„Evolutionäre Psychiatrie“ – Versionsunterschied

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Im Jahr 2016 wurde die Evolutionary Psychiatry Special Interest Group (EPSIG) im [[Royal College of Psychiatrists]], Großbritannien, von Riadh Abed und Paul St-John Smith gegründet.<ref name=":8" /> Es ist heute die größte globale Institution, um Psychiater und Forscher, die sich für evolutionäre Psychiatrie interessieren<ref name=":14">Evolutionary Psychiatry Special Interest Group. [https://www.rcpsych.ac.uk/docs/default-source/members/sigs/evolutionary-psychiatry-epsig/covid-19-epsig-newsletter-final_.pdf?sfvrsn=136b5f99_2 "Newsletter No.Covid 19 edition 2020" (PDF)]. ''Royal College of Psychiatrists''.</ref> mit über 1700 Mitgliedern zu verbinden.<ref>Evolutionary Psychiatry Special Interest Group, RCPsych (June 2021). [https://www.rcpsych.ac.uk/docs/default-source/epsig/minutes-for-epsig-agm-11-june-2021.pdf?sfvrsn=70dd3e03_2 "Minutes for EPSIG AGM June 2021" (PDF)]. Abgerufen am 01. April 2022.</ref> Es wurden mehrere Seminare und Treffen zur evolutionären Psychiatrie durchgeführt, in denen Vorträge von prominenten Akademikern wie [[Simon Baron-Cohen]] und [[Robin Dunbar]] gehalten wurden. Alle Treffen sind auf dem EPSIGUK YouTube-Kanal verfügbar.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.youtube.com/epsiguk |titel=EPSIG UK - YouTube |abruf=2022-04-01}}</ref> EPSIG veröffentlicht auch regelmäßige Newsletter<ref>{{Internetquelle |url=https://www.rcpsych.ac.uk/members/special-interest-groups/evolutionary-psychiatry/newsletters |titel=Evolutionary psychiatry newsletters {{!}} Royal College of Psychiatrists |sprache=en |abruf=2022-04-01}}</ref> organisiert Konferenzen, führt Interviews und veranstaltet spezielle Essays zur evolutionären Psychiatrie (für die es noch keine spezielle wissenschaftliche Zeitschrift gibt).
Im Jahr 2016 wurde die Evolutionary Psychiatry Special Interest Group (EPSIG) im [[Royal College of Psychiatrists]], Großbritannien, von Riadh Abed und Paul St-John Smith gegründet.<ref name=":8" /> Es ist heute die größte globale Institution, um Psychiater und Forscher, die sich für evolutionäre Psychiatrie interessieren<ref name=":14">Evolutionary Psychiatry Special Interest Group. [https://www.rcpsych.ac.uk/docs/default-source/members/sigs/evolutionary-psychiatry-epsig/covid-19-epsig-newsletter-final_.pdf?sfvrsn=136b5f99_2 "Newsletter No.Covid 19 edition 2020" (PDF)]. ''Royal College of Psychiatrists''.</ref> mit über 1700 Mitgliedern zu verbinden.<ref>Evolutionary Psychiatry Special Interest Group, RCPsych (June 2021). [https://www.rcpsych.ac.uk/docs/default-source/epsig/minutes-for-epsig-agm-11-june-2021.pdf?sfvrsn=70dd3e03_2 "Minutes for EPSIG AGM June 2021" (PDF)]. Abgerufen am 01. April 2022.</ref> Es wurden mehrere Seminare und Treffen zur evolutionären Psychiatrie durchgeführt, in denen Vorträge von prominenten Akademikern wie [[Simon Baron-Cohen]] und [[Robin Dunbar]] gehalten wurden. Alle Treffen sind auf dem EPSIGUK YouTube-Kanal verfügbar.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.youtube.com/epsiguk |titel=EPSIG UK - YouTube |abruf=2022-04-01}}</ref> EPSIG veröffentlicht auch regelmäßige Newsletter<ref>{{Internetquelle |url=https://www.rcpsych.ac.uk/members/special-interest-groups/evolutionary-psychiatry/newsletters |titel=Evolutionary psychiatry newsletters {{!}} Royal College of Psychiatrists |sprache=en |abruf=2022-04-01}}</ref> organisiert Konferenzen, führt Interviews und veranstaltet spezielle Essays zur evolutionären Psychiatrie (für die es noch keine spezielle wissenschaftliche Zeitschrift gibt).
{{Zitat |Text=Our aims are both big and radical: they are for evolution to be accepted as the overarching framework for psychiatry and for evolution to take centre stage in our understanding of mental health and mental disorder. |Autor=Riadh Abed, früherer Vorsitzender|Quelle=In einem Newsletter<ref name=":14" /> |Sprache=en |Übersetzung=Unsere Ziele sind sowohl groß als auch radikal: Sie sind dafür, dass die Evolution als übergreifender Rahmen für die Psychiatrie akzeptiert wird und dass die Evolution im Mittelpunkt unseres Verständnisses von psychischer Gesundheit und psychischen Störungen steht.}}
{{Zitat |Text=Our aims are both big and radical: they are for evolution to be accepted as the overarching framework for psychiatry and for evolution to take centre stage in our understanding of mental health and mental disorder. |Autor=Riadh Abed, früherer Vorsitzender|Quelle=In einem Newsletter<ref name=":14" /> |Sprache=en |Übersetzung=Unsere Ziele sind sowohl groß als auch radikal: Sie sind dafür, dass die Evolution als übergreifender Rahmen für die Psychiatrie akzeptiert wird und dass die Evolution im Mittelpunkt unseres Verständnisses von psychischer Gesundheit und psychischen Störungen steht.}}

== Psychologische Funktion und Dysfunktion ==
Psychische Störungen werden in psychiatrischen Handbüchern wie dem [[Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders|DSM]] oft durch ''Dysfunktion'' definiert, ohne eine genaue Definition dessen, was Dysfunktion ausmacht, so dass jeder psychische Zustand, der als sozial inakzeptabel angesehen wird (wie [[Homosexualität]]), als dysfunktional und damit als psychische Störung angesehen werden kann.

Die Evolutionstheorie ist einzigartig positioniert, um biologische Funktion durch evolutionäre Prozesse von Dysfunktion unterscheiden zu können.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.worksinprogress.co/issue/the-evolution-of-psychiatry/ |titel=The evolution of psychiatry |werk=Works in Progress |sprache=en-US |abruf=2022-04-01}}</ref> Im Gegensatz zu den Objekten und Prozessen der [[Physik]] und [[Chemie]], von denen man nicht streng sagen kann, dass sie funktionieren oder dysfunktionieren,<ref>{{Literatur |Autor=Derek Bolton, Grant Gillett |Titel=The biopsychosocial model of health and disease: new philosophical and scientific developments |Datum=2019 |ISBN=978-3-030-11899-0 |Online=https://public.ebookcentral.proquest.com/choice/publicfullrecord.aspx?p=5742722 |Abruf=2022-04-01}}</ref> sind biologische Systeme die Produkte der [[Evolution]] durch [[natürliche Selektion]], und so können ihre ''Funktion'' und ''Dysfunktion'' mit diesem evolutionären Prozess in Verbindung gebracht werden. Das Konzept der evolutionären Funktion ist an den [[Fortpflanzung|Fortpflanzungserfolg]] gebunden, der durch Phänotypen verursacht wurde, die zur Verbreitung von Genen führten. Augen entwickelten sich, um zu sehen - die Funktion der Augen ist zu sehen - so sind dysfunktionale Augen diejenigen, die nicht sehen können. Dieses Funktionsgefühl wird durch die evolutionäre Geschichte des Sehvermögens definiert, die reproduktiven Erfolg bietet, nicht durch aktuelle kulturelle Meinungen von [[Normalität]] und [[Anomalie]], von denen häufige Vorstellungen von [[Gesundheit]] und Störung abhängen.<ref>{{Literatur |Autor=Horacio Fabrega, Martin Brüne |Titel=Evolutionary Foundations of Psychiatric Compared to Nonpsychiatric Disorders |Sammelwerk=The Evolution of Psychopathology |Verlag=Springer International Publishing |Ort=Cham |Datum=2017 |ISBN=978-3-319-60576-0 |DOI=10.1007/978-3-319-60576-0_1 |Seiten=1–35}}</ref> Jerome Wakefields einflussreiche Definition der Störung als ''schädliche Dysfunktion'' nutzt evolutionär ausgewählte Effekte, um das Konzept der ''Dysfunktion'' im objektiven Evolutionsprozess zu erden. Wakefield schlägt vor, dass psychische Störungen sowohl schädlich, in einem wertdefinierten Sinne, als auch dysfunktional im evolutionären Sinne sein müssen.

Diese Begründung der Dysfunktion in einem objektiven historischen Prozess ist wichtig im Kontext der Geschichte der Psychiatrie, sozial unerwünschte psychische Zustände und Merkmale als „Störungen“ wie [[Masturbation|weibliche Masturbation]] und Homosexualität zu kennzeichnen. Aktuelle Diagnosehandbücher werden im Konsens festgelegt. Zum Beispiel rief die APA 1973 eine Abstimmung ein, um den Status von Homosexualität als psychische Störung zu überdenken. Mit einer Mehrheit von 58% wurde es gestrichen.<ref>{{Literatur |Autor=Jack Drescher |Titel=Out of DSM: Depathologizing Homosexuality |Sammelwerk=Behavioral Sciences (Basel, Switzerland) |Band=5 |Nummer=4 |Datum=2015-12-04 |ISSN=2076-328X |DOI=10.3390/bs5040565 |PMC=4695779 |PMID=26690228 |Seiten=565–575 |Online=https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26690228/ |Abruf=2022-04-01}}</ref> Die Kategorie der [[Borderline-Persönlichkeitsstörung]] wurde auf der Grundlage eines einzigen Papiers und eines Konsenses zwischen etwa einem Dutzend Psychiatern geschaffen.<ref>{{Literatur |Autor=J. Davies |Titel=How Voting and Consensus Created the Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-III) |Sammelwerk=Anthropology & medicine |Datum=2017 |DOI=10.1080/13648470.2016.1226684 |Online=https://www.semanticscholar.org/paper/How-Voting-and-Consensus-Created-the-Diagnostic-and-Davies/665113f33472f0506069ba43ee2ea2348282d87b |Abruf=2022-04-01}}</ref> Im Jahr 2014 stimmten Psychiater über die Merkmale einer neuen Störung, der [[Computerspielabhängigkeit|Internet-Gaming-Störung]], ab.<ref>{{Literatur |Autor=Nancy M. Petry, Florian Rehbein, Douglas A. Gentile, Jeroen S. Lemmens, Hans-Jürgen Rumpf |Titel=An international consensus for assessing internet gaming disorder using the new DSM-5 approach |Sammelwerk=Addiction (Abingdon, England) |Band=109 |Nummer=9 |Datum=2014-09 |ISSN=1360-0443 |DOI=10.1111/add.12457 |PMID=24456155 |Seiten=1399–1406 |Online=https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24456155/ |Abruf=2022-04-01}}</ref> Die Abhängigkeit von Abstimmungen und Expertenkonsensen anstelle von objektiven Beweisen oder Biomarkern ist eine langjährige Kritik an der Psychiatrie, die die evolutionäre Psychiatrie vermeiden kann, indem sie die evolutionäre Definition von Dysfunktion annimmt.


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==

Version vom 1. April 2022, 17:08 Uhr

Die evolutionäre Psychiatrie, auch bekannt als darwinistische Psychiatrie,[1][2] ist ein theoretischer Ansatz für die Psychiatrie, der darauf abzielt, psychiatrische Störungen evolutionär zu erklären.[3][4] Es ist ein Zweig des Bereichs der Evolutionsmedizin und unterscheidet sich von der medizinischen Praxis der Psychiatrie in seinem Schwerpunkt auf der Bereitstellung wissenschaftlicher Erklärungen und nicht auf Behandlungen für Psychische Störungen. Dies betrifft oft Fragen der Endursache. Zum Beispiel kann die psychiatrische Genetik Gene entdecken, die mit psychischen Störungen verbunden sind, die evolutionäre Psychiatrie fragt jedoch, warum diese Gene in der Bevölkerung bestehen bleiben. Weitere Kernfragen in der evolutionären Psychiatrie sind, warum vererbbare, psychische Störungen so häufig sind,[5] wie man geistige Funktion und Dysfunktion unterscheidet[6] und ob bestimmte Formen des Leidens einen adaptiven Vorteil vermittelten.[7] Häufig in Betracht gezogene Störungen sind Depressionen, Angstzustände, Schizophrenie, Autismus, Essstörungen und andere. Wichtige erklärende Konzepte sind evolutionäre Diskrepanz (wenn moderne Umgebungen psychische Erkrankungen verursachen) und die Tatsache, dass die Evolution eher vom reproduktiven Erfolg als von Gesundheit oder Wohlbefinden geleitet wird. Anstatt eine alternative Darstellung der Ursache psychischer Störungen zu liefern, versucht die evolutionäre Psychiatrie, Erkenntnisse aus traditionellen Schulen der Psychologie und Psychiatrie wie Sozialpsychologie, Behaviorismus, biologische Psychiatrie und Psychoanalyse in einen ganzheitlichen Bericht im Zusammenhang mit der Evolutionsbiologie zu integrieren. In diesem Sinne zielt es darauf ab, die Kriterien eines Kuhnschen Paradigmenwechsels zu erfüllen.

Obwohl stark von der Evolutionspsychologie beeinflusst,[3] wie Abed und St. John-Smith 2016 bemerkten, „bleibt die Evolutionspsychiatrie im Gegensatz zur Evolutionspsychologie, die eine lebendige und blühende Teildisziplin der akademischen Psychologie mit einem starken und gut finanzierten Forschungsprogramm ist, das Interesse einer kleinen Anzahl von Psychiatern, die dünn auf der ganzen Welt verstreut sind.“. Es hat in den letzten Jahren zunehmende institutionelle Anerkennung erlangt, einschließlich der Bildung einer speziellen Interessengruppe für evolutionäre Psychiatrie innerhalb des Royal College of Psychiatrists und der Sektion für evolutionäre Psychiatrie innerhalb der World Psychiatric Association,[8] und hat durch die Veröffentlichung von Texten, die sich an das beliebte Publikum richten, wie „Good Reasons for Bad Feelings: Insight from the Frontier of Evolutionary Psychiatry“[7] von Randolph M. Nesse an Zugkraft gewonnen.

Geschichte

Das Streben nach evolutionärer Psychiatrie in ihrer modernen Form kann bis ins späte 20. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Ein wegweisender Text war George Williams und Randolph Nesses „Why We Get Sick: The New Science of Darwinian Medicine“[9] (was auch als Beginn der Evolutionsmedizin angesehen werden könnte), die Veröffentlichung von „Evolutionary Psychiatry: A New Beginning“ von John Price und Anthony Stevens und anderen. Die Fragen, mit denen sich die evolutionäre Psychiatrie befasst, haben jedoch eine längere Geschichte, zum Beispiel von Julian Huxley und Ernst Mayr in einem frühen Papier[10] anerkannt, in dem mögliche evolutionäre Erklärungen für das, was als „Schizophrenie-Paradoxon“ bekannt geworden ist, berücksichtigt werden.

Konzepte, die von der modernen evolutionären Psychiatrie angewendet werden, um psychische Störungen zu erklären, sind in vielen Fällen auch viel älter als das Feld. Psychologisches Leiden als unvermeidlicher und manchmal nützlicher Teil der menschlichen Existenz ist seit langem anerkannt, und die Idee des göttlichen Wahnsinns durchdringt alte Gesellschaften und Religionen. Cesare Lombroso, ein bahnbrechender Psychiater, begann bereits 1864 mit der Evolutionstheorie, um psychische Störungen zu erklären, und schlug vor, dass Wahnsinn der Preis des Genies sei, da sich das menschliche Gehirn nicht mit der Fähigkeit entwickelt hatte, hyperintelligent und kreativ zu werden und dennoch gesund zu bleiben.[11] Darwin wandte die Evolutionstheorie an, um psychologische Merkmale und Emotionen zu erklären, und erkannte den Nutzen des Studiums psychischer Störungen im Streben nach dem Verständnis der natürlichen psychologischen Funktion. Freud wurde stark von der darwinistischen Theorie beeinflusst, und empfahl gegen Ende seines Lebens Psychoanalytikern, die Evolutionstheorie zu studieren.[12] Bowlbys Bindungstheorie wurde in explizitem Verweis auf die Evolutionstheorie entwickelt.[13]

Im Jahr 2016 wurde die Evolutionary Psychiatry Special Interest Group (EPSIG) im Royal College of Psychiatrists, Großbritannien, von Riadh Abed und Paul St-John Smith gegründet.[8] Es ist heute die größte globale Institution, um Psychiater und Forscher, die sich für evolutionäre Psychiatrie interessieren[14] mit über 1700 Mitgliedern zu verbinden.[15] Es wurden mehrere Seminare und Treffen zur evolutionären Psychiatrie durchgeführt, in denen Vorträge von prominenten Akademikern wie Simon Baron-Cohen und Robin Dunbar gehalten wurden. Alle Treffen sind auf dem EPSIGUK YouTube-Kanal verfügbar.[16] EPSIG veröffentlicht auch regelmäßige Newsletter[17] organisiert Konferenzen, führt Interviews und veranstaltet spezielle Essays zur evolutionären Psychiatrie (für die es noch keine spezielle wissenschaftliche Zeitschrift gibt).

“Our aims are both big and radical: they are for evolution to be accepted as the overarching framework for psychiatry and for evolution to take centre stage in our understanding of mental health and mental disorder.”

„Unsere Ziele sind sowohl groß als auch radikal: Sie sind dafür, dass die Evolution als übergreifender Rahmen für die Psychiatrie akzeptiert wird und dass die Evolution im Mittelpunkt unseres Verständnisses von psychischer Gesundheit und psychischen Störungen steht.“

Riadh Abed, früherer Vorsitzender: In einem Newsletter[14]

Psychologische Funktion und Dysfunktion

Psychische Störungen werden in psychiatrischen Handbüchern wie dem DSM oft durch Dysfunktion definiert, ohne eine genaue Definition dessen, was Dysfunktion ausmacht, so dass jeder psychische Zustand, der als sozial inakzeptabel angesehen wird (wie Homosexualität), als dysfunktional und damit als psychische Störung angesehen werden kann.

Die Evolutionstheorie ist einzigartig positioniert, um biologische Funktion durch evolutionäre Prozesse von Dysfunktion unterscheiden zu können.[18] Im Gegensatz zu den Objekten und Prozessen der Physik und Chemie, von denen man nicht streng sagen kann, dass sie funktionieren oder dysfunktionieren,[19] sind biologische Systeme die Produkte der Evolution durch natürliche Selektion, und so können ihre Funktion und Dysfunktion mit diesem evolutionären Prozess in Verbindung gebracht werden. Das Konzept der evolutionären Funktion ist an den Fortpflanzungserfolg gebunden, der durch Phänotypen verursacht wurde, die zur Verbreitung von Genen führten. Augen entwickelten sich, um zu sehen - die Funktion der Augen ist zu sehen - so sind dysfunktionale Augen diejenigen, die nicht sehen können. Dieses Funktionsgefühl wird durch die evolutionäre Geschichte des Sehvermögens definiert, die reproduktiven Erfolg bietet, nicht durch aktuelle kulturelle Meinungen von Normalität und Anomalie, von denen häufige Vorstellungen von Gesundheit und Störung abhängen.[20] Jerome Wakefields einflussreiche Definition der Störung als schädliche Dysfunktion nutzt evolutionär ausgewählte Effekte, um das Konzept der Dysfunktion im objektiven Evolutionsprozess zu erden. Wakefield schlägt vor, dass psychische Störungen sowohl schädlich, in einem wertdefinierten Sinne, als auch dysfunktional im evolutionären Sinne sein müssen.

Diese Begründung der Dysfunktion in einem objektiven historischen Prozess ist wichtig im Kontext der Geschichte der Psychiatrie, sozial unerwünschte psychische Zustände und Merkmale als „Störungen“ wie weibliche Masturbation und Homosexualität zu kennzeichnen. Aktuelle Diagnosehandbücher werden im Konsens festgelegt. Zum Beispiel rief die APA 1973 eine Abstimmung ein, um den Status von Homosexualität als psychische Störung zu überdenken. Mit einer Mehrheit von 58% wurde es gestrichen.[21] Die Kategorie der Borderline-Persönlichkeitsstörung wurde auf der Grundlage eines einzigen Papiers und eines Konsenses zwischen etwa einem Dutzend Psychiatern geschaffen.[22] Im Jahr 2014 stimmten Psychiater über die Merkmale einer neuen Störung, der Internet-Gaming-Störung, ab.[23] Die Abhängigkeit von Abstimmungen und Expertenkonsensen anstelle von objektiven Beweisen oder Biomarkern ist eine langjährige Kritik an der Psychiatrie, die die evolutionäre Psychiatrie vermeiden kann, indem sie die evolutionäre Definition von Dysfunktion annimmt.

Einzelnachweise

  1. Godfrey D. Pearlson, Bradley S. Folley: Schizophrenia, psychiatric genetics, and Darwinian psychiatry: an evolutionary framework. In: Schizophrenia Bulletin. Band 34, Nr. 4, Juli 2008, ISSN 0586-7614, S. 722–733, doi:10.1093/schbul/sbm130, PMID 18033774, PMC 2632450 (freier Volltext) – (nih.gov [abgerufen am 1. April 2022]).
  2. J. Panksepp: Emotional endophenotypes in evolutionary psychiatry. In: Progress in Neuro-Psychopharmacology and Biological Psychiatry. 2006, doi:10.1016/j.pnpbp.2006.01.004 (semanticscholar.org [abgerufen am 1. April 2022]).
  3. a b B. Dubrovsky: Evolutionary psychiatry. Adaptationist and nonadaptationist conceptualizations. In: Progress in Neuro-Psychopharmacology and Biological Psychiatry. 2002, doi:10.1016/S0278-5846(01)00243-3 (semanticscholar.org [abgerufen am 1. April 2022]).
  4. Michael McGuire, Alfonso Troisi: Darwinian Psychiatry. Oxford University Press, ISBN 978-0-19-026184-9, doi:10.1093/med:psych/9780195116731.001.0001 (oxfordclinicalpsych.com [abgerufen am 1. April 2022]).
  5. Matthew C. Keller, Geoffrey Miller: Resolving the paradox of common, harmful, heritable mental disorders: which evolutionary genetic models work best? In: The Behavioral and Brain Sciences. Band 29, Nr. 4, August 2006, ISSN 0140-525X, S. 385–404; discussion 405–452, doi:10.1017/S0140525X06009095, PMID 17094843 (nih.gov [abgerufen am 1. April 2022]).
  6. J. C. Wakefield: Disorder as harmful dysfunction: a conceptual critique of DSM-III-R's definition of mental disorder. In: Psychological Review. Band 99, Nr. 2, April 1992, ISSN 0033-295X, S. 232–247, doi:10.1037/0033-295x.99.2.232, PMID 1594724 (nih.gov [abgerufen am 1. April 2022]).
  7. a b Randolph M Nesse: Good reasons for bad feelings: insights from the frontier of evolutionary psychiatry. 2020, ISBN 978-0-14-198491-9 (worldcat.org [abgerufen am 1. April 2022]).
  8. a b Riadh Abed, Paul St John-Smith: Evolutionary psychiatry: a new College special interest group. In: BJPsych bulletin. Band 40, Nr. 5, Oktober 2016, ISSN 2056-4694, S. 233–236, doi:10.1192/pb.bp.115.052407, PMID 27752339, PMC 5046779 (freier Volltext) – (nih.gov [abgerufen am 1. April 2022]).
  9. Randolph M Nesse, George C Williams: Why we get sick: the new science of Darwinian medicine. 1996, ISBN 978-0-679-74674-4 (worldcat.org [abgerufen am 1. April 2022]).
  10. J. Huxley, E. Mayr, H. Osmond, A. Hoffer: Schizophrenia as a Genetic Morphism. In: Nature. 1964, doi:10.1038/204220a0 (semanticscholar.org [abgerufen am 1. April 2022]).
  11. Paolo Mazzarello: Cesare Lombroso: an anthropologist between evolution and degeneration. In: Functional Neurology. Band 26, Nr. 2, April 2011, ISSN 0393-5264, S. 97–101, PMID 21729591, PMC 3814446 (freier Volltext) – (nih.gov [abgerufen am 1. April 2022]).
  12. Geoffrey Marcaggi, Fabian Guénolé: Freudarwin: Evolutionary Thinking as a Root of Psychoanalysis. In: Frontiers in Psychology. Band 9, 2018, ISSN 1664-1078, S. 892, doi:10.3389/fpsyg.2018.00892, PMID 29971023, PMC 6018481 (freier Volltext) – (nih.gov [abgerufen am 1. April 2022]).
  13. Bowlby, Darwin and group selection — a free energy neuroscience perspective – Jeremy Holmes. Abgerufen am 1. April 2022 (deutsch).
  14. a b Evolutionary Psychiatry Special Interest Group. "Newsletter No.Covid 19 edition 2020" (PDF). Royal College of Psychiatrists.
  15. Evolutionary Psychiatry Special Interest Group, RCPsych (June 2021). "Minutes for EPSIG AGM June 2021" (PDF). Abgerufen am 01. April 2022.
  16. EPSIG UK - YouTube. Abgerufen am 1. April 2022.
  17. Evolutionary psychiatry newsletters | Royal College of Psychiatrists. Abgerufen am 1. April 2022 (englisch).
  18. The evolution of psychiatry. In: Works in Progress. Abgerufen am 1. April 2022 (amerikanisches Englisch).
  19. Derek Bolton, Grant Gillett: The biopsychosocial model of health and disease: new philosophical and scientific developments. 2019, ISBN 978-3-03011899-0 (proquest.com [abgerufen am 1. April 2022]).
  20. Horacio Fabrega, Martin Brüne: Evolutionary Foundations of Psychiatric Compared to Nonpsychiatric Disorders. In: The Evolution of Psychopathology. Springer International Publishing, Cham 2017, ISBN 978-3-319-60576-0, S. 1–35, doi:10.1007/978-3-319-60576-0_1.
  21. Jack Drescher: Out of DSM: Depathologizing Homosexuality. In: Behavioral Sciences (Basel, Switzerland). Band 5, Nr. 4, 4. Dezember 2015, ISSN 2076-328X, S. 565–575, doi:10.3390/bs5040565, PMID 26690228, PMC 4695779 (freier Volltext) – (nih.gov [abgerufen am 1. April 2022]).
  22. J. Davies: How Voting and Consensus Created the Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-III). In: Anthropology & medicine. 2017, doi:10.1080/13648470.2016.1226684 (semanticscholar.org [abgerufen am 1. April 2022]).
  23. Nancy M. Petry, Florian Rehbein, Douglas A. Gentile, Jeroen S. Lemmens, Hans-Jürgen Rumpf: An international consensus for assessing internet gaming disorder using the new DSM-5 approach. In: Addiction (Abingdon, England). Band 109, Nr. 9, September 2014, ISSN 1360-0443, S. 1399–1406, doi:10.1111/add.12457, PMID 24456155 (nih.gov [abgerufen am 1. April 2022]).