Kinderfachabteilung
Der allgemeine Begriff „Kinderfachabteilung“ wurde im nationalsozialistischen Deutschen Reich als beschönigende Bezeichnung für besondere Einrichtungen der Psychiatrie in Krankenhäusern sowie Heil- und Pflegeanstalten verwendet, die der Kinder-„Euthanasie“ dienten, also der Forschung an und anschließenden Tötung von Kindern und Jugendlichen, die körperlich oder geistig schwer behindert waren. Der Massenmord, bei dem es sich tatsächlich nicht um Euthanasie handelte, wurde ab 1945 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit be- und verurteilt.
Geschichte
Die erste derartige Einrichtung gab es ab 1939 in Görden, einem Stadtteil von Brandenburg an der Havel. Die Bezeichnung der reichsweit aus Berlin geleiteten und geheim gehaltenen Maßnahme war „Kinderaktion“. Die Zentrale befand sich in der Abteilung 2b der so genannten Kanzlei des Führers. Die Fälle wurden dort vorsortiert und etwa 20.000 verbleibende in einer Art Gutachterverfahren des „Reichsausschusses“ beurteilt. Gutachter waren die Professoren Werner Catel und Hans Heinze sowie der Kinderarzt Ernst Wentzler. Ohne Begutachtung der Kinder wurde den „Kinderfachabteilungen“ mitgeteilt, wer zur Tötung („Behandlungsermächtigung“) oder zunächst einer weiteren Beobachtung eingestuft wurde. Einen Befehl oder Zwang zur Durchführung der Tötung gab es ebenso wenig wie ein Euthanasiegesetz, vielmehr war die Euthanasie formal im Deutschen Reich verboten. Dass Ärzte sich dem auch entziehen konnten und nicht in Befehlsnotstand handelten, wie nach 1945 oft behauptet, wurde durch Beispiele wie den Freiburger Kinderarzt Carl Noeggerath bewiesen. Noeggerath wurde „in die Kanzlei des Führers einberufen, und dort wurde mir nahegelegt, ich solle in der Freiburger Kinderklinik die südwestdeutsche Ausmerzestelle für lebensunfähige Kinder einrichten.“ Dass Noeggerath dies ablehnte, blieb für ihn ohne Folgen.[1][2]
Die Tötung selber wurde in eigener Verantwortung mit einer Überdosierung des Medikamentes Luminal Chloralhydrat oder durch Nahrungsmittelentzug und die Gabe von Morphin durchgeführt.[3] Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden staatsanwaltschaftliche Ermittlungen auch wegen dieser NS-Verbrechen an Anstaltspatienten durchgeführt. Gerichtsurteile dazu wurden in der Gerichtsurteilssammlung „Justiz und NS-Verbrechen“ veröffentlicht.
Nach neuester Forschung hat es im gesamten Gebiet des damaligen Deutschen Reiches über 37[4] derartige Einrichtungen gegeben (in Österreich in Wien, Graz und Klagenfurt; siehe dazu Spiegelgrund), in denen mehr als 5.000 geistig und körperlich behinderte Kinder getötet wurden. In einem Aktenvermerk der Staatsanwaltschaft Hannover vom Oktober 1964 heißt es zur Zahl der vermuteten Tötungen: „Dem Reichsausschuß seien über die Amtsärzte etwa 20.000 Kinder gemeldet worden. Von diesen seien etwa 75 % nicht in Kinderfachabteilungen des Reichsausschusses eingewiesen worden. Die restlichen 25 % hingegen seien zum größten Teil einer „Behandlung zugeführt“ worden. Von den bis Kriegsende somit dem Reichsausschuss gemeldeten ganz knapp 5.000 gestorbenen Kindern seien etwa 10 % auf natürliche Art und Weise verstorben, während die restlichen Kinder, mithin etwa 4.500, eingeschläfert worden seien.“[5] Zusätzlich ist noch von einer weiteren, nicht feststellbaren Opferzahl durch die sogenannte „wilde Euthanasie“ (nicht rückgemeldete Opfer) auszugehen.[6]
Liste der „Kinderfachabteilungen“
Anstalt | Leiter | Leiter der Kinderfachabteilung |
Ansbach, Heil- und Pflegeanstalt | Hubert Schuch | Irene Asam-Bruckmüller |
Berlin-Wittenau, Städtische Nervenklinik für Kinder und Jugendliche Wiesengrund | Ernst Hefter | Gertrud Reuter, Ernst Hefter |
Brandenburg-Görden, Landesanstalt | Hans Heinze | Ernst Illing, Friederike Pusch |
Bremen | ||
Breslau, Krankenhaus Nord | Heinrich Tewes | Heinz W. Neumann |
Conradstein, Heil- und Pflegeanstalt | Waldemar Siemens | Han(n)s Arnold Schmidt |
Dortmund-Aplerbeck, Heil- und Pflegeanstalt | Fritz Wernicke[7] | Theodor Niebel |
Eglfing-Haar, Heil- und Pflegeanstalt | Hermann Pfannmüller | Gustav Eidam |
Eichberg, Heil- und Pflegeanstalt | Friedrich Mennecke | Walter Schmidt |
Graz, Heil- und Pflegeanstalt Am Feldhof | Oskar Begusch, Ernst Sorger, siehe Rudolf Lonauer | |
Großschweidnitz, Landesanstalt | Alfred Schulz | Arthur Mittag |
Hamburg-Langenhorn, Heil- und Pflegeanstalt | Friedrich Knigge | |
Hamburg-Rothenburgsort, Privates Kinderkrankenhaus | Wilhelm Bayer[8] | Wilhelm Bayer |
Kalmenhof/Idstein, Heilerziehungsanstalt | Ernst Müller | Mathilde Weber, Hermann Wesse |
Kaufbeuren-Irsee, Heil- und Pflegeanstalt | Valentin Faltlhauser | |
Klagenfurt | ||
Leipzig Universitätskinderklinik | Werner Catel | Hans Christoph Hempel, Ernst Klemm, Hans-Joachim Hartenstein |
Leipzig-Dösen, Heil- und Pflegeanstalt | Hermann Paul Nitsche, Emil Eichler, Johannes Gottschick | Arthur Mittag |
Loben/Oberschlesien, Heil- und Pflegeanstalt | Ernst Buchalik | Ernst Buchalik, Elisabeth Hecker |
Lüneburg, Heil- und Pflegeanstalt | Max Bräuner | Willi Baumert |
Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde | Walter Grabowski | Hilde Wernicke |
Niedermarsberg, St. Johannisstift | Theodor Steinmeyer | Werner Sengenhoff |
Plagwitz/Niederschlesien (geplant) | ||
Posen | ||
Sachsenberg bei Schwerin, Landesheilanstalt | Johannes Fischer[9] | Alfred Leu |
Schleswig-Hesterberg, Heil- und Pflegeanstalt (bis Januar 1942) | Landesamtmann Hartwig[10] | Erna Pauselius |
Schleswig-Stadtfeld, Landes-, Heil- und Pflegeanstalt (ab Februar 1942) | Carl Grabow | Erna Pauselius, Johannes Krey, Hans Burckhardt |
Stadtroda/Thüringen, Landesheilanstalt, ab 1943 Landeskrankenhaus | Gerhard Kloos | Margarete Hielscher |
Stuttgart: Städtisches Kinderheim | Karl Lempp | Magdalene Schütte |
Tiegenhof (Dziekanka/Gnesen), Landesheilanstalt | Victor Ratka | Walter Kipper[11] |
Uchtspringe, Landesheilanstalt | Ernst Beese | Gerhard Wenzel, Hermann Wesse, Hildegard Wesse |
Ueckermünde, Heil- und Pflegeanstalt | Hans-Dietrich Hilweg[12] | Hans-Dietrich Hilweg |
Waldniel-Hostert, Zweigstelle der Heil- und Pflegeanstalt Süchteln-Johannistal - Abteilung Waldniel[13] | Georg Renno, Hermann Wesse | |
Wien, Städtische Jugendfürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund“, angegliedert an die Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“ | Erwin Jekelius, Ernst Illing | Heinrich Gross |
Wiesengrund (Dobřany/Sudetengau), Gau- Heil- und Pflegeanstalt | Karl Hever | |
Wiesloch, Heil- und Pflegeanstalt[14] | Wilhelm Möckel | Arthur Schreck |
Die Liste ist unvollständig, die Verantwortlichkeit einzelner Ärzte teilweise strittig.
Literatur
- Carolin George: Erinnerung wachhalten, Forschung über Euthanasie-Opfer aus der Lüneburger Kinderpsychiatrie. In: Evangelische Zeitung. 25. Januar 2015, S. 9. (online-Version)
- Raimond Reiter: Wie viele Kinder wurden im Zweiten Weltkrieg Opfer der NS-Psychiatrie? In: Sozialpsychiatrische Informationen. Nr. 3/2001. 31. Jg. Wiesbaden 2001, S. 18–23.
- Jan Nedoschill: Kindereuthanasie im Nationalsozialismus: Die Kinderfachabteilung Ansbach in Mittelfranken. In: Zs. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. 50, 2001, S. 192–210.
- dsb.: Biologische Kinder- und Jugendpsychiatrie im Zwielicht 1939-45: Die Kinderfachabteilungen Ansbach in Mittelfranken und Görden in Brandenburg. Rede auf dem 26. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Jena, 5.-8. April 2000.
- „Ich habe alles nur aus absolutem Mitleid getan.“ Die „Kinderfachabteilung“ der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee. Kinder-„Euthanasie“, Humanexperimente, Neuropathologische Forschung. In: Monatsschrift für Kinderheilkunde. 152, 2004, S. 1004–1010.
- Andreas Kinast: "Das Kind ist nicht abrichtfähig." Euthanasie in der Kinderfachabteilung Waldniel 1941–1943. (= Rheinprovinz. 18). SH-Verlag, Köln 2010, ISBN 978-3-89498-259-1.
- Enno Schwanke: Die psychiatrische Anstalt Tiegenhof. Die nationalsozialistische „Euthanasie“ in regionaler Perspektive. Berlin 2013. (Masterarbeit an der FU Berlin)
Weblinks
- Thomas Beddies (Hrsg.) im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ): Im Gedenken der Kinder. Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit. Berlin 2012, ISBN 978-3-00-036957-5.
- „Kinderfachabteilungen“ im Zweiten Weltkrieg. ( vom 22. September 2011 im Webarchiv archive.today) auf: www.pk.lueneburg.de
- Kinderfachabteilungen ("Special Children's Wards"): Sites of Nazi "Children's 'Euthanasia'" Crimes and Their Commemoration in Europe. auf: www.uvm.edu/
Einzelnachweise
- ↑ Oliver Lehmann, Traudl Schmidt: In den Fängen des Dr. Gross. Das misshandelte Leben des Friedrich Zawrel. Czernin Verlag, Wien 2001, ISBN 3-7076-0115-3, S. 45–46.
- ↑ Eduard Seidler: Jüdische Kinderärzte 1933–1945: entrechtet/geflohen/ermordet. erweiterte Neu- Auflage. Karger Medical and Scientific Publishers, Freiburg im Breisgau 2007, ISBN 978-3-8055-8284-1, S. 58 (Google-Vorschau).
- ↑ trend.infopartisan.net
- ↑ Angelika Ebbinghaus, Klaus Dörner (Hrsg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen. Berlin 2002, ISBN 3-7466-8095-6, S. 302.
- ↑ gedenken-ns-psychiatrie.de
- ↑ luene-info.de
- ↑ Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt am Main 2007, S. 671.
- ↑ Eingeschläfert. In: Der Spiegel. Nr. 34, 1960, S. 31–33 (online).
- ↑ uvm.edu
- ↑ Susanna Misgajski: Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig bis 1945. In: Der Hesterberg. 125 Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik in Schleswig. Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs Band 56, Selbstverlag des Landesarchivs Schleswig, Schleswig 1997, S. 7–56.
- ↑ Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Frankfurt am Main 2007, S. 310.
- ↑ uvm.edu: Landesheilanstalt Ueckermünde (englisch)
- ↑ www.waldniel-hostert.de
- ↑ Arbeitskreis „Die Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch in der Zeit des Nationalsozialismus“: Die Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch im Nationalsozialismus. Wiesloch 1993.