die ''Poinsot’sche Bewegung''. Durch die Poinsot’sche Konstruktion wird die Untersuchung der Drehbewegung von Starrkörpern zu einer geometrischen Aufgabe.


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| Animationen
| colspan="3"| Animationen
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| Epizykloidische Bewegung || Perizykloidische Bewegung
| Epizykloidische Bewegung || Perizykloidische Bewegung
| Bewegung nahe der Separatrix,<br />siehe [[Dschanibekow-Effekt]]
| Bewegung nahe der Separatrix,<br />siehe [[Dschanibekow-Effekt]]
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| colspan="3"| Anders als in den Animationen dargestellt, bezieht sich der Drehimpuls jeweils auf den Massenmittelpunkt.
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== Beschreibung ==
== Poinsot’sche Konstruktion ==
Die Poinsot’sche Konstruktion beruht auf der kräftefreien Drehbewegung eines starren Körpers. Außer in der Schwerelosigkeit kann ein kräftefreier Körper in einem Schwerefeld realisiert werden, indem er in seinem Schwerpunkt drehbar, beispielsweise [[Kardanische Aufhängung|kardanisch]] aufgehängt wird. Bei der kräftefreien Drehbewegung sind der [[Impuls (Physik)|Impuls]], die [[Rotationsenergie]] und der [[Drehimpuls]] erhalten mit folgenden Konsequenzen:
Die Poinsot’sche Konstruktion betrachtet einen [[Euler-Kreisel| kräftefreien Kreisel]], der in seinem Massenmittelpunkt ruht. Außer in der Schwerelosigkeit kann ein kräftefreier Körper in einem Schwerefeld realisiert werden, indem er in seinem Schwerpunkt drehbar, beispielsweise [[Kardanische Aufhängung|kardanisch]] aufgehängt wird.


Die Ausdehnung des [[Energieellipsoid]]s ist konstant, da sie von der [[Rotationsenergie]] bestimmt wird, die beim kräftefreien Kreisel ein Integral seiner Bewegung ist, da mangels äußerer Kräfte keine Arbeit verrichtet wird. Dort, wo die aktuelle Winkelgeschwindigkeit das Energieellipsoid berührt, ist der aktuelle Drehimpuls senkrecht zu Tangentialebene. Der Drehimpuls ist beim kräftefreien Kreisel unveränderlich und somit sind die Tangentialebenen während der Bewegung parallel zueinander oder fallen zusammen.
# Die Impulserhaltung gestattet es, den Massenmittelpunkt des Körpers in den Ursprung O eines [[Inertialsystem]]s zu platzieren. Dieses kann und wird im Folgenden als ruhend betrachtet werden.
# Alle im Massenmittelpunkt O aufgetragenen Winkelgeschwindigkeiten, die in der aktuellen Ausrichtung des Körpers die gegebene Rotationsenergie erzeugen, bilden das Poinsotellipsoid (grau in Abb. 1). Der Endpunkt P der aktuellen Winkelgeschwindigkeit wird Pol genannt.
# Weil Rotationsenergie ''und'' Drehimpuls konstant sind, ist die Komponente der Winkelgeschwindigkeit in Richtung des Drehimpulses ebenfalls konstant (schwarzer Pfeil vom Massenmittelpunkt zum Punkt A).
# Die Senkrechte im Pol an das Poinsotellipsoid ist parallel zum Drehimpuls (gelber Pfeil, siehe [[Trägheitsellipsoid#Energieellipsoid|Energieellipsoid]]), sodass von der [[Tangentialebene]] an das Poinsotellipsoid im Pol sowohl die Normale als auch der Abstand vom Ursprung konstant sind. Die Tangentialebene (grüne Ebene) ist mithin fest und wird ''invariable Ebene'' genannt.


Die Komponente der Winkelgeschwindigkeit in Richtung des Drehimpulses bleibt immer gleich. Denn bei der kräftefreien Drehbewegung eines Körpers ist sowohl seine Rotationsenergie ''E''<sub>rot</sub> als auch sein Drehimpuls <math>\vec L</math> erhalten. Erstere berechnet sich aus letzterem durch [[Skalarprodukt|skalare Multiplikation]] mit der Winkelgeschwindigkeit:
Werden alle Punkte auf dem Poinsotellipsoid markiert, die jemals Pol sind, dann entsteht die ''Polhodie'' (rot). Werden alle Punkte in der invariablen Ebene eingezeichnet, die jemals Pol sind, dann entsteht die ''Herpolhodie'' (grün im Abb. 1).


:<math>2E_\text{rot}=\vec L\cdot\vec\omega=L\omega\cos\varphi
Die genannten Elemente bilden die ''Poinsot’sche Konstruktion'' und ihr Zeitverlauf definiert die ''Poinsot’sche Bewegung''. Weil die Winkelgeschwindigkeit die [[Dimension (Größensystem)| Dimension]] T<sup>−1</sup> besitzt, müssen diese Elemente bei der Übertragung in den Raum unserer Anschauung skaliert werden mit einem Maßstab der Dimension L T und beliebiger Größe. Ist diese einmal festgelegt, so ist das Poinsotellipsoid eine materielle Fläche, d.&nbsp;h. dass materielle Punkte des Starrkörpers auf ihr verbleiben, und die invariable Ebene ist raumfest.

Im Folgenden werden einige Charakteristika der Poinsot’schen Bewegung aufgeführt und begründet. Zunächst werden drei verschiedene [[Hauptträgheitsmoment]]e des Körpers wie beim ''unsymmetrischen Kreisel'' angenommen. Auf den Sonderfall übereinstimmender Hauptträgheitsmomente wird im letzten Abschnitt [[#Symmetrische Kreisel]] eingegangen.

== Komponenten der Geschwindigkeiten des Pols ==
Die Komponente der Winkelgeschwindigkeit in Richtung des Drehimpulses ist konstant.

Denn bei der kräftefreien Drehbewegung eines Körpers bleibt sowohl seine Rotationsenergie ''E''<sub>rot</sub> als auch sein Drehimpuls <math>\vec L</math> erhalten. Erstere berechnet sich aus letzterem durch [[Skalarprodukt|skalare Multiplikation]] mit der Winkelgeschwindigkeit:

<math>2E_\text{rot}=\vec L\cdot\vec\omega=L\omega\cos\varphi
\quad\rightarrow\quad
\quad\rightarrow\quad
\omega\cos\varphi=\frac{2E_\text{rot}}{L}
\omega\cos\varphi=\frac{2E_\text{rot}}{L}
\,.</math>
</math>

Darin ist ''L'' der Betrag des Drehimpulses, ''ω'' der Betrag der Drehgeschwindigkeit und ''φ'' der von Drehimpuls und Drehgeschwindigkeit eingeschlossene Winkel. Auf der rechten Seite der letzten Gleichung steht eine Konstante der Drehbewegung, weswegen die linke Seite, der Anteil der Winkelgeschwindigkeit in Richtung des Drehimpulses, ebenfalls konstant ist. Dieser Anteil bestimmt den Abstand der invariablen Ebene vom Massenmittelpunkt. Dieser liegt im Ursprung O und sein [[Fußpunkt]] auf der invariablen Ebene sei A. Dann ist dieser feste Anteil der Winkelgeschwindigkeit die Strecke OA.


Darin ist ''L'' der Betrag des Drehimpulses, ''ω'' der Betrag der Drehgeschwindigkeit und ''φ'' der von Drehimpuls und Drehgeschwindigkeit eingeschlossene Winkel. Auf der rechten Seite der letzten Gleichung steht eine Konstante der Drehbewegung, weswegen die linke Seite, der Anteil der Winkelgeschwindigkeit in Richtung des Drehimpulses, ebenfalls konstant ist. Besagter Anteil bestimmt den Abstand der Tangentialebene vom Massenmittelpunkt. Dieser liegt im Ursprung O und sein [[Fußpunkt]] auf der Tangentialebene sei A. Dann ist dieser feste Anteil der Winkelgeschwindigkeit die Strecke OA. Somit ist die Tangentialebene an das Poinsotellipsoid im Pol fest und wird ''invariable Ebene'' genannt (grün Ebene in [[#Abb1| Abb. 1]]).
Trotzdem die Winkelgeschwindigkeit OA konstant ist, rotiert der Polstrahl AP ''nicht'' mit konstanter Drehgeschwindigkeit um die Achse OA.

Das liegt daran, dass der Pol nicht nur in der Ebene, sondern auch auf dem Poinsotellipsoid wandert.<ref>Grammel (1950), S. 25</ref>

Ein im Pol befindliches Partikel des Starrkörpers steht momentan still.

Jede Starrkörperbewegung kann in eine Translation eines Bezugspunkts und eine Rotation um diesen zerlegt werden. Sei dieser Bezugspunkt der Massenmittelpunkt, der nach Voraussetzung stillsteht. Somit findet keine Translation statt. Der Pol befindet sich auf der Drehachse, deren Richtung durch die Winkelgeschwindigkeit gegeben ist, und rotiert daher momentan nicht. Deshalb ruht jedes auf der Drehachse befindliche Partikel momentan. Die Winkelgeschwindigkeit und die Drehachse variieren jedoch mit der Zeit.

Die Geschwindigkeit des Pols im körperfesten System auf der Polhodie ist gleich der Geschwindigkeit des Pols auf der Herpolhodie im Inertialsystem. Somit rollen Polhodie und Herpolhodie [[Schlupf|gleitungslos]] aufeinander ab.

Um das zu zeigen, sei das körperfeste Hauptträgheitssystem durch die [[Einheitsvektor]]en <math>\hat g_{1,2,3}</math> (der Länge eins und deshalb mit Hut geschrieben) gegeben. Die Winkelgeschwindigkeit <math>\vec\omega</math> dient der Berechnung der Zeitableitung der Basisvektoren entsprechend <math>\dot{\hat{g}}_i=\vec{\omega}\times\hat{g}_i</math> und wird gemäß <math>\vec{\omega}=\omega_1\hat{g}_1+\omega_2\hat{g}_2+\omega_3\hat{g}_3</math> mit dem körperfesten System ausgedrückt. Der [[Punkt (Oberzeichen)#Als wissenschaftliches Symbol|aufgesetzte Punkt]] bezeichnet die Ableitung nach der Zeit.

Im körperfesten System ist die Polgeschwindigkeit auf den Polhodien durch <math>\vec{v}_P=\dot{\omega}_1\hat{g}_1+\dot{\omega}_2\hat{g}_2+\dot{\omega}_3\hat{g}_3</math> gegeben. Bei der Berechnung der Polgeschwindigkeit <math>\vec{v}_H</math> auf den Herpolhodien muss noch die Rotation der Hauptträgheitsachsen berücksichtigt werden:

<math>\vec{v}_H=\dot{\vec\omega}
=\sum_{i=1}^3 (\dot{\omega}_i\hat{g}_i + \omega_i\dot{\hat g}_i)
=\sum_{i=1}^3 (\dot{\omega}_i\hat{g}_i + \vec\omega\times\omega_i\hat g_i )
=\vec{v}_P
</math>


Trotzdem die Winkelgeschwindigkeit OA konstant ist, rotiert der Polstrahl AP ''nicht'' mit konstanter Drehgeschwindigkeit um die Achse OA, denn der Pol wandert nicht nur in der Ebene, sondern auch auf dem Poinsotellipsoid.<ref>Grammel (1920), S. 25</ref>
wegen <math>\vec\omega\times\vec\omega=\vec0</math>, siehe auch den Beweis im Abschnitt [[#Herpolhodien]]. Somit ist die lokale Geschwindigkeit des Pols im körperfesten System auf der Polhodie gleich der globalen Geschwindigkeit des Pols auf der Herpolhodie im Inertialsystem.


Ein im Pol befindliches Partikel des Starrkörpers steht momentan still, denn es liegt auf der aktuellen Drehachse, die durch den ruhenden Massenmittelpunkt geht<ref>Grammel (1920), S. 24.</ref>.
Betrachtet werden Drehungen abseits der Hauptträgheitsachsen, so dass von den Winkelgeschwindigkeiten ''ω''<sub>1,2,3</sub> höchstens eine null sein soll. Dann bleibt der Pol auf den Polhodien und Herpolhodien niemals stehen oder wechselt gar seine Bewegungsrichtung.


Denn die [[Eulersche Gleichungen (Kreiseltheorie)|Euler’schen Kreiselgleichungen]] zeigen, dass von den Winkelbeschleunigungen dann niemals alle drei gleichzeitig verschwinden können. Der Betrag der Geschwindigkeit des Pols auf den Polhodien und Herpolhodien ist <math>\sqrt{\omega^2_1+\omega^2_2+\omega^2_3}</math> und diese kann daher niemals null sein. Der Pol bleibt demnach auf den Polhodien und Herpolhodien nicht stehen oder kehrt gar seine Bewegungsrichtung um.
Wenn der Körper nicht um eine seiner Hauptträgheitsachsen kreist, dann kann von den Winkelgeschwindigkeiten ''ω''<sub>1,2,3</sub> höchstens eine null sein. Die [[Eulersche Gleichungen (Kreiseltheorie)|Euler’schen Kreiselgleichungen]] zeigen, dass von den Winkelbeschleunigungen dann niemals alle drei gleichzeitig verschwinden können. Der Pol bleibt demnach auf den Polhodien und Herpolhodien nicht stehen oder kehrt gar seine Bewegungsrichtung um.


== Polhodien ==
== Polhodien ==
=== Epi- und perizykloide Polhodien ===
=== Epi- und perizykloide Polhodien ===
[[Datei:poinsotDrehimpulsEllipsoid.png|mini|Abb. 2: Polhodien auf dem Poinsotellipsoid (grau) und Drallellipsoid (gelb).]]
[[Datei:poinsotDrehimpulsEllipsoid.png|mini|Abb. 2: Polhodien auf dem Poinsotellipsoid (grau) und Drallellipsoid (gelb).]]
Die Winkelgeschwindigkeit liegt zum Einen wegen der Energieerhaltung auf dem Poinsotellipsoid (grau in Abb. 2). Zum Anderen berührt sie wegen der Drehimpulserhaltung auch das [[Energieellipsoid#Drallellipsoid|Drallellipsoid]], das im körperfesten System die Endpunkte aller Winkelgeschwindigkeitsvektoren enthält, die zum gleichen Drehimpulsbetragsquadrat führen (gelb). Die Polhodien sind die Schnittkurven dieser beiden Ellipsoide und sind als solche Kreis-, Ellipsen- oder [[Taco]]-förmige, geschlossene Kurven, die wie die Ellipsoide zu allen drei Hauptträgheitsachsen symmetrisch sind. Die in Abb. 2 rot gezeichneten Polhodien, werden nach [[Arnold Sommerfeld]] und [[Felix Klein]] ''epizykloidische'' Polhodien genannt. Bei ihnen ist ''L''² < 2Θ<sub>2</sub>''E''<sub>rot</sub>, worin ''E''<sub>rot</sub> die Rotationsenergie, ''L'' den Betrag des Drehimpulses und Θ<sub>2</sub> das mittelgroße Hauptträgheitsmoment bezeichnen. Wie üblich seien die Hauptträgheitsmomente gemäß Θ<sub>1</sub> < Θ<sub>2</sub> < Θ<sub>3</sub> angeordnet. Die blau gezeichneten Kurven sind die ''perizykloidischen'' Polhodien, bei denen 2Θ<sub>2</sub>''E''<sub>rot</sub> < ''L''² ist. Zwischen den epi- und perizykloidischen Polhodien liegt die trennende Polhodie oder ''[[#Separatrix]]'' (schwarz), die bei ''L''² =2Θ<sub>2</sub> ''E''<sub>rot</sub> entsteht und aus zwei Ellipsen zusammengesetzt gedacht werden kann.
Die Winkelgeschwindigkeit liegt zum Einen wegen der Energieerhaltung auf dem Poinsotellipsoid (grau in Abb. 2). Zum Anderen berührt sie wegen der Drehimpulserhaltung auch das [[Energieellipsoid#Drallellipsoid|Drallellipsoid]], das im körperfesten System die Endpunkte aller Winkelgeschwindigkeitsvektoren enthält, die zum gleichen Drehimpulsbetragsquadrat führen (gelb). Die Polhodien sind die Schnittkurven dieser beiden Ellipsoide und sind als solche Kreis-, Ellipsen- oder [[Taco]]-förmige, geschlossene Kurven, die wie die Ellipsoide zu allen drei ''Hauptebenen'', die von den Hauptträgheitsachsen erzeugt werden, symmetrisch sind. Die in Abb. 2 rot gezeichneten Polhodien, werden nach [[Arnold Sommerfeld]] und [[Felix Klein]] ''epizykloidische'' Polhodien genannt. Bei ihnen ist ''L''²&nbsp;<&nbsp;2Θ<sub>2</sub>''E''<sub>rot</sub>, worin ''E''<sub>rot</sub> die Rotationsenergie, ''L'' den Betrag des Drehimpulses und Θ<sub>2</sub> das mittelgroße Hauptträgheitsmoment bezeichnen. Die blau gezeichneten Kurven sind die ''perizykloidischen'' Polhodien, bei denen 2Θ<sub>2</sub>''E''<sub>rot</sub>&nbsp;<&nbsp;''L''² ist<ref name="grammel36">Grammel (1920), S. 36.</ref>. Zwischen den epi- und perizykloidischen Polhodien liegt die trennende Polhodie oder ''[[#Separatrix]]'' (schwarz), die bei ''L''² &nbsp;=&nbsp;2Θ<sub>2</sub> ''E''<sub>rot</sub> entsteht und aus zwei Ellipsen zusammengesetzt gedacht werden kann.


=== Berührungspunkte der Ellipsoide ===
=== Berührungspunkte der Ellipsoide ===
Bei gegebener Rotationsenergie berührt das kleinstmögliche Drallellipsoid das Poinsotellipsoid an den Endpunkten der großen Achse. Diese Situation entspricht einer gleichförmigen Drehung um die Hauptträgheitsachse mit dem ''kleinsten'' Hauptträgheitsmoment, denn die Längen der Achsen sind umgekehrt proportional zu den Hauptträgheitsmomenten. Hier hat der Drehimpuls den minimalen mit der Rotationsenergie verträglichen Betrag. Wenn das größtmögliche Drallellipsoid das Poinsotellipsoid an den Endpunkten der kleinsten Achse berührt, findet eine gleichförmige Drehung um die Hauptträgheitsachse mit dem ''größten'' Hauptträgheitsmoment statt, und der Drehimpuls hat den maximalen, mit der Rotationsenergie verträglichen Betrag erreicht; siehe [[Eulersche Gleichungen (Kreiseltheorie)#Allgemeine Eigenschaften der Bewegung kräftefrei rotierender Kreisel| Allgemeine Eigenschaften der Bewegung kräftefrei rotierender Kreisel]].
Bei gegebener Rotationsenergie berührt das kleinstmögliche Drallellipsoid das Poinsotellipsoid an den Endpunkten der großen Achse. Diese Situation entspricht einer gleichförmigen Drehung um die Hauptträgheitsachse mit dem ''kleinsten'' Hauptträgheitsmoment, denn die Längen der Achsen sind umgekehrt proportional zu den Hauptträgheitsmomenten. Hier hat der Drehimpuls den minimalen mit der Rotationsenergie verträglichen Betrag. Wenn das größtmögliche Drallellipsoid das Poinsotellipsoid an den Endpunkten der kleinsten Achse berührt, findet eine gleichförmige Drehung um die Hauptträgheitsachse mit dem ''größten'' Hauptträgheitsmoment statt, und der Drehimpuls hat den maximalen, mit der Rotationsenergie verträglichen Betrag erreicht.<ref>Grammel (1920), S. 35.</ref>

Mathematisch drückt sich das so aus: Dreht der Körper mit der Winkelgeschwindigkeit ω<sub>k</sub> um die k-te Hauptachse mit dem Hauptträgheitsmoment Θ<sub>k</sub>, dann hat er den Drehimpuls L<sub>k</sub>&nbsp;=&nbsp;Θ<sub>k</sub>ω<sub>k</sub> und die Rotationsenergie

:<math>E_\text{rot}=\frac12\Theta_k\omega_k^2=\frac{L_k^2}{2\Theta_k}
\quad\rightarrow\quad
L_k=\sqrt{2E_\text{rot}\Theta_k}
</math>

Der Drehimpuls ist also betraglich am größten oder kleinsten, wenn der Körper um seine Hauptachse mit dem größten oder kleinsten Hauptträgheitsmoment dreht.


=== Rotierende und oszillierende Bewegungen ===
=== Rotierende und oszillierende Bewegungen ===
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</math>
</math>


aufweisen. Die Stabilität nimmt ab, je weiter sich die Verhältnisse von eins entfernen, und wird am größten, wenn der Kreisel symmetrisch bezüglich der 1- bzw. 3-Achse ist, denn dann wird ''s''<sub>1</sub>=1 bzw. ''s''<sub>3</sub>=1.
aufweisen. Die Stabilität nimmt ab, je weiter sich die Verhältnisse von eins entfernen, und wird am größten, wenn der Kreisel symmetrisch bezüglich der 1- bzw. 3-Achse ist, denn dann wird ''s''<sub>1</sub>=1 bzw. ''s''<sub>3</sub>=1.<ref>Grammel (1920), S. 39.</ref>


== Separatrix ==
== Separatrix ==
[[Datei:separatrixLoxodrome.png|mini|Abb. 3: Weg eines Punktes auf der 2-Achse (rot) um die Drehimpulsachse (senkrechte Linie) entlang einer Loxodrome]]
[[Datei:separatrixLoxodrome.png|mini|Abb. 3: Weg eines Punktes auf der 2-Achse (rot) um die Drehimpulsachse (senkrechte Linie) entlang einer Loxodrome]]
Auf der Separatrix ist ''L''² = 2Θ<sub>2</sub>''E''<sub>rot</sub> und die zweite der obigen Ellipsengleichungen
Auf der Separatrix ist ''L''²&nbsp;=&nbsp;2Θ<sub>2</sub>''E''<sub>rot</sub> und die zweite der obigen Ellipsengleichungen definiert gemäß


:<math>\begin{align}
:<math>\begin{align}
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\end{align}</math>
\end{align}</math>


definiert zwei Ursprungsgeraden in der 1-3-Ebene. Die von diesen Geraden und der 2-Achse aufgespannten Ebenen enthalten die Separatrix, die als ebene Schnitte eines Ellipsoids aus Ellipsen besteht (schwarz in Abb. 2). Bei der Bewegung zeigt sich, dass sich ein Punkt auf der 2-Achse auf einer [[Loxodrome]] mit gleichmäßiger Drehgeschwindigkeit unendlich oft um die Drehimpulsachse dreht, siehe Abb. 3 und [[Eulersche Gleichungen (Kreiseltheorie)#Bewegung auf der Separatrix|Bewegung auf der Separatrix]]. Der Pol nähert sich [[asymptotisch]] dem Schnittpunkt der beiden Ellipsen auf der 2-Achse an, erreicht sie aber nie.
zwei Ursprungsgeraden in der 1-3-Ebene. Die von diesen Geraden und der 2-Achse aufgespannten Ebenen enthalten die Separatrix, die als ebene Schnitte eines Ellipsoids aus Ellipsen besteht (schwarz in [[#Epi- und perizykloide Polhodien| Abb. 2]]). Bei der Bewegung zeigt sich, dass sich ein Punkt auf der 2-Achse auf einer [[Loxodrome]] mit gleichmäßiger Drehgeschwindigkeit unendlich oft um die Drehimpulsachse dreht, siehe Abb. 3 und [[Euler-Kreisel#Bewegung auf der Separatrix|Bewegung auf der Separatrix]]. Der Pol nähert sich [[asymptotisch]] dem Schnittpunkt der beiden Ellipsen auf der 2-Achse an, erreicht sie aber nie.


== Herpolhodien ==
== Herpolhodien ==
[[Datei:herpolhodien.png|mini|Abb. 4: Herpolhodien bei epi- und perizykloidischer Bewegung sowie Bewegung auf der Separatrix. Gestrichelt: in die invariable Ebene projizierte Polhodie zu einem Zeitpunkt.]]
[[Datei:herpolhodien.png|mini|Abb. 4: Herpolhodien bei epi- und perizykloidischer Bewegung sowie Bewegung auf der Separatrix. Gestrichelt: in die invariable Ebene projizierte Polhodie zu einem Zeitpunkt.]]
Die Herpolhodien zeichnen den Weg des Pols in der invariablen Ebene nach. Weil der Anteil der Winkelgeschwindigkeit, der senkrecht zum Drehimpuls ist, der Polstrahl AP, wie die Winkelgeschwindigkeit selbst zwischen zwei Extremwerten schwankt, liegen die Herpolhodien zwischen zwei konzentrischen Kreisen um den Fußpunkt ''A'' des Massenmittelpunkts auf der invariablen Ebene, siehe Abb. 4. Die Herpolhodien sind wie in Abb. 4 meistens nicht geschlossen, wonach der Kreisel nicht mehr in seine Anfangslage zurückzukehren braucht. Trotz ihrer Benennung als Schlängelweg besitzen die Herpolhodien keine Wendepunkte und auch keine Spitzen. Der Krümmungsmittelpunkt liegt immer auf der Seite des Fußpunkts ''A''.<ref>Grammel (1950), S. 36</ref>
Die Herpolhodien zeichnen den Weg des Pols in der invariablen Ebene nach. Weil der Anteil der Winkelgeschwindigkeit, der senkrecht zum Drehimpuls ist, der Polstrahl AP, wie die Winkelgeschwindigkeit selbst zwischen zwei Extremwerten schwankt, liegen die Herpolhodien zwischen zwei konzentrischen Kreisen um den Fußpunkt ''A'' des Massenmittelpunkts auf der invariablen Ebene, siehe Abb. 4. Die Herpolhodien sind wie in Abb. 4 meistens nicht geschlossen, wonach der Kreisel nicht mehr in seine Anfangslage zurückzukehren braucht. Trotz ihrer Benennung als Schlängelweg besitzen die Herpolhodien keine Wendepunkte und auch keine Spitzen. Der Krümmungsmittelpunkt liegt immer auf der Seite des Fußpunkts ''A''.<ref name="grammel36"/>


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| Beweis
| Beweis
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| Die Winkelgeschwindigkeit wird im körperfesten Hauptachsensystem <math>\hat{g}_{1,2,3}</math> ausgedrückt und dient der Berechnung der Raten der Basisvektoren gemäß<br />
| Die Winkelgeschwindigkeit wird im körperfesten Hauptachsensystem <math>\hat{g}_{1,2,3}</math> ausgedrückt und dient der Berechnung der Raten der Basisvektoren gemäß

<math>\vec\omega=\sum_{i=1}^3 \omega_i\hat{g}_i
:<math>\vec\omega=\sum_{i=1}^3 \omega_i\hat{g}_i
\quad\text{und}\quad
\quad\text{und}\quad
\dot{\hat g}_i=\vec\omega\times\hat{g}_i
\dot{\hat g}_i=\vec\omega\times\hat{g}_i
.</math><br />
.</math>

Betrachtet werden Drehungen abseits der Hauptachsen, so dass von den Winkelgeschwindigkeiten ''ω''<sub>1,2,3</sub> höchstens eine null sein soll. Die Geschwindigkeit des Pols ist <math>\dot{\vec\omega}</math> und lautet:<br />
Betrachtet werden Drehungen abseits der Hauptachsen, so dass von den Winkelgeschwindigkeiten ''ω''<sub>1,2,3</sub> höchstens eine null sein soll. Die Geschwindigkeit des Pols ist <math>\dot{\vec\omega}</math> und lautet:
<math>\dot{\vec\omega}

:<math>\dot{\vec\omega}
=\sum_{i=1}^3 (\dot{\omega}_i\hat{g}_i + \omega_i\dot{\hat g}_i)
=\sum_{i=1}^3 (\dot{\omega}_i\hat{g}_i + \omega_i\dot{\hat g}_i)
=\sum_{i=1}^3 (\dot{\omega}_i\hat{g}_i + \vec\omega\times\omega_i\hat g_i )
=\sum_{i=1}^3 (\dot{\omega}_i\hat{g}_i + \vec\omega\times\omega_i\hat g_i )
=\sum_{i=1}^3 \dot{\omega}_i\hat{g}_i
=\sum_{i=1}^3 \dot{\omega}_i\hat{g}_i
.</math><br />
.</math>

wegen <math>\vec\omega\times\vec\omega=\vec0.</math> Die Winkelbeschleunigungen ergeben sich aus den [[Eulersche Gleichungen (Kreiseltheorie)|eulerschen Kreiselgleichungen]]:<br />
wegen <math>\vec\omega\times\vec\omega=\vec0.</math> Die Winkelbeschleunigungen ergeben sich aus den [[Eulersche Gleichungen (Kreiseltheorie)|eulerschen Kreiselgleichungen]]:
<math>\begin{align}

:<math>\begin{align}
\dot\omega_1 =& -\frac{\Theta_3-\Theta_2}{\Theta_1} \omega_2 \omega_3
\dot\omega_1 =& -\frac{\Theta_3-\Theta_2}{\Theta_1} \omega_2 \omega_3
=-p_1\omega_2 \omega_3\quad\text{mit}\quad p_1:=\frac{\Theta_3-\Theta_2}{\Theta_1}>0
=-p_1\omega_2 \omega_3\quad\text{mit}\quad p_1:=\frac{\Theta_3-\Theta_2}{\Theta_1}>0
Zeile 157: Zeile 144:
\dot\omega_3 =& -\frac{\Theta_2-\Theta_1}{\Theta_3}\omega_1 \omega_2
\dot\omega_3 =& -\frac{\Theta_2-\Theta_1}{\Theta_3}\omega_1 \omega_2
=-p_3\omega_1\omega_2\quad\text{mit}\quad p_3:=\frac{\Theta_2-\Theta_1}{\Theta_3}>0
=-p_3\omega_1\omega_2\quad\text{mit}\quad p_3:=\frac{\Theta_2-\Theta_1}{\Theta_3}>0
\end{align}</math><br />
\end{align}</math>

Weil nach Voraussetzung höchstens eine der Winkelgeschwindigkeiten null ist, können niemals alle drei Winkelbeschleunigungen gleichzeitig verschwinden, so dass der Pol niemals stehen bleiben kann und die Herpolhodien somit keine Spitzen aufweisen.<br />
Weil nach Voraussetzung höchstens eine der Winkelgeschwindigkeiten null ist, können niemals alle drei Winkelbeschleunigungen gleichzeitig verschwinden, so dass der Pol niemals stehen bleiben kann und die Herpolhodien somit keine Spitzen aufweisen.
Die Verhältnisse ''p''<sub>1,2,3</sub> liegen alle im [[Intervall (Mathematik)#Offenes Intervall|offenen Intervall]] (0,1), weil die Hauptträgheitsmomente die Dreiecksungleichungen erfüllen, und ''p''<sub>2</sub> ist das größte, denn:<br />

<math>\begin{align}
Die Verhältnisse ''p''<sub>1,2,3</sub> liegen alle im [[Intervall (Mathematik)#Offenes Intervall|offenen Intervall]] (0,1), weil die Hauptträgheitsmomente die Dreiecksungleichungen erfüllen, und ''p''<sub>2</sub> ist das größte, denn:

:<math>\begin{align}
p_2-p_1 =&\frac{\Theta_3-\Theta_1}{\Theta_2}-\frac{\Theta_3-\Theta_2}{\Theta_1}=\frac{(\Theta_2-\Theta_1)(\Theta_1 + \Theta_2 - \Theta_3)}{\Theta_1\Theta_2}>0
p_2-p_1 =&\frac{\Theta_3-\Theta_1}{\Theta_2}-\frac{\Theta_3-\Theta_2}{\Theta_1}=\frac{(\Theta_2-\Theta_1)(\Theta_1 + \Theta_2 - \Theta_3)}{\Theta_1\Theta_2}>0
\\
\\
p_2-p_3 =&\frac{\Theta_3-\Theta_1}{\Theta_2}-\frac{\Theta_2-\Theta_1}{\Theta_3}=\frac{( \Theta_3 - \Theta_2 )( \Theta_2 + \Theta_3 - \Theta_1 )}{\Theta_2\Theta_3}>0
p_2-p_3 =&\frac{\Theta_3-\Theta_1}{\Theta_2}-\frac{\Theta_2-\Theta_1}{\Theta_3}=\frac{( \Theta_3 - \Theta_2 )( \Theta_2 + \Theta_3 - \Theta_1 )}{\Theta_2\Theta_3}>0
.\end{align}</math><br />
.\end{align}</math>

Die Beschleunigung des Pols ist<br />
Die Beschleunigung des Pols ist
<math>\begin{align}

:<math>\begin{align}
\ddot{\vec\omega}=&
\ddot{\vec\omega}=&
\sum_{i=1}^3 (\ddot\omega_i \hat{g}_i +\dot\omega_i\dot{\hat g}_i)
\sum_{i=1}^3 (\ddot\omega_i \hat{g}_i +\dot\omega_i\dot{\hat g}_i)
=\sum_{i=1}^3 (\ddot\omega_i\hat{g}_i +\vec\omega\times\dot\omega_i\hat{g}_i)
=\sum_{i=1}^3 (\ddot\omega_i\hat{g}_i +\vec\omega\times\dot\omega_i\hat{g}_i)
=\sum_{i=1}^3 \ddot\omega_i\hat{g}_i +\vec\omega\times\dot{\vec\omega}
=\sum_{i=1}^3 \ddot\omega_i\hat{g}_i +\vec\omega\times\dot{\vec\omega}
\end{align}</math><br />
\end{align}</math>

mit den [[Ruck|Winkelrucken]]<br />
mit den [[Ruck|Winkelrucken]]
<math>\begin{align}

:<math>\begin{align}
\ddot\omega_1=&
\ddot\omega_1=&
-p_1(\dot\omega_2 \omega_3+\omega_2\dot\omega_3)
-p_1(\dot\omega_2 \omega_3+\omega_2\dot\omega_3)
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-p_3(\dot\omega_1 \omega_2+\omega_1\dot\omega_2)
-p_3(\dot\omega_1 \omega_2+\omega_1\dot\omega_2)
=p_3 \omega_3 (p_1 \omega_2^2-p_2 \omega_1^2)
=p_3 \omega_3 (p_1 \omega_2^2-p_2 \omega_1^2)
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Nach elementaren Umformungen ergibt sich<br />
Nach elementaren Umformungen ergibt sich
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:<math>
\ddot{\vec\omega}=\begin{pmatrix}
\ddot{\vec\omega}=\begin{pmatrix}
-\omega_1 [ p_3 ( 1 - p_1 ) \omega_2^2 + p_2 ( p_1 + 1 ) \omega_3^2 ]
-\omega_1 [ p_3 ( 1 - p_1 ) \omega_2^2 + p_2 ( p_1 + 1 ) \omega_3^2 ]
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\omega_3 [( p_1 ( p_3 + 1 ) \omega_2^2 + p_2 ( 1 - p_3 ) \omega_1^2 ]
\omega_3 [( p_1 ( p_3 + 1 ) \omega_2^2 + p_2 ( 1 - p_3 ) \omega_1^2 ]
\end{pmatrix}
\end{pmatrix}
</math><br />
</math>

Die eckigen Klammern in der ersten und dritten Komponente sind positiv und weil nur höchstens eine der Winkelgeschwindigkeiten null sein soll, verschwindet die Polbeschleunigung nie. Das Kreuzprodukt mit der Polgeschwindigkeit liefert:<br />
Die eckigen Klammern in der ersten und dritten Komponente sind positiv und weil nur höchstens eine der Winkelgeschwindigkeiten null sein soll, verschwindet die Polbeschleunigung nie. Das Kreuzprodukt mit der Polgeschwindigkeit liefert:
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:<math>\begin{align}
\dot{\vec\omega}\times\ddot{\vec\omega}
\dot{\vec\omega}\times\ddot{\vec\omega}
=\begin{pmatrix}
=\begin{pmatrix}
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\omega_1 \omega_2[p_3 ( 1 - p_1 ) \omega_2^2+p_3 ( 1 - p_2 ) \omega_1^2+( p_2 - p_1 ) \omega_3^2]
\omega_1 \omega_2[p_3 ( 1 - p_1 ) \omega_2^2+p_3 ( 1 - p_2 ) \omega_1^2+( p_2 - p_1 ) \omega_3^2]
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\end{pmatrix}
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Das Kreuzprodukt verschwindet, wenn die Polbeschleunigung und -geschwindigkeit parallel sind und somit möglicher Weise ein Wendepunkt in der Herpolhodie auftritt. Allerdings sind die eckigen Klammern sämtlich positiv, sodass nicht alle drei Komponenten auf einmal verschwinden können. Die Herpolhodien können also keinen Wendepunkt aufweisen.
Das Kreuzprodukt verschwindet, wenn die Polbeschleunigung und -geschwindigkeit parallel sind und somit möglicher Weise ein Wendepunkt in der Herpolhodie auftritt. Allerdings sind die eckigen Klammern sämtlich positiv, sodass nicht alle drei Komponenten auf einmal verschwinden können. Die Herpolhodien können also keinen Wendepunkt aufweisen.
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== Symmetrische Kreisel ==
== Symmetrische Kreisel ==
Bei symmetrischen Kreiseln stimmen zwei Hauptträgheitsmomente überein, sodass das Poinsotellipsoid und das Drallellipsoid [[Rotationssymmetrie| rotationssymmetrisch]] sind. Die Polhodien und die Herpolhodien werden dann zu Kreisen. Alle Winkelgeschwindigkeiten auf den Polhodien bilden einen Kegel, den ''Gangpolkegel'' und die Winkelgeschwindigkeiten auf den Herpolhodien bilden den ''Rastpolkegel'', siehe [[Eulersche Gleichungen (Kreiseltheorie)#Kräftefreier symmetrischer Kreisel|Bewegung kräftefreier symmetrischer Kreisel]]. Der symmetrische, gestreckte, ''prolate'' Kreisel kann sich nur epizykloidisch, der symmetrische, abgeplattete, ''oblate'' Kreisel nur perizykloidisch bewegen. Wird beim prolaten Kreisel der Polhodienkreis in die invariable Ebene geklappt, so liegt er außerhalb des Herpolhodienkreises. Irgendein Punkt auf dem geklappten Polhodienkreis fährt beim Abrollen auf dem Herpolhodienkreis eine [[Epizykloide]] ab. Der in die invariable Ebene geklappte Polhodienkreis des oblaten Kreisels rollt hingegen innen auf dem Herpolhodienkreis ab, den der Polhodienkreis umschließt, und ein Punkt auf ihm zeichnet eine ''Perizykloide''. Das motiviert die Bezeichnung der Bewegung als epi- bzw. perizykloidisch. Niemals kann der Fall eintreten, bei dem der rollende Polhodienkreis innerhalb des festen Herpolhodienkreises liegt und die Bewegung entsprechend [[Hypozykloide|hypozykloidisch]] heißen müsste.
Bei symmetrischen Kreiseln stimmen zwei Hauptträgheitsmomente überein, sodass das Poinsotellipsoid und das Drallellipsoid [[Rotationssymmetrie| rotationssymmetrisch]] sind. Die Polhodien und die Herpolhodien werden dann zu Kreisen. Alle Winkelgeschwindigkeiten auf den Polhodien und auf den Herpolhodien bilden einen Kegel, den [[Spurkegel und Polkegel]], die beim symmetrischen Kreisel [[Kreiskegel]] vorstellen. Der symmetrische, gestreckte, ''prolate'' Kreisel kann sich nur epizykloidisch, der symmetrische, abgeplattete, ''oblate'' Kreisel nur perizykloidisch bewegen. Wird beim prolaten Kreisel der Polhodienkreis in die invariable Ebene geklappt, so liegt er außerhalb des Herpolhodienkreises. Irgendein Punkt auf dem geklappten Polhodienkreis fährt beim Abrollen auf dem Herpolhodienkreis eine [[Epizykloide]] ab. Der in die invariable Ebene geklappte Polhodienkreis des oblaten Kreisels rollt hingegen innen auf dem Herpolhodienkreis ab, den der Polhodienkreis umschließt, und ein Punkt auf ihm zeichnet eine ''Perizykloide''. Das motiviert die Bezeichnung der Bewegung als epi- bzw. perizykloidisch. Niemals kann der Fall eintreten, bei dem der rollende Polhodienkreis innerhalb des festen Herpolhodienkreises liegt und die Bewegung entsprechend [[Hypozykloide|hypozykloidisch]] heißen müsste.<ref>Grammel (1920), S. 41.</ref>


== Literatur ==
== Lagrange-Kreisel ==
Die Poinsot’sche Konstruktion kann auch auf [[Lagrange-Kreisel]] übertragen werden. Der Lagrange-Kreisel ist ein symmetrischer [[schwerer Kreisel]], bei dem der Massenmittelpunkt auf der [[Figurenachse]] liegt und der einen Stützpunkt hat. Bei schweren Kreiseln mit Stützpunkt bewegt sich der Drehimpuls in einer Ebene, die senkrecht zur Gewichtskraft ist, und der Abstand dieser Ebene vom Ursprung ist konstant, da es ein Integral der Bewegung ist. Da zwar die [[Gesamtenergie]] des Kreisels konstant ist, nicht so aber seine Rotationsenergie, hat das Poinsot-Ellipsoid eine Ausdehnung, die gegenläufig zur [[Lageenergie]] zu- und abnimmt. Die Polhodien liegen in einer Ebene, die senkrecht zur Figurenachse ist und den Abstand ω<sub>3</sub> vom Stützpunkt hat, denn die axiale Winkelgeschwindigkeit ω<sub>3</sub> ist beim Lagrange-Kreisel konstant.<ref>Klein und Sommerfeld (2010), S. 217.</ref>
* Louis Poinsot: ''Théorie nouvelle de la rotation des corps.'' Bachelier, Paris 1834/1851.
* {{Literatur | Autor=R. Grammel | Titel=Der Kreisel | TitelErg=Seine Theorie und seine Anwendungen | Band=Band 2. | Auflage=2. überarb. Aufl. | Verlag=Springer | Ort=Berlin, Göttingen, Heidelberg | Datum=1950 | Online=https://archive.org/details/derkreiselseine00gramgoog | DNB=451641280 | Kommentar=„Schwung“ bedeutet Drehimpuls, „Drehstoß“ Drehmoment und „Drehwucht“ Rotationsenergie}}


== Weblinks ==
=== Allgemeiner Fall ===
Beim Lagrange-Kreisel sind die Herpolhodien im Allgemeinen sphärische Kurven, die also auf der Oberfläche einer Kugel verlaufen. Das Zentrum der Kugel liegt auf der Lotlinie im Abstand <math>\tfrac{\Theta_3c_0}{(\Theta_1-\Theta_3)L_3}</math> vom Stützpunkt und der Radius der Kugel hat die Länge<ref>Klein und Sommerfeld (2010), S. 236.</ref>
* {{Internetquelle | autor=Svetoslav Zabunov | url=http://www.ialms.net/sim/3d-rigid-body-simulation/ | titel=Stereo 3D Rigid Body Simulation | hrsg=Zabunov Laboratories | zugriff=2016-10-11 | sprache=en | kommentar=View auf „Poinsot construction (complete)“ einstellen}}

:<math>r=\sqrt{\frac{2E}{\Theta_1}
+\frac{2\Theta_3c_0L_z}{\Theta_1(\Theta_1-\Theta_3)L_3}
+\frac{\Theta_3^2c_0^2}{(\Theta_1-\Theta_3)^2L_3^2}
+\left(\frac{1}{\Theta_3}-\frac{1}{\Theta_1}\right)\frac{L_3^2}{\Theta_3}}</math>

Darin ist
* Θ<sub>1</sub> das äquatoriale Massenträgheitsmoment,
* Θ<sub>3</sub> das axiale Massenträgheitsmoment,
* ''L''<sub>z</sub> der Drehimpuls um die Lotlinie,
* ''L''<sub>3</sub> der axiale Drehimpuls um die [[Figurenachse]],
* ''c''<sub>0</sub>&nbsp;=&nbsp;mgs das Stützpunktmoment, gebildet aus der [[Gewichtskraft]] mg und dem Abstand s des Massenmittelpunkts vom Stützpunkt auf der Figurenachse, und
* ''E'' ist die mechanische [[Gesamtenergie]] des Kreisels.

Der Abstand vom Stützpunkt zum Mittelpunkt der Kugel und ihr Radius wachsen über alle Grenzen, wenn Θ<sub>1</sub>&nbsp;=&nbsp;Θ<sub>3</sub>, also beim Kugelkreisel, oder wenn L<sub>3</sub>&nbsp;=&nbsp;0 und der Kreisel zum Pendel wird. Das über das Poinsot-Ellipsoid und die Polhodien gesagte bleibt in diesen Spezialfällen gültig.

=== Schwerer Kugelkreisel ===
Beim [[Kugelkreisel]] sind Winkelgeschwindigkeit und Drehimpuls proportional zueinander, weswegen sich auch die Winkelgeschwindigkeit in einer Ebene bewegt, die senkrecht zur Gewichtskraft ist.

=== Pendel ===
Beim Lagrange-Kreisel ohne axiale Winkelgeschwindigkeit ω<sub>3</sub> sind Winkelgeschwindigkeit und Drehimpuls auch proportional zueinander, weswegen das beim Kugelkreisel gesagte auch hier zutrifft. Ein [[Lagrange-Kreisel]] ohne axiale Winkelgeschwindigkeit ω<sub>3</sub> führt daher Pendelbewegungen <ref>Klein und Sommerfeld (2010), S. 201.</ref> aus, bei denen sich der Endpunkt der Winkelgeschwindigkeit in einer horizontalen Ebene aufhält.


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==
<references />
<references />


== Literatur ==
[[Kategorie:Klassische Mechanik]]
*{{Literatur
| Autor=[[Louis Poinsot]]
| Titel=Neue Theorie der Rotation von Körpern
| Originaltitel=Théorie nouvelle de la rotation des corps
| Verlag=Bachelier
| Ort=Paris
| Datum=1834
| Sprache=fr
| Online=https://archive.org/details/bub_gb_PM1nW-5tGMMC/page/n8}}
*{{Literatur
| Autor=[[Richard Grammel| R. Grammel]]
| Titel=Der Kreisel
| TitelErg=Seine Theorie und seine Anwendungen
| Verlag=Vieweg Verlag
| Ort=Braunschweig
| Datum=1920
| Seiten=24, 32
| Online=https://archive.org/details/derkreiselseine00gramgoog
| Kommentar="Schwung" bedeutet Drehimpuls, "[[Drehstoß]]" etwa Drehmoment und "Drehwucht" Rotationsenergie, siehe S. VII
| DNB=573533210}}<br />oder<br />{{Literatur
| Autor=[[Richard Grammel| R. Grammel]]
| Titel=Der Kreisel
| TitelErg=Theorie des Kreisels
| Band=Band 1
| Auflage=2. überarb. Aufl.
| Verlag=Springer
| Ort=Berlin, Göttingen, Heidelberg
| Seiten=122 ff.
| DNB=451641299
| Datum=1950}}
*{{Literatur
| Autor=[[Kurt Magnus (Ingenieur)| K. Magnus]]
| Titel=Kreisel: Theorie und Anwendungen
| Verlag=Springer
| Datum=1971
| Seiten=53 ff.
| ISBN=978-3-642-52163-8
| Online={{Google Buch| BuchID=tATNBgAAQBAJ| Seite=60}}
| Zugriff=2020-01-07}}
*{{Literatur
| Autor=Eugene Leimanis
| Titel=The General Problem of the Motion of Coupled Rigid Bodies about a Fixed Point
| Verlag=Springer Verlag
| Ort=Berlin, Heidelberg
| Jahr=1965
| ISBN=978-3-642-88414-6
| Seiten=18 ff.
| DOI=10.1007/978-3-642-88412-2
| Sprache=en
| Online={{Google Buch| BuchID=s8rsCAAAQBAJ| Seite=18}}
| Zugriff=2020-01-07}}

== Weblinks ==
* {{Internetquelle| autor=Svetoslav Zabunov| url=http://www.ialms.net/sim/3d-rigid-body-simulation/| titel=Stereo 3D Rigid Body Simulation| hrsg=Zabunov Laboratories| zugriff=2016-10-11| sprache=en| kommentar=View auf „Poinsot construction (complete)“ einstellen}}

[[Kategorie:Kreiseltheorie]]
[[Kategorie:Kreiseltheorie]]

Version vom 7. Januar 2020, 14:08 Uhr

Abb. 1: Poinsot’sche Konstruktion

Die Poinsot’sche Konstruktion nach Louis Poinsot modelliert die Bewegung des kräftefreien Kreisels als gleitungsloses Abrollen des Energieellipsoids auf einer festen invariablen Ebene[1], siehe Abb. 1.

Die im Massenmittelpunkt aufgetragene Winkelgeschwindigkeit endet im Pol (griechisch πόλος pólos „Achse“). Dieser bewegt sich im körperfesten System auf geschlossenen Kurven, den Polhodien („Polpfade“ von ὁδός hodós „Weg, Pfad, Straße“), die auf dem Energieellipsoid oder Poinsotellipsoid liegen. Je nachdem, ob die Polhodien die Hauptträgheitsachse mit dem kleinsten oder dem größten Hauptträgheitsmoment umschließen, werden die Polhodien epi- bzw. perizykloidisch genannt. Die Polhodie im Abb. 1 ist epizykloidisch. Im raumfesten Inertialsystem berührt die Winkelgeschwindigkeit im Pol die invariable Ebene und zeichnet die Herpolhodien nach („Schlängelwege des Pols“ von ἕρπω hérpo „kriechen“). Die invariable Ebene tangiert jederzeit das Poinsotellipsoid.

Die genannten Elemente bilden die Poinsot’sche Konstruktion und ihr Zeitverlauf definiert die Poinsot’sche Bewegung. Durch die Poinsot’sche Konstruktion wird die Untersuchung der Drehbewegung von Starrkörpern zu einer geometrischen Aufgabe.

Animationen
Epizykloidische Bewegung Perizykloidische Bewegung Bewegung nahe der Separatrix,
siehe Dschanibekow-Effekt
Anders als in den Animationen dargestellt, bezieht sich der Drehimpuls jeweils auf den Massenmittelpunkt.

Beschreibung

Die Poinsot’sche Konstruktion betrachtet einen kräftefreien Kreisel, der in seinem Massenmittelpunkt ruht. Außer in der Schwerelosigkeit kann ein kräftefreier Körper in einem Schwerefeld realisiert werden, indem er in seinem Schwerpunkt drehbar, beispielsweise kardanisch aufgehängt wird.

Die Ausdehnung des Energieellipsoids ist konstant, da sie von der Rotationsenergie bestimmt wird, die beim kräftefreien Kreisel ein Integral seiner Bewegung ist, da mangels äußerer Kräfte keine Arbeit verrichtet wird. Dort, wo die aktuelle Winkelgeschwindigkeit das Energieellipsoid berührt, ist der aktuelle Drehimpuls senkrecht zu Tangentialebene. Der Drehimpuls ist beim kräftefreien Kreisel unveränderlich und somit sind die Tangentialebenen während der Bewegung parallel zueinander oder fallen zusammen.

Die Komponente der Winkelgeschwindigkeit in Richtung des Drehimpulses bleibt immer gleich. Denn bei der kräftefreien Drehbewegung eines Körpers ist sowohl seine Rotationsenergie Erot als auch sein Drehimpuls erhalten. Erstere berechnet sich aus letzterem durch skalare Multiplikation mit der Winkelgeschwindigkeit:

Darin ist L der Betrag des Drehimpulses, ω der Betrag der Drehgeschwindigkeit und φ der von Drehimpuls und Drehgeschwindigkeit eingeschlossene Winkel. Auf der rechten Seite der letzten Gleichung steht eine Konstante der Drehbewegung, weswegen die linke Seite, der Anteil der Winkelgeschwindigkeit in Richtung des Drehimpulses, ebenfalls konstant ist. Besagter Anteil bestimmt den Abstand der Tangentialebene vom Massenmittelpunkt. Dieser liegt im Ursprung O und sein Fußpunkt auf der Tangentialebene sei A. Dann ist dieser feste Anteil der Winkelgeschwindigkeit die Strecke OA. Somit ist die Tangentialebene an das Poinsotellipsoid im Pol fest und wird invariable Ebene genannt (grün Ebene in Abb. 1).

Trotzdem die Winkelgeschwindigkeit OA konstant ist, rotiert der Polstrahl AP nicht mit konstanter Drehgeschwindigkeit um die Achse OA, denn der Pol wandert nicht nur in der Ebene, sondern auch auf dem Poinsotellipsoid.[2]

Ein im Pol befindliches Partikel des Starrkörpers steht momentan still, denn es liegt auf der aktuellen Drehachse, die durch den ruhenden Massenmittelpunkt geht[3].

Wenn der Körper nicht um eine seiner Hauptträgheitsachsen kreist, dann kann von den Winkelgeschwindigkeiten ω1,2,3 höchstens eine null sein. Die Euler’schen Kreiselgleichungen zeigen, dass von den Winkelbeschleunigungen dann niemals alle drei gleichzeitig verschwinden können. Der Pol bleibt demnach auf den Polhodien und Herpolhodien nicht stehen oder kehrt gar seine Bewegungsrichtung um.

Polhodien

Epi- und perizykloide Polhodien

Abb. 2: Polhodien auf dem Poinsotellipsoid (grau) und Drallellipsoid (gelb).

Die Winkelgeschwindigkeit liegt zum Einen wegen der Energieerhaltung auf dem Poinsotellipsoid (grau in Abb. 2). Zum Anderen berührt sie wegen der Drehimpulserhaltung auch das Drallellipsoid, das im körperfesten System die Endpunkte aller Winkelgeschwindigkeitsvektoren enthält, die zum gleichen Drehimpulsbetragsquadrat führen (gelb). Die Polhodien sind die Schnittkurven dieser beiden Ellipsoide und sind als solche Kreis-, Ellipsen- oder Taco-förmige, geschlossene Kurven, die wie die Ellipsoide zu allen drei Hauptebenen, die von den Hauptträgheitsachsen erzeugt werden, symmetrisch sind. Die in Abb. 2 rot gezeichneten Polhodien, werden nach Arnold Sommerfeld und Felix Klein epizykloidische Polhodien genannt. Bei ihnen ist L² < 2Θ2Erot, worin Erot die Rotationsenergie, L den Betrag des Drehimpulses und Θ2 das mittelgroße Hauptträgheitsmoment bezeichnen. Die blau gezeichneten Kurven sind die perizykloidischen Polhodien, bei denen 2Θ2Erot < L² ist[4]. Zwischen den epi- und perizykloidischen Polhodien liegt die trennende Polhodie oder #Separatrix (schwarz), die bei L²  = 2Θ2 Erot entsteht und aus zwei Ellipsen zusammengesetzt gedacht werden kann.

Berührungspunkte der Ellipsoide

Bei gegebener Rotationsenergie berührt das kleinstmögliche Drallellipsoid das Poinsotellipsoid an den Endpunkten der großen Achse. Diese Situation entspricht einer gleichförmigen Drehung um die Hauptträgheitsachse mit dem kleinsten Hauptträgheitsmoment, denn die Längen der Achsen sind umgekehrt proportional zu den Hauptträgheitsmomenten. Hier hat der Drehimpuls den minimalen mit der Rotationsenergie verträglichen Betrag. Wenn das größtmögliche Drallellipsoid das Poinsotellipsoid an den Endpunkten der kleinsten Achse berührt, findet eine gleichförmige Drehung um die Hauptträgheitsachse mit dem größten Hauptträgheitsmoment statt, und der Drehimpuls hat den maximalen, mit der Rotationsenergie verträglichen Betrag erreicht.[5]

Mathematisch drückt sich das so aus: Dreht der Körper mit der Winkelgeschwindigkeit ωk um die k-te Hauptachse mit dem Hauptträgheitsmoment Θk, dann hat er den Drehimpuls Lk = Θkωk und die Rotationsenergie

Der Drehimpuls ist also betraglich am größten oder kleinsten, wenn der Körper um seine Hauptachse mit dem größten oder kleinsten Hauptträgheitsmoment dreht.

Rotierende und oszillierende Bewegungen

Auf den epizykloidischen Polhodien findet eine Drehung um die 1-Achse statt und der Drehwinkel um diese Achse ist unbeschränkt. Bei den perizykloidischen Polhodien schwankt der Drehwinkel um die 1-Achse zwischen zwei Extremwerten. Entsprechend werden die epizykloidischen Bewegungen als rotierend und die perizykloidischen als oszillierend bezeichnet.[6]

Stabilitätsbetrachtungen

Ist der Pol nur in der Nähe aber nicht auf der größten oder kleinsten Achse, verbleibt er auch in deren Nähe, denn die Polhodien umschließen diese Endpunkte. Das ist auf der Separatrix anders, wo ein in der Nähe aber nicht auf der mittleren Achse befindlicher Pol sich auf einer epi- oder perizykloidischen Polhodie erheblich von seiner Anfangslage entfernt und die Achse auch nicht umschlingt. Die größte und kleinste Achse markieren somit stabile Drehachsen wohingegen die mittlere Drehachse eine instabile ist.

Bei stark abgeplatteten oder sehr schlanken Ellipsoiden kann bereits ein kleiner Stoß den Pol weit von der Hauptträgheitsachse wegführen auch wenn die Bewegung um eine der stabilen Achsen stattfindet. Somit kann bei stark unterschiedlichen Hauptträgheitsmomenten auch eine stabile Drehachse instabil erscheinen. Ein Maß für die Stabilität der Drehachsen kann aus den Achsverhältnissen der Ellipsen abgeleitet werden, als welche die Polhodien bei Betrachtung aus Richtung der Hauptträgheitsachsen erscheinen. Die Winkelgeschwindigkeiten erfüllen die beiden Gleichungen

Projektion der Schnittkurven in Richtung einer der Hauptträgheitsachsen auf eine Ebene senkrecht dazu erfolgt durch Eliminierung der Winkelgeschwindigkeitskomponente in Richtung der Achse, was auf die Gleichungen

führt. Die erste und dritte Gleichung besitzen nur positive Koeffizienten, weswegen sie Ellipsen beschreiben, die die Achsverhältnisse

aufweisen. Die Stabilität nimmt ab, je weiter sich die Verhältnisse von eins entfernen, und wird am größten, wenn der Kreisel symmetrisch bezüglich der 1- bzw. 3-Achse ist, denn dann wird s1=1 bzw. s3=1.[7]

Separatrix

Abb. 3: Weg eines Punktes auf der 2-Achse (rot) um die Drehimpulsachse (senkrechte Linie) entlang einer Loxodrome

Auf der Separatrix ist L² = 2Θ2Erot und die zweite der obigen Ellipsengleichungen definiert gemäß

zwei Ursprungsgeraden in der 1-3-Ebene. Die von diesen Geraden und der 2-Achse aufgespannten Ebenen enthalten die Separatrix, die als ebene Schnitte eines Ellipsoids aus Ellipsen besteht (schwarz in Abb. 2). Bei der Bewegung zeigt sich, dass sich ein Punkt auf der 2-Achse auf einer Loxodrome mit gleichmäßiger Drehgeschwindigkeit unendlich oft um die Drehimpulsachse dreht, siehe Abb. 3 und Bewegung auf der Separatrix. Der Pol nähert sich asymptotisch dem Schnittpunkt der beiden Ellipsen auf der 2-Achse an, erreicht sie aber nie.

Herpolhodien

Abb. 4: Herpolhodien bei epi- und perizykloidischer Bewegung sowie Bewegung auf der Separatrix. Gestrichelt: in die invariable Ebene projizierte Polhodie zu einem Zeitpunkt.

Die Herpolhodien zeichnen den Weg des Pols in der invariablen Ebene nach. Weil der Anteil der Winkelgeschwindigkeit, der senkrecht zum Drehimpuls ist, der Polstrahl AP, wie die Winkelgeschwindigkeit selbst zwischen zwei Extremwerten schwankt, liegen die Herpolhodien zwischen zwei konzentrischen Kreisen um den Fußpunkt A des Massenmittelpunkts auf der invariablen Ebene, siehe Abb. 4. Die Herpolhodien sind wie in Abb. 4 meistens nicht geschlossen, wonach der Kreisel nicht mehr in seine Anfangslage zurückzukehren braucht. Trotz ihrer Benennung als Schlängelweg besitzen die Herpolhodien keine Wendepunkte und auch keine Spitzen. Der Krümmungsmittelpunkt liegt immer auf der Seite des Fußpunkts A.[4]

Beweis
Die Winkelgeschwindigkeit wird im körperfesten Hauptachsensystem ausgedrückt und dient der Berechnung der Raten der Basisvektoren gemäß

Betrachtet werden Drehungen abseits der Hauptachsen, so dass von den Winkelgeschwindigkeiten ω1,2,3 höchstens eine null sein soll. Die Geschwindigkeit des Pols ist und lautet:

wegen Die Winkelbeschleunigungen ergeben sich aus den eulerschen Kreiselgleichungen:

Weil nach Voraussetzung höchstens eine der Winkelgeschwindigkeiten null ist, können niemals alle drei Winkelbeschleunigungen gleichzeitig verschwinden, so dass der Pol niemals stehen bleiben kann und die Herpolhodien somit keine Spitzen aufweisen.

Die Verhältnisse p1,2,3 liegen alle im offenen Intervall (0,1), weil die Hauptträgheitsmomente die Dreiecksungleichungen erfüllen, und p2 ist das größte, denn:

Die Beschleunigung des Pols ist

mit den Winkelrucken

Nach elementaren Umformungen ergibt sich

Die eckigen Klammern in der ersten und dritten Komponente sind positiv und weil nur höchstens eine der Winkelgeschwindigkeiten null sein soll, verschwindet die Polbeschleunigung nie. Das Kreuzprodukt mit der Polgeschwindigkeit liefert:

Das Kreuzprodukt verschwindet, wenn die Polbeschleunigung und -geschwindigkeit parallel sind und somit möglicher Weise ein Wendepunkt in der Herpolhodie auftritt. Allerdings sind die eckigen Klammern sämtlich positiv, sodass nicht alle drei Komponenten auf einmal verschwinden können. Die Herpolhodien können also keinen Wendepunkt aufweisen.

Symmetrische Kreisel

Bei symmetrischen Kreiseln stimmen zwei Hauptträgheitsmomente überein, sodass das Poinsotellipsoid und das Drallellipsoid rotationssymmetrisch sind. Die Polhodien und die Herpolhodien werden dann zu Kreisen. Alle Winkelgeschwindigkeiten auf den Polhodien und auf den Herpolhodien bilden einen Kegel, den Spurkegel und Polkegel, die beim symmetrischen Kreisel Kreiskegel vorstellen. Der symmetrische, gestreckte, prolate Kreisel kann sich nur epizykloidisch, der symmetrische, abgeplattete, oblate Kreisel nur perizykloidisch bewegen. Wird beim prolaten Kreisel der Polhodienkreis in die invariable Ebene geklappt, so liegt er außerhalb des Herpolhodienkreises. Irgendein Punkt auf dem geklappten Polhodienkreis fährt beim Abrollen auf dem Herpolhodienkreis eine Epizykloide ab. Der in die invariable Ebene geklappte Polhodienkreis des oblaten Kreisels rollt hingegen innen auf dem Herpolhodienkreis ab, den der Polhodienkreis umschließt, und ein Punkt auf ihm zeichnet eine Perizykloide. Das motiviert die Bezeichnung der Bewegung als epi- bzw. perizykloidisch. Niemals kann der Fall eintreten, bei dem der rollende Polhodienkreis innerhalb des festen Herpolhodienkreises liegt und die Bewegung entsprechend hypozykloidisch heißen müsste.[8]

Lagrange-Kreisel

Die Poinsot’sche Konstruktion kann auch auf Lagrange-Kreisel übertragen werden. Der Lagrange-Kreisel ist ein symmetrischer schwerer Kreisel, bei dem der Massenmittelpunkt auf der Figurenachse liegt und der einen Stützpunkt hat. Bei schweren Kreiseln mit Stützpunkt bewegt sich der Drehimpuls in einer Ebene, die senkrecht zur Gewichtskraft ist, und der Abstand dieser Ebene vom Ursprung ist konstant, da es ein Integral der Bewegung ist. Da zwar die Gesamtenergie des Kreisels konstant ist, nicht so aber seine Rotationsenergie, hat das Poinsot-Ellipsoid eine Ausdehnung, die gegenläufig zur Lageenergie zu- und abnimmt. Die Polhodien liegen in einer Ebene, die senkrecht zur Figurenachse ist und den Abstand ω3 vom Stützpunkt hat, denn die axiale Winkelgeschwindigkeit ω3 ist beim Lagrange-Kreisel konstant.[9]

Allgemeiner Fall

Beim Lagrange-Kreisel sind die Herpolhodien im Allgemeinen sphärische Kurven, die also auf der Oberfläche einer Kugel verlaufen. Das Zentrum der Kugel liegt auf der Lotlinie im Abstand vom Stützpunkt und der Radius der Kugel hat die Länge[10]

Darin ist

  • Θ1 das äquatoriale Massenträgheitsmoment,
  • Θ3 das axiale Massenträgheitsmoment,
  • Lz der Drehimpuls um die Lotlinie,
  • L3 der axiale Drehimpuls um die Figurenachse,
  • c0 = mgs das Stützpunktmoment, gebildet aus der Gewichtskraft mg und dem Abstand s des Massenmittelpunkts vom Stützpunkt auf der Figurenachse, und
  • E ist die mechanische Gesamtenergie des Kreisels.

Der Abstand vom Stützpunkt zum Mittelpunkt der Kugel und ihr Radius wachsen über alle Grenzen, wenn Θ1 = Θ3, also beim Kugelkreisel, oder wenn L3 = 0 und der Kreisel zum Pendel wird. Das über das Poinsot-Ellipsoid und die Polhodien gesagte bleibt in diesen Spezialfällen gültig.

Schwerer Kugelkreisel

Beim Kugelkreisel sind Winkelgeschwindigkeit und Drehimpuls proportional zueinander, weswegen sich auch die Winkelgeschwindigkeit in einer Ebene bewegt, die senkrecht zur Gewichtskraft ist.

Pendel

Beim Lagrange-Kreisel ohne axiale Winkelgeschwindigkeit ω3 sind Winkelgeschwindigkeit und Drehimpuls auch proportional zueinander, weswegen das beim Kugelkreisel gesagte auch hier zutrifft. Ein Lagrange-Kreisel ohne axiale Winkelgeschwindigkeit ω3 führt daher Pendelbewegungen [11] aus, bei denen sich der Endpunkt der Winkelgeschwindigkeit in einer horizontalen Ebene aufhält.

Einzelnachweise

  1. Louis Poinsot: Théorie nouvelle de la rotation des corps. Bachelier, Paris 1834/1851, Grammel (1920), S. 24, Grammel (1950), S. 122 ff., Magnus (1971), S. 54, Leimanis (1965), S. 18, siehe Literatur.
  2. Grammel (1920), S. 25
  3. Grammel (1920), S. 24.
  4. a b Grammel (1920), S. 36.
  5. Grammel (1920), S. 35.
  6. Léo Van Damme, Pavao Mardesic, Dominique Sugny: The tennis racket effect in a three-dimensional rigid body. 28. Juni 2016, abgerufen am 25. September 2016.
  7. Grammel (1920), S. 39.
  8. Grammel (1920), S. 41.
  9. Klein und Sommerfeld (2010), S. 217.
  10. Klein und Sommerfeld (2010), S. 236.
  11. Klein und Sommerfeld (2010), S. 201.

Literatur

  • Svetoslav Zabunov: Stereo 3D Rigid Body Simulation. Zabunov Laboratories, abgerufen am 11. Oktober 2016 (englisch, View auf „Poinsot construction (complete)“ einstellen).