Cleavage-Theorie

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 4. Februar 2016 um 18:11 Uhr durch 2001:4c80:40:4ec:92b1:1cff:fe8f:2555 (Diskussion) (Zusätzliche Quelle Politics and Society in western europe. häufig in Literatur zitiert, gute übersicht, aber in englisch). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Die Cleavage-Theorie (englisch cleavage: ‚Kluft‘, ‚Spaltung‘) ist eine politikwissenschaftliche Theorie in der Wahlforschung, die versucht, Wahlergebnisse sowie die Entwicklung von Parteisystemen in europäischen Staaten anhand langfristiger Konfliktlinien innerhalb der Gesellschaft zu erklären.

Die Theorie wurde 1967 von den beiden Politikwissenschaftlern Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan entwickelt. Ihr Ansatz ist eine der wichtigsten Theorien zur Erklärung der Herausbildung und Dauerhaftigkeit nationaler Parteiensysteme. Aufgrund der politischen Umbrüche in den letzten dreißig Jahren (Aufkommen der Umweltbewegung, Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten, Erstarken der Neuen Rechten etc.) setzt sich in der Politikwissenschaft allerdings zunehmend die Ansicht durch, dass traditionelle Konfliktlinien in westlichen Industriegesellschaften an Bedeutung verlieren und mithin die Erklärungskraft der Cleavage-Theorie abnimmt.

Theoretischer Ansatz

Gesellschaftliche Konfliktlinien nach Lipset und Rokkan (1967).

Der Cleavage-Theorie liegt die Annahme zugrunde, dass es nicht einfach zwei Gruppen von Befürwortern und Gegnern politischer Entscheidungen gibt, sondern eine mehr oder weniger kontinuierliche Anordnung der Wähler auf einer Policy-Dimension, der sich auch die Positionen von Parteien zuordnen lassen. Der einzelne entscheidet sich bei Wahlen für diejenige Partei, deren Politikangebote seinem Idealpunkt am nächsten sind. Dementsprechend ist eine Konfliktlinie die rechtwinklig zur Policy-Dimension verlaufende Linie, welche die Befürworter und Gegner bei einer konkreten Abstimmung trennt. Dauerhafte Konfliktlinien liegen dann vor, wenn die betreffenden Policy-Dimensionen wiederholt für konkrete Entscheidungen relevant sind und wenn die Wähler immer wieder in die gleichen Gruppen von Befürwortern und Gegnern zerfallen.[1]

Lipset und Rokkan (1967) zufolge entwickelten sich die europäischen Parteiensysteme im ausgehenden 19. Jahrhundert anhand vier grundsätzlicher Konfliktlinien. Die Konfliktlinien sind dauerhaft und spiegeln Interessen- oder Wertkonflikte verschiedener organisierter sozialer Gruppen wider. Die Organisationen dieser sozialen Gruppen bauten Verbindungen zu bestimmten politischen Entscheidungsträgern auf, wobei aus diesen Verbindungen langfristig die politischen Parteien hervorgingen:

Kapital gegen Arbeit
Entstand im Laufe des Industrialisierungsprozesses (Industriekonflikt).
Kirche gegen Staat
Entstand durch die Säkularisierung und den Konflikt über die Kontrolle der Schulbildung, Gesetz über die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich 1905 und den Kulturkampf in Deutschland in den 1870er Jahren (Kulturkonflikt).
Stadt gegen Land
Entstand ebenfalls im Industrialisierungsprozess, Konfliktlinie verläuft zwischen dem primären und sekundären Wirtschaftssektor.
Zentrum gegen Peripherie
Entstand durch den Reformationskonflikt während der Nationalstaatsbildung zwischen autonomen regionalen und zentral-nationalen Entscheidungsinstanzen.

Der Cleavage-Ansatz ist ein erfolgreiches Instrument, um die Entstehung der Parteisysteme in den europäischen Industriestaaten zu erklären. In einer Phase großer Stabilität der Mehrheitsverhältnisse der Parteien in den demokratischen Staaten besaß er eine hohe Erklärungskraft. Seit den 1980er Jahren lässt sich allerdings ein Umbruch in den Parteiensystemen verzeichnen, wobei die langfristige Bindung an bestimmte Parteien empirisch nachweisbar immer geringer wird. Dies sind Effekte, die sich mit der Cleavage-Theorie nur schwer in Übereinstimmung bringen lassen. Ebenfalls lassen sich mit der Cleavage-Theorie nicht die sinkenden Wahlbeteiligungen sowie Protestwahlverhalten erklären. Rechtspopulistische oder ökologische Parteien fallen genauso aus dem Erklärungsrahmen.

In der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft waren der Theorie zufolge die beiden Konfliktlinien Staat gegen Kirche und Arbeit gegen Kapital prägend. Im Konflikt zwischen Staat und Kirche ging es insbesondere um die Frage, welche von beiden Institutionen die Deutungshoheit in der Schulbildung besaß. Während die Unionsparteien und vor allem die Deutsche Zentrumspartei religiös gebundene Konfessionsschulen bevorzugten, waren SPD, FDP und KPD für staatliche und religiös unabhängige Schulen. Schlussendlich setzte sich die Trennung von Staat und Kirche weitgehend durch, auch wenn einzelne Konfessionsschulen bis heute erhalten blieben.

Die FDP und die CDU vertraten hingegen ähnliche Ansichten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, während die SPD (und bis zu ihrem Verbot auch die KPD) sich, besonders in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, als reine Partei der Arbeiter verstand. Das Zentrum war diesbezüglich gespalten. Das wirtschafts- und sozialpolitische Modell der „bürgerlichen“ Parteien, die soziale Marktwirtschaft, verdrängte die sozialistischen Ideen größtenteils. Dies erkannte die SPD im Godesberger Programm von 1959 weitgehend an.

Mit dem Aufkommen der Grünen in den 1980ern entwickelte sich eine neue Konfliktlinie zwischen den so genannten postmateriellen Werten und den klassischen politischen Werten. Wenn auch abgeschwächt, sind diese Konfliktlinien auch in der heutigen politischen Diskussion noch klar erkennbar, u. a. bei der Reform der Sozialsysteme (Kapital gegen Arbeit), der Föderalismusreform und der Dezentralisierungspolitik in Frankreich, Italien und Großbritannien (Zentrum gegen Peripherie) oder im Umgang mit der religiösen Konfrontation mit dem Islam (Kirche gegen Staat).

Siehe auch

Literatur

  • Tilo Görl: Klassengebundene Cleavage-Strukturen in Ost- und Westdeutschland. Eine empirische Untersuchung (= Studien zur Wahl- und Einstellungsforschung. Band 2). Nomos, Baden-Baden 2007, ISBN 3-8329-2090-0.
  • Seymour Martin Lipset, Stein Rokkan: Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments. An Introduction. In: Dies. (Hrsg.): Party Systems and Voter Alignments. Cross-National Perspectives. Free Press, New York 1967, S. 1–64 (PDF; 6,8 MB).
  • Gerd Mielke: Gesellschaftliche Konflikte und ihre Repräsentation im deutschen Parteiensystem − Anmerkungen zum Cleavage-Modell von Lipset und Rokkan. In: Ulrich Eith, Ders. (Hrsg.): Gesellschaftliche Konflikte und Parteiensysteme. Länder- und Regionalstudien. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2001, ISBN 3-531-13485-X, S. 77−95.
  • Franz Urban Pappi: Cleavage. In: Dieter Nohlen, Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe. Band 1 (A−M). 3. Auflage. Beck, München 2005, ISBN 3-406-54116-X, S. 104−106.
  • Lane, Erik Savante, Ersson:Politics and Society in Western Europe. London 1994. S.37-75

Einzelnachweise

  1. Vgl. Pappi: Cleavage. S. 104 f.