Anticholinergikum

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 10. Mai 2016 um 09:39 Uhr durch RonMeier (Diskussion | Beiträge) (Kleinkram). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Ein Anticholinergikum (Plural: Anticholinergika, syn.: Parasympath(ic)olytikum, Muskarin-Rezeptor-Antagonist, Antiparasympathomimetikum oder Antimuskarinikum) ist ein Wirkstoff, der die Wirkung von Acetylcholin (ACh) im parasympathischen Nervensystem unterdrückt, indem er den Muscarin-Rezeptor kompetitiv hemmt. Damit werden die Nervenreize, die zu einer Kontraktion der glatten Muskulatur und zur Sekretionsteigerung der Drüsen führen, unterbrochen.

Wirkung

Das parasympathische und sympathische Nervensystem sind in ihrer Wirkung Gegenspieler zueinander. Deshalb ähnelt die Wirkung der Anticholinergika derjenigen der Sympathomimetika. Im Einzelnen haben Anticholinergika folgende Wirkungen:

  • Abnahme des Tonus der glatten Muskulatur des Magendarmtraktes, der ableitenden Harnwege und der Bronchialmuskulatur,
  • Zunahme der Herzfrequenz,
  • Steigerung des peripheren Gefäßwiderstands,
  • Unterdrückung der Speichel-, Magensaft-, Bronchial- und Schweißsekretion,
  • im Auge die Erweiterung der Pupille und
  • Akkommodation des Auges auf die Ferne.

Allgemein werden Stoffe mit atropinartiger Wirkung als Anticholinergika oder Parasympatholytika bezeichnet.

Wirkstoffe und Verwendung

Anticholinergika werden am häufigsten als Standardtherapie bei der überaktiven Blase (Overactive bladder, OAB) eingesetzt und werden wegen ihrer entspannenden Wirkung auf die glatte Muskulatur (M3-Cholino-Rezeptor) zur Behandlung der Krankheitsbilder Harninkontinenz und Dranginkontinenz sowie einer erhöhten Miktionshäufigkeit verwendet. In den Leitlinien nationaler und internationaler Fachgesellschaften werden alle Substanzen als wirksam und verträglich beurteilt.[1] Durch eine Reduktion der Kontraktilität des Blasenmuskels (lat. Detrusor) kommt es zu einer Besserung der Beschwerden, die aus häufigem Wasserlassen bei Tag und in der Nacht (Pollakisurie und Nykturie), quälendem Harndrang und Urinverlust mit Harndrang bestehen. Ein weiteres Anwendungsfeld ist die adjuvante Behandlung beim Morbus Parkinson. Die Anticholinergika werden aufgrund ihrer Wirkung in zwei Gruppen eingeteilt, die neurotrop wirkenden und diejenigen, die sowohl neurotrop als auch muskulotrop wirken. Die nur neurotrop wirkenden Anticholinergika können noch einmal aus chemischer Sicht in Belladonna-Alkaloide und Verwandte und sonstige, die keine Verwandtschaft zeigen, unterteilt werden.

Belladonna-Alkaloide und Verwandte

Das bekannteste Anticholinergikum dieser Gruppe ist das Atropin, ein Alkaloid, das in der Tollkirsche (Atropa belladonna) enthalten ist. Es wird in der Augenheilkunde als Mydriatikum und bei Koliken der Gallen- und Harnwege sowie in der Gastroenterologie bei Magen-Darm-Krämpfen verwendet. Inzwischen hat Butylscopolamin bei diesem Einsatzgebiet das Atropin weitgehend verdrängt. Ipratropiumbromid, Glycopyrronium, Aclidinium und Tiotropiumbromid werden in der Medizin als bronchialerweiternde Wirkstoffe bei chronisch-obstruktiven Lungenerkrankungen (COPD) eingesetzt. Trospiumchlorid wird bei überaktiver Blase eingesetzt. Da es kaum abgebaut, sondern weitgehend unverändert über den Urin ausgeschieden wird, bedeutet dies einen Zugriff auf das Zielorgan nicht nur über den Blutweg, sondern auch auf direktem Weg über die Blasenschleimhaut, die gewebsständige Acetylcholinrezeptoren enthält.[2] Scopolamin wird in Form von Pflastern (TTS), die hinter das Ohr geklebt werden, gegen Übelkeit verwendet.

Anticholinergika ohne Ähnlichkeit zu Belladonna-Alkaloiden

Tolterodin, Darifenacin und Solifenacin gehören zu den Anticholinergika, die wegen ihrer entspannenden Wirkung auf die glatte Muskulatur zur Behandlung der Harninkontinenz, der Dranginkontinenz sowie einer erhöhten Miktionshäufigkeit eingesetzt werden. Die letzten beiden Wirkstoffe, die erst kürzlich in den Handel kamen, sollen eine besonders hohe Selektivität zu den M3-Cholin-Rezeptoren besitzen, was sich jedoch nicht in Form einer dadurch verbesserten Verträglichkeit auswirkte. Glycopyrroniumbromid wird in der Narkoseeinleitung eingesetzt, um den Speichelfluss und die Sekretion des Bronchialsystems herabzusetzen sowie Bradykardien zu blockieren. Das Tropicamid hat das Atropin in der Augenheilkunde als Mydratikum weitestgehend abgelöst, da es eine kürzere Wirkdauer besitzt. Biperiden, Metixen und Trihexyphenidyl kommen beim Morbus Parkinson zur Anwendung.

Neurotrop-muskulotrop wirkende Anticholinergika

Diese Anticholinergika, haben sowohl eine anticholinerge als auch eine papaverinartige direkt spasmolytische Wirkung auf die glatte Muskulatur. Hierzu gehören Oxybutynin und Propiverin, die für die Behandlung der überaktiven Blase oder Harndranginkontinenz zugelassen sind. Denaverin wird bei Spasmen des Gastrointestinaltraktes und Urogenitaltraktes verwendet und Mebeverin bei irritablem Kolon. Bei Spasmen im Magen-Darm-Trakt kommt auch Pipenzolat zum Einsatz, Orphenadrin gegen Skelettmuskelspasmen.

Unerwünschte Wirkungen

Die häufigste Nebenwirkung stellt bei allen Substanzen Mundtrockenheit dar, deren Häufigkeit in Studien 30 % erreicht. Alle Substanzen gehören entweder zu der Gruppe der sog. tertiären Amine oder aber zu den quartären Ammoniumverbindungen. Quartäre Ammoniumionen besitzen eine positive Ladung und verhalten sich damit im Gegensatz zu den tertiären Aminen, die als lipophil zu bezeichnen sind, hydrophil. Da lipophile Substanzen durch die Blut-Hirn-Schranke hindurch in den Liquorraum gelangen können, sind hier zentralnervöse Nebenwirkungen wie Schlafstörungen, Gedächtnisstörungen, Halluzinationen oder Verwirrtheitszustände möglich.[3][4][5] Quartäre Ammoniumverbindungen als hydrophile Substanzen mit positiver Ladung können die Blut-Hirn-Schranke nicht in nennenswertem Umfang überwinden; auch ihre Resorption aus dem Magen-Darm-Trakt ist deutlich geringer als bei den tertiären Aminen.[6]

Die für den Abbau der Wirkstoffe verantwortlichen Leberenzyme (Zytochrome) können durch eine Vielzahl von Substanzen in ihrer Aktivität beschleunigt oder gehemmt werden. Bei gleichzeitiger Einnahme in Kombination mit anderen Medikamenten ist damit eine Wirkverstärkung oder ein Wirkverlust möglich.[7][8][9]

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. P. Abrams, L. Cardozo, S. Khouri, A. Wein: Pharmacological treatment of urinary incontinence. 3rd International Consultation on Incontinence. Edition 2005, S. 822–826.
  2. K. J. Mansfield, K. Vaux, R. J. Millard, E. Burcher: Comparison of receptor binding characteristics of commonly used muscarinic antagonists in human bladder detrusor and mucosa. ICS, Montreal 2005.
  3. M. E. Valsecia, L. A. Malgor, J. H. Espindola, D. H. Carauni: New adverse effect of Oxybutynin: „night terror“. In: Ann Pharmacother. 32, 1998, S. 506.
  4. K. B. Womack, K. M. Heilman: Tolterodine and memory: dry but forgetful. In: Arch Neurol. 60; (203): 771-773
  5. J. W. Tsao, K. M. Heilman: Transient memory impairment and hallucinations associated with tolterodine use. In: N Engl J Med. 349, 2003, S. 2274–2275.
  6. Mutschler: Arzneimittelwirkungen. 9. Auflage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2008.
  7. N. Brynne, C. Svanström, A. Aberg-Wistedt, B. Hallen, L. Bertilsson: Fluoxetine inhibits the metabolism of tolterodine - pharmacokinetic implications and proposed clinical relevance. In: J Clin Pharmacol. 48, 1999, S. 553–563.
  8. N. Brynne, C. Forslund, B. Hallen, L. L. Gustafsson, L. Bertilsson: Ketocanazole inhibits the metabolism of tolterodine in subjects sith deficient CYP2D6 activity. In: J Clin Pharmacol. 48, 1999, S. 564–572.
  9. V. J. Colucci, M. P. Rivey: Tolterodine-Warfarin drug interaction. In: Ann Pharmacoth. 33, 1999, S. 1173–1176.