Das Mädchen ohne Hände

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Das Mädchen ohne Hände ist ein Märchen (ATU 706, 930). Es steht in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm an Stelle 31 (KHM 31). In der 1. Auflage lautete der Titel Mädchen ohne Hände.

Inhalt

Ein armer Müller begegnet im Wald dem Teufel in der Gestalt eines alten Mannes, der ihm verspricht, ihn reich zu machen im Tausch gegen das, was hinter seiner Mühle steht. Er denkt, das wäre sein Apfelbaum, aber es ist seine Tochter, die dort fegte. Nach drei Jahren kommt der Teufel sie holen, doch die Fromme hat sich rein gewaschen, sodass der Teufel sie nicht mit sich nehmen kann. Als ihr Vater ihr das Wasser wegnimmt, weint sie auf ihre Hände. Der Vater, vom Teufel eingeschüchtert, schlägt sie ihr ab, doch sie weint auf die Stümpfe, und der Teufel muss aufgeben. Ihr Vater bietet an, sie zu versorgen, doch sie wandert fort und kommt zu des Königs Garten, wo sie sich von Äpfeln ernährt. Der Königssohn, statt sie dafür zu verbannen, lässt sie die Hühner hüten. Er gewinnt sie lieb und heiratet sie, worauf sein Vater stirbt. Sie bekommt einen Sohn, während ihr Mann im Krieg ist. Der Teufel vertauscht ihre Briefe, sodass sie von der alten, getäuschten Königinmutter mit dem Kind verbannt wird. Im Wald begegnet ihr ein Mann, der sie die Arme um einen Baum schlingen lässt, dass die Hände wieder anwachsen, und sie in einem Haus warten lässt, bis jemand dreimal in Gottes Namen um Einlass bittet. Ihr Mann kommt mit einem Diener, der das Licht sieht und rasten will. Der König bittet dreimal in Gottes Namen. Sie macht auf, er erkennt sie und alle gehen heim.

Grimms Anmerkung

Das Märchen stand in der 1. Auflage von 1812 nach einer Quelle aus Hessen (Marie Hassenpflug), von der nur der weniger drastische Anfang und das Briefevertauschen durch den Teufel blieb. Dort muss das Mädchen vor der Heirat eine Zeitlang die Hühner hüten, und die Glieder wachsen nach, nachdem ein Alter im Wald sie die Hände um einen Baum schlingen lässt.

Ab der 2. Auflage beruht der Text sonst auf einer Version aus Zwehrn (von Dorothea Viehmann). Sie begann so, dass der Vater seine Tochter heiraten wollte, und als sie sich weigerte, ihr Hände und Brüste abschnitt und sie in einem weißen Hemd fortjagte. Die Briefe vertauscht hier die Schwiegermutter.

Eine dritte Variante aus dem Paderbörnischen ist wie die aus Zwehren. Statt des Engels leitet ein Licht vom Himmel das Mädchen. Es sieht im Wald ein blindes Mäuschen, das den Kopf in ein Wasser hält und so wieder sehend wird, und heilt so seine Hände.

In einer vierten Erzählung aus dem Meklenburgischen schneidet der Vater der Tochter die Zunge, dann die Hand, dann den Arm ab, weil sie immer betet und das Kreuz schlägt. Auf den Rat eines Mannes zieht die Siebenjährige deshalb fort und kommt bei einem Jäger im Stall mit des Grafen Hunden unter. Der Graf nimmt sie an den Hof, wo sie einem Bettler begegnet, der ihr für ihr Almosen einen Stab gibt. Damit wandert sie bis zu einem Wasser, in dem ihr Zunge und Arm geschwommen kommen und anwachsen. Sie geht zurück und heiratet den Grafen.

In einem hessischen Erzählfragment wird die Mutter mit zwei Kindern verstoßen, wobei ihr zwei Finger abgehauen werden, die die Kinder tragen. Sie werden von Tieren geraubt und zu Küchenjungen, die Mutter Waschfrau. Die Brüder Grimm bemerken, dass mittelalterliche Sagen wie Mai und Beaflor oder Die schöne Helena offenbar vollständig aus diesem Märchen stammen. Sie nennen weitere Literaturstellen: Zingerle S. 124, KHM 60 Die zwei Brüder, Pröhles Kindermärchen Nr. 36, Basiles Pentameron III,2 Penta Ohne-Hände, serbisch bei Wuk Nr. 27 und 33, finnisch bei Rudbeck 1, 140, eine altdeutsche Sage von einem König, der eine Frau haben will, die seiner Tochter gleiche, ein schwedisches Lied (Geyer 3).

Herkunft

Der im Eingangsteil besonders variable Märchentyp AaTh 706 kann als Untertyp des Constanze-Zyklus gesehen werden, den der Inzestversuch des Vaters verbindet. Dessen ältester Beleg ist Matthaeus Parisiensis' Vita Offae primi, ein Mädchen ohne Hände kommt erstmals in Philippe de Beaumanoirs La Manekine (beide 13. Jahrhundert) vor. Als Vorläufer wurden Marienmirakel oder orientalische Einflüsse vermutet.

Interpretation

Eugen Drewermann erklärt die orale Persönlichkeitsentwicklung und tiefe Depressionsneigung der Tochter: Durch das Verhalten des Vaters, der in der Not sein Kind wie einen Apfelbaum ausbeutet, gewöhnt sie sich an extreme Verantwortung für beider Seelenheil. Damit korrespondieren umgekehrt passive Versorgungsphantasien und eine Rastlosigkeit in einer traumhaft erlebten Welt, in einem umgekehrten Sündenfall lernt sie die Erlaubtheit des Verbotenen. Die Großzügigkeit des Königs muss ihr nach dem Vater göttlich vorkommen, erzeugt aber Schuldgefühle und Missverständnisse, als lebten sie in entfernten Ländern und der Teufel verdrehe jedes Wort. In Einsamkeit reift die Erkenntnis, dass keine menschliche, sondern nur Gottes Gnade unschuldig leben lässt. Das christliche Märchen verwendet Bilder, die ursprünglich aus der Mondmythologie stammen.

Auch der Psychotherapeut Jobst Finke sieht die Verstümmelung als Symbol seelischer Traumatisierung.[1] Der Homöopath Martin Bomhardt vergleicht das Märchen mit Argentum (Silber),[2] Edith Helene Dörre mit der Heilkraft des Jaspis.[3]

Vergleiche

KHM 65 Allerleirauh, KHM 179 Die Gänsehirtin am Brunnen. Die Handlung ähnelt in Giambattista Basiles Pentameron III,2 Penta Ohne-Hände.

Rezeption

Die Biographie von Mariatu Kamara trägt den Titel Das Mädchen ohne Hände, weil Rebellen im Bürgerkrieg in Sierra Leone ihr beide Hände abhackten.

Literatur

  • Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen. Hrsg.: Henz Rölleke. 1. Auflage. Band 3: Originalanmerkungen, Herkunftsnachweise, Nachwort. Reclam, Stuttgart 1980, ISBN 3-15-003193-1, S. 69–72, 455–456.
  • Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Entstehung, Wirkung, Interpretation. De Gruyter, Berlin / New York 2008, ISBN 978-3-11-019441-8, S. 81–83.
  • Köhler-Zülch, Ines: Mädchen ohne Hände. In: Enzyklopädie des Märchens. Band 8. S. 1375–1387. Berlin, New York, 1996.
  • Walter Scherf: Das Märchenlexikon. Beck, München 1995, ISBN 3-406-39911-8, S. 800–807.
  • Eugen Drewermann, Ingritt Neuhaus (Illustrationen), Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Das Mädchen ohne Hände. Märchen Nr. 31 aus der Grimmschen Sammlung. Walter, Olten 1981, ISBN 3-530-16860-2 (Der Band beinhaltet auf 48 Seiten einen mit der Hand geschriebenen Text des Märchens, zwölf Batikbilder (Neuhaus) und eine tiefenpsychologische Deutung mit Anmerkungen (Drewermann)).
  • Eugen Drewermann, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Lieb Schwesterlein, lass mich herein. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet. dtv, München 1992, ISBN 3-423-35050-4, S. 23–41.

Weblinks

Wikisource: Das Mädchen ohne Hände – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

  1. Jobst Finke: Träume, Märchen, Imaginationen. Personzentrierte Psychotherapie und Beratung mit Bildern und Symbolen. Reinhardt, München 2013, ISBN 978-3-497-02371-4, S. 210-211, 212.
  2. Martin Bomhardt: Symbolische Materia medica. 3. Auflage. Verlag Homöopathie + Symbol, Berlin 1999, ISBN 3-9804662-3-X, S. 135.
  3. Edith Helene Dörre: Das Edelsteinfundament. Ein homöopathischer Entwicklungsweg durch 13 Edelsteine und Märchen. Novalis, Schaffhausen 2007, ISBN 978-3-907160-66-4, S. 539-586.