Disambiguierung

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Disambiguierung (von lateinisch dis- ‚zer‘-, ‚un-‘, ‚auseinander‘ und ambiguus ‚doppeldeutig‘) oder Begriffsklärung wird in der Sprachwissenschaft die Auflösung sprachlicher Mehrdeutigkeiten genannt.

Allgemein

Begriffe und Ausdrücke sind selten eindeutig. Sie haben meist mehrere Bedeutungen, die nur in einem bestimmten Kontext sofort klar sind. Der Leser oder Hörer eines Textes hat bei fehlenden Kontextangaben verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. So kann ein Band ein Buch sein, ein Buch aus einer Reihe von Büchern oder auch ein Kleidungsstück oder ein Verpackungsmaterial. In der Sprachwissenschaft werden vor diesem Hintergrund Verfahren entwickelt, die Ausdrücke für das Verständnis eindeutiger machen sollen. Ein solches Verfahren wird Disambiguierung genannt. In der Sprachwissenschaft werden dabei nicht nur einzelne Zeichen, Wörter und Begriffe auf ihre Mehrdeutigkeit untersucht, sondern auch einzelne Sätze und ganze Texte, aber auch Gestiken und Mimiken. Die Faktoren der Mehrdeutigkeit können dabei auch mit dem Medium – also z. B. in Textform eines Zeitungsartikels, als Nachrichtentext im Radio, als Rede eines Politikers im Fernsehen – zusammenhängen. Je komplexer der untersuchte Gegenstand z. B. in seiner Ausdrucksformen oder seinen Lesarten ist, umso komplexer werden unter Umständen die Mehrdeutigkeiten. So kann es sich nicht nur um einen austauschbaren und variierbaren Begriff handeln, bei dem sich der Sprecher entscheidet, ob er Weide, Wiese oder Grünfläche für das verwendet, was er betrachtet, sondern um komplexe Formen der Bedeutung wie Poesie, Mythos und Ideologie. Hier müssen zur Disambiguierung dann oft nicht nur eine Anzahl nebeneinander liegende Bedeutungen unterscheidbar gemacht werden, sondern häufige ganze Bedeutungsschichten.

Beispiele für Mehrdeutigkeiten

Mythos Rose

Roland Barthes erläutert am Beispiel der Rose eine Dreiteiligkeit des Begriffes Rose: „Man denke an einen Rosenstrauß: ich lasse ihn meine Leidenschaft bedeuten. Gibt es hier nicht doch nur ein Bedeutendes und ein Bedeutetes, die Rose und meine Leidenschaft? Nicht einmal das, in Wahrheit gibt es hier nur die ‚verleidenschaftlichten‘ Rosen. Aber im Bereich der Analyse gibt es sehr wohl drei Begriffe, denn diese mit Leidenschaft besetzten Rosen lassen sich durchaus und zu Recht in Rosen und Leidenschaft zerlegen. Die einen ebenso wie die andere existierten, bevor sie sich verbanden und dieses dritte Objekt, das Zeichen, bildeten. Sowenig ich im Bereich des Erlebens die Rosen von der Botschaft trennen kann, die sie tragen, so wenig kann ich im Bereich der Analyse die Rosen als Bedeutende den Rosen als Zeichen gleichsetzen: das Bedeutende ist leer, das Zeichen ist erfüllt, es ist ein Sinn.“[1]

Roland Barthes liefert hier einen sprachtheoretischen bzw. semiotischen Hintergrund, der die verschiedenen Elemente des Ausdrucks Rosenstrauß – das Bedeutende (Rosenstrauß), das Bedeutete (Leidenschaft) und das Zeichen (die ‚verleidenschaftlichten‘ Rosen) – als Begrifflichkeiten für die semiotische Analyse herausstreicht. Das Problem der Verdeutlichung kann so befragt werden: Wann ist ein Rosenstrauß lediglich ein Blumengebinde? Wann ist ein Rosenstrauß ein Ausdruck für eine Liebesbekundung? Im letzten Fall handelt es sich dann um einen Mythos oder um eine mythische Aussage.

Möchte jemand mit einem Rosenstrauß ihre Leidenschaft ihrem Geliebten bekunden, so hat der Rosenstrauß für die Anbetende einen Sinn – Nach dem Motto, das ist Liebe. Für den Angebeteten kann die Möglichkeit bestehen, dass der Rosenstrauß für ihn keinen Sinn hat, jedenfalls nicht unbedingt den Sinn, ihn als Zeichen einer Liebesbekundung empfangen zu haben. Der Rosenstrauß kann für ihn einen gänzlich anderen Sinn haben oder ein anderes Zeichen darstellen. Das geschieht in dem Fall, wenn er das Zeichen seiner Geliebten missversteht. So könnte er den Strauß als eine Aufforderung verstehen, seine Mutter zu besuchen, oder als einen Einkaufsgegenstand, den er unter Umständen widerwillig auf seinen Schreibtisch wiederfindet. Die Leistung der Disambiguierung wäre hier, die Verständigung zwischen Liebender und Geliebten eindeutig zu gestalten. Die Sprachwissenschaft kann hier nach den Gründen des Missverständnisses fragen. Eine Begründung können festgelegte gesellschaftliche Normen sein. So kann es in einer Gesellschaft ungewöhnlich sein, dass eine Frau einem Mann Blumen als Zeichen ihrer Gefühle schenkt.

Abhängigkeit der Bedeutung nach der Uhrzeit

Ob der Satz „Lassen Sie uns zusammen Essen gehen“ mit „Let’s have lunch together“ oder als „Let’s have dinner together“ übersetzt werden soll, hängt von der Uhrzeit ab. Bei Übersetzungsprogrammen wie dem Programm VERBMOBIL wird dabei auch die Uhrzeit des PC-Systems berücksichtigt und entsprechend alternativ übersetzt: um 13h mit lunch, um 17h mit dinner.[2]

Verdeutlichungskriterien

Die Komplexität von Sprache hat Auswirkungen auf die Auswahl der Kriterien, nach denen Bedeutungen unterschieden werden. So kann keine allgemeine Formel angewandt werden – zum Beispiel kein universeller Disambiguierungsalgorithmus. Stattdessen wird wie in der Sprachtechnologie als eine Methode von verschiedenen Methoden nach Evidenzen geforscht, die aus den einzelnen "Wissensquellen" erschlossen werden. Dabei werden auch miteinander konkurrierende Interpretationen in Beziehung gesetzt.[3] Auch eine bessere und umfangreichere Eingabe von Informationen kann die Auswahl der Bedeutung erleichtern. Bei der Spracherkennung können zusätzlich zu den akustischen Informationen Videoaufnahmen als Informationsquelle genutzt werden. Die sogenannte "Multimodalität" wird dabei durch das Lippenlesen verbessert.[4]

Wechselseitige Disambiguierung

Speziell in der Sprachtechnologie können nicht nur durch Spracherkennung und Lippenlesen, sondern auch durch Gestikerkennung, Mimikerkennung und Prosodieerkennung verschiedene Informationen miteinander fusioniert werden, um dann dem Prozess der "Referenzauflösung und Disambiguierung" zugeführt zu werden. Als Ergebnis dieser wechselseitigen Disambiguierung liefert diese Technologie eine Repräsentation der Bedeutung aus verschiedenen Arten und Weisen der Informationsaufnahme und den anschließenden Verfahren der Disambiguierung.[5]

Anwendungsfelder

In der Lexikologie wird dieses Verfahren bei der Strukturierungen des Wortschatzes angewandt.[6][7] In der Semiotik werden Mehrdeutigkeiten nicht nur in der Syntax, Semantik, Pragmatik eines Textes untersucht, sondern vor allem auf der Ebene der Zeichen und Symbole. In den Kommunikationswissenschaften wird die Fähigkeit zur Differenzierung von Bedeutungen als ein Kompetenzmerkmal betrachtet.[8] Konkrete Anwendung der Forschungsergebnisse zur Disambiguierung finden sich auch in der Entwicklung von Sprachprogrammen und Übersetzungsprogrammen.

Lexikologie

Äquivokation, Homonymie und Polysemie

Hier werden sprachliche Mehrdeutigkeiten durch ausdrückliche Zuordnung und alternative Möglichkeiten der sprachlichen Zuordnung aufgehoben. So existieren zu dem Ausdruck Behausung die Alternativen Villa, Wohnung, Hütte und eine Vielzahl weiterer Ausdrücke. Mehrdeutige Ausdrücke, in der Lexikologie mehrdeutige Lexeme genannt, lassen sich in Polyseme und Homonyme unterscheiden.

Ein Verfahren der Begriffsklärung (oder Disambiguierung) ist im Falle einer Homonymie, die unterschiedliche Betonung eines Begriffes hervorzuheben. Das trifft zum Beispiel auf den Ausdruck modern zu. modern kann je nach Betonung unterschieden werden in modern mit der Betonung wie in dem Satz Müll, der vor sich hin modert oder in modern wie in dem Satz Sie liebt es, sich modern zu kleiden. Der Fachausdruck für eine sich hier überschneidende Bedeutung bei modern lautet unverträgliche Lexemverbindungen. Bei dem Beispiel modern kann nicht nur die Betonung als Mittel der Disambiguierung bei unverträglichen Lexemverbindungen angewendet werden, sondern auch die Methode des expliziten Ausformulierens. So kann der Ausdruck „Fabrik“ unterschiedliche Bedeutungen aufzeigen, wenn wie folgt ausformuliert wird: a) „Mutter geht um 6 Uhr in die Fabrik“ (Fabrik = die Arbeitsstätte) b) „Die Fabrik streikt“ (Fabrik = die Arbeiter und Arbeiterinnen). In diesem Fall handelt es sich um das Problem der Polysemie. Das Problem im Fall des Ausdrucks „Fabrik“ ist hier auch kein sprachliches, das durch die Betonung gelöst werden kann, sondern es ist ein strukturelles. Strukturelle Mehrdeutigkeiten verweisen auf eine unterschiedliche Tiefenstruktur.

Auf lexikalischer Ebene dient der Ausschluss unverträglicher Lexemverbindungen der Disambiguierung. Nach Lewandowski ist das Ziel der Disambiguierung einen Ausdruck in seiner Sprecherintention verständlicher zu machen. Der Ausdruck wird dabei in Beziehung gesetzt zu seinem Kontext, dem kommunikativen Zusammenhang, der Kommunikationssituation und seiner „Referenzbeziehung“ beziehungsweise dem „Denotatswissen“ bzw. „Weltwissen“.[9]

Vergleichbare Bezeichnungen

Je nach dem Arbeitsfeld, der Theorie oder der Schule in der Semiotik und der Sprachwissenschaft finden sich vergleichbare Bezeichnungen. Dazu zählen die Begriffe Eindeutigmachung,[10] Vereindeutigung, Entambiguisierung[11] und Monosemierung.[12]

Siehe auch

Wiktionary: Disambiguierung – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Roland Barthes: Die große Familie der Menschen. In: Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964. Seite 90 f.
  2. Wolfgang Wahlster: Disambiguierung durch Wissensfusion: Grundprinzipien der Sprachtechnologie. In: KI – Künstliche Intelligenz, Heft 1, 2002 (PDF)
  3. Wolfgang Wahlster: Disambiguierung durch Wissensfusion: Grundprinzipien der Sprachtechnologie. In: KI – Künstliche Intelligenz, Heft 1, 2002 (PDF) Seite 1
  4. Wolfgang Wahlster: Disambiguierung durch Wissensfusion: Grundprinzipien der Sprachtechnologie. In: KI – Künstliche Intelligenz, Heft 1, 2002 (PDF) Seite 3
  5. Wolfgang Wahlster: Disambiguierung durch Wissensfusion: Grundprinzipien der Sprachtechnologie. In: KI – Künstliche Intelligenz, Heft 1, 2002 (PDF) Seite 3
  6. Vgl. auch: Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, 3. Aufl. (2002), ISBN 3-520-45203-0/Disambiguierung
  7. Vgl. auch: Lewandowski, Th.: Linguistisches Wörterbuch. Heidelberg: Quelle & Meyer, 1973, Bd. I, S. 152, zitiert nach http://culturitalia.uibk.ac.at/hispanoteca/Lexikon%20der%20Linguistik/d/DISAMBIGUIERUNG.htm
  8. siehe dazu auch: sprachlichen Kompetenz (Chomsky)
  9. Lewandowski, Th.: Linguistisches Wörterbuch. Heidelberg: Quelle & Meyer, Vorlage:Datum – die Form mit drei unbenannten Parametern oder anderen einzelnen Zeiteinheiten ist veraltet und wird nicht mehr unterstützt. Bitte gib das Datum einfach im Klartext an., Bd. I, S. 152, zitiert nach http://culturitalia.uibk.ac.at/hispanoteca/Lexikon%20der%20Linguistik/d/DISAMBIGUIERUNG.htm
  10. Pelz, Linguistik (Vorlage:Datum – die Form mit drei unbenannten Parametern oder anderen einzelnen Zeiteinheiten ist veraltet und wird nicht mehr unterstützt. Bitte gib das Datum einfach im Klartext an.), S. 206
  11. Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft, 3. Aufl. (Vorlage:Datum – die Form mit drei unbenannten Parametern oder anderen einzelnen Zeiteinheiten ist veraltet und wird nicht mehr unterstützt. Bitte gib das Datum einfach im Klartext an.), ISBN 3-520-45203-0/Disambiguierung
  12. Homberger, Sachwörterbuch zur Sprachwissenschaft (2000)/Monosemierung