Abbreviatur (Paläografie)

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Fol. 34r des Book of Kells mit XPI (= Christi) h (= autem) generatio. Die Verwendung der griechischen Buchstaben Chi und Rho ist in mittelalterlichen lateinischen Texten Standard.

Als Abbreviatur (lat. abbreviare, „abkürzen“) bezeichnet man Schriftzeichen, die als Abkürzung für Silben oder ganze Wörter stehen. Es handelt sich um einen Fachbegriff der Paläographie, der vor allem bei mittelalterlichen Handschriften, aber auch noch in frühen Drucken insbesondere in lateinischer Sprache verwendet wird.[1]

Teil eines Spruchbalkens mit der kontrahierenden Abbreviatur „Aō:17Z8“ (für „Anno [domini] 1728“, auf Deutsch: „Im Jahre des Herrn 1728“)
Kontrahierende Abbreviatur „Aō:17Z8“ (für „Anno [domini] 1728“, dt. „Im Jahre des Herrn 1728“) auf einem Spruchbalken in Fischbeck (Weser)

Suspension bezeichnet die Weglassung von Buchstaben am Wortende, die durch Punkt, Überstreichung und Ähnliches ersetzt werden können. Dabei bleibt oft allein der erste Buchstabe (Initiale) erhalten, der Rest wird gekürzt. Beispiele:

  • Anno Domini → A. D.
  • debet → deb.
  • et cetera → etc.

Kontraktion bezeichnet die Weglassung von Buchstaben im Mittelteil, die durch Überstrich ersetzt werden können. Beispiele:

  • Iesus Christus → ihs xps
  • omnipotens → omps

Durch die Verwendung der Nomina sacra werden griechische mit lateinischen Lettern vermischt. Im ersten Beispiel stammen h, x und p von den Unzialen (η, ê), (χ, ch) und (ρ, r) her.

Ligaturen gehören nicht zu den Abbreviaturen, da bei Ligaturen kein Buchstabe wegfällt, die Buchstaben werden nur verbunden geschrieben. In längeren Zeiträumen können sich Ligaturen in der Art weiterentwickeln, dass im Ergebnis Zeichen eingespart werden. Beispiele hierfür sind das Zeichen & und der Buchstabe ß. Auch in solchen Fällen handelt es sich jedoch nicht um Abbreviaturen.

Lateinische Handschrift des 15. Jahrhunderts mit Abkürzungen

Bereits antike Handschriften verwenden die Prinzipien von Suspension und Kontraktion, die in mittelalterlichen Texten fortgeführt werden.

Suspensionen wurden in der Antike zunächst bei Epigraphen verwendet, zunehmend aber auch in juristischen Texten. Um der erschwerten Lesbarkeit zu begegnen, wurde 535 der Gebrauch dieser sogenannten notae iuris verboten, dauert aber zum Teil bis ins Mittelalter fort.

Den Ursprung der Kontraktionen erklären ältere Entstehungshypothesen über die Nomina sacra. Ludwig Traube führte sie direkt auf das hebräische Tetragramm JHWH für Jahwe zurück. Die damit gemeinten Kurzschreibungen für als heilig betrachtete Personen, Eigenschaften oder Gegenstände (Jesus, Christus, deus, dominus, spiritus etc.) jedenfalls nehmen seit dem 2. Jh. n. Chr. zu, insbesondere in jüdisch-christlichen Texten. Dabei ist insbesondere über christliche Texte eine mittelalterliche Rezeption selbstverständlich. Auch Wörter für profane Gegenstände und Personennamen wurden aber zunehmend nach denselben Prinzipien gekürzt wie Nomina sacra. Jüngere Forschungsmeinungen bestreiten deshalb, dass mit den Nomina sacra allein schon das Kontraktionsprinzip erklärt sei.[2]

Das Tilgungszeichen hat sich aus einem kleinen d entwickelt, einer Abkürzung für lateinisch deleatur („das ist zu tilgen“)

Abbreviaturen dienen vordergründig der Ersparnis von Zeit und Platz beim Schreiben. Darüber hinaus können sie, wie etwa das Sigel oder das Monogramm, weitere Funktionen erfüllen (Zitate nach Jürgen Römer, 1997):[3]

  • „Texte übersichtlicher zu gestalten und dadurch besser lesbar zu machen“
  • „zum Erreichen und Bewahren bestimmter Layoutvorstellungen“
  • „Erzeigen von Reverenz, Ehrfurcht und diplomatischer Höflichkeit“
  • „um Texte künstlich zu verschleiern“
  • „als Zierelemente“
  • Signal für Professionalität im Schriftverkehr

Systematisierungsversuche

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Zwar lassen sich weitverbreitete Konventionen benennen und z. B. Adriano Cappelli, dessen Darstellung von 1899 nach wie vor gebräuchlich ist, versucht „[d]as brachygraphische System des Mittelalters“ zu fassen.[4] Viele Abbreviaturen wurden aber von Schreibern individuell gebildet. Daher ist es nicht immer möglich, die Abbreviaturen eindeutig aufzulösen.

Cappellis Systematisierung schlägt eine Einteilung in sechs Typen vor:

  1. durch Abkürzungszeichen mit eigener Bedeutung
  2. durch Abkürzungszeichen mit veränderlicher Bedeutung
  3. durch Abbrechung
  4. durch Kontraktion
  5. durch konventionelle Zeichen[4]
  6. durch übergeschriebene Buchstaben

Leo Santifaller schlug in einer Darstellung von „Abkürzungen in den ältesten Papsturkunden (788–1002)“ eine abweichende Klassifikation vor. Zunächst unterscheidet er nach den verwendeten Zeichen:

  1. Besondere Abkürzungszeichen

Schließlich listet er als Abkürzungstypen:

  1. Häkchen
  2. Nomina sacra
  3. Notae iuris: c für cum, ee für esse, qd für quod etc.
  4. Punkt
  5. Strich
  6. Suspension und Kontraktion
  7. Verbindung von Punkt und Häkchen
  • Adriano Cappelli (Hrsg.): Lexicon abbreviaturarum. Wörterbuch lateinischer und italienischer Abkürzungen wie sie in Urkunden und Handschriften besonders des Mittelalters gebräuchlich sind, dargestellt in über 14000 Holzschnittzeichen. 2., verbesserte Auflage, Leipzig 1928 (Lexicon Abbreviaturarum im Internet Archive). 6. Auflage Mailand: Hoepli 1961, Nachdruck u. a. 2006. (Nach wie vor verwendetes Standard-Nachschlagewerk)
  • Alphonse Chassant: Dictionnaire des abbreviations latines et françaises du moyen-âge, 5. A. Paris 1884, Faksimiles
  • Paul Arnold Grun: Schlüssel zu alten und neuen Abkürzungen, Wörterbuch lateinischer und deutscher Abkürzungen des späten Mittelalters und der Neuzeit; mit historischer und systematischer Einführung für Archivbenutzer, Studierende, Heimat- und Familienforscher u. a., 1966, Nachdruck Limburg/Lahn: Starke 2002.
  • Pascal Ladner: Abkürzungen. In: Lexikon des Mittelalters (LexMA). Band 1. Artemis & Winkler, München/Zürich 1980, ISBN 3-7608-8901-8, Sp. 41–43.
  • Edward Latham: A dictionary of abbreviations, contractions and abbreviative Signs, New York 1916
  • Cesare Paoli: Le abbreviature nella paleografia latina nel Medioevo. Saggio metodico pratico, Florenz 1891/Die Abkürzungen in der lateinischen Schrift des Mittelalters, Ein methodisch-praktischer Versuch, Innsbruck 1892, Nachdruck Gerstenberg, Hildesheim 1971.
  • Auguste Pelzer: Abréviations latines médiévales: Supplément au 'Dizionario di abbreviature latine ed italiane de Adriano Cappelli. 2. Aufl., Löwen und Paris 1966 (in der Reihe Centre de Wulf-Mansion. Recherches de philosophie ancioenne et médiévale).
  • Olaf Pluta: Abbreviationes, Version 2.1, CD-ROM 2002.
  • Jürgen Römer: Geschichte der Kürzungen. Abbreviaturen in deutschsprachigen Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Göppinger Arbeiten zur Germanistik 645, Göppingen 1997.
  • Ludwig Traube: Lehre und Geschichte der Abkürzungen. In: Ders. (hrsg. Paul Lehmann, Franz Boll): Vorlesungen und Abhandlungen 1: Zur Paläographie und Handschriftenkunde, München 1909, 129–156.
  • Johann L. Walther: Lexicon diplomaticum. Abbreviationes syllabarum et vocum in diplomatibus et codicibus, Göttingen 1745–1747, Nachdruck Olms, Hildesheim 2006, ISBN 978-3-487-04574-0.

Einzelnachweise

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  1. Gabriele Landwehr und Peter Dinzelbacher: Abbreviatur. In: Peter Dinzelbacher (Hrsg.): Sachwörterbuch der Mediävistik (= Kröners Taschenausgabe. Band 477). Kröner, Stuttgart 1992, ISBN 3-520-47701-7, S. 1.
  2. Vgl. A. H. Paap: Nomina Sacra in the Greek Papyri of the first five centuries A. D., the Sources and Some Deductions, Papyrologica Lugduno Batava 8, Brill, Leiden 1959. Zum Vorstehenden auch Pascal Ladner: Abkürzungen. In: Lexikon des Mittelalters (LexMA). Band 1. Artemis & Winkler, München/Zürich 1980, ISBN 3-7608-8901-8, Sp. 41–43.
  3. Jürgen Römer: Geschichte der Kürzungen, Abbreviaturen in deutschsprachigen Texten des Mittelalters und der früher Neuzeit, Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Göppingen 1997.
  4. a b Cappelli: Lexicon abbreviaturarum, 2. A., S. ix
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