Leipziger Prozesse

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Der als Kriegsverbrecher angeklagte Generalleutnant Karl Stenger (1859–1928) verlässt am 2. Juli 1921 das Leipziger Reichsgerichtsgebäude. Sein Prozess fand vom 29. Juni bis zum 7. Juli 1921 statt und endete mit einem Freispruch.

Als Leipziger Prozesse werden die zwischen 1921 und 1927 vor dem Reichsgericht in Leipzig abgehaltenen Strafverfahren zur Aufarbeitung deutscher Kriegsverbrechen im Ersten Weltkrieg bezeichnet.

Ausgangslage

Die juristische Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher nach dem Ersten Weltkrieg war zum damaligen Zeitpunkt ein Novum. Eine Bestrafung von Kriegsteilnehmern, Befehlshabern oder Staatsoberhäuptern nach einem Krieg war bis dahin unüblich gewesen; die Straflosigkeit aller im Kriege begangenen Taten nach einem Friedensschluss galt vielmehr als völkerrechtlicher Usus. Bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn, nachdem das Deutsche Reich nach einem völkerrechtswidrigen Ultimatum in das neutrale Belgien einmarschiert und angesichts des unerwarteten Widerstandes dort mit äußerster Härte gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen war (Massaker von Dinant, Zerstörung der Universitätsstadt Löwen), wurden vonseiten der Alliierten schwere Vorwürfe gegen die deutsche Kriegsführung erhoben und im Verlauf des Krieges mit dem Schlagwort des „Rape of Belgium“ auch propagandistisch wirkungsvoll eingesetzt. Durch deutsche Gewaltmaßnahmen waren in Belgien und Nordfrankreich zwischen August und Oktober 1914 über 6.000 Zivilisten umgekommen und zahlreiche Ortschaften und Städte ganz oder teilweise zerstört worden. Sehr schnell setzte sich in der westlichen Welt das Bild des Krieges als eines Abwehrkampfes der Zivilisation gegen die Barbarei der als „Hunnen“ gezeichneten Deutschen durch. Weitere weltweit beachtete Vorfälle wie die Versenkung der RMS Lusitania im Mai 1915 und der von deutscher Seite seit 1917 geführte und als Antwort auf die britische „Hungerblockade“ gerechtfertigte uneingeschränkte U-Boot-Krieg gegen zivile Handels- und Passagierschiffe verstärkten die Forderung nach einer Bestrafung der an Atrocities („Kriegsgreueln“), wie man die Taten im Ausland nannte, beteiligten deutschen Heerführer und Soldaten nach Kriegsende.[1]

Nachdem die Kriegshandlungen mit Unterzeichnung des Waffenstillstands von Compiègne am 11. November 1918 beendet worden waren, verweigerten die alliierten Mächte den deutschen Beteiligten die sonst übliche Amnestie für im Krieg begangene Übergriffe. Nicht nur die im Einzelnen begangenen Taten und der insgesamt neuartige Charakter des Krieges als einer „Industrie des Tötens“[2] waren hierfür ausschlaggebend, sondern die grundlegende Überzeugung der Alliierten, Deutschland trage die alleinige Schuld am Kriegsausbruch („Kriegsschuldfrage“) und müsse als Verursacher der im Krieg begangenen Grausamkeiten zur Verantwortung gezogen werden. Diese Einseitigkeit, die Fehlverhalten auf alliierter Seite ausschloss und die deutsche Kriegsführung insgesamt als verbrecherisch kennzeichnete, erschien deutschen Vertretern unerträglich, sodass die Pläne zur Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher in Deutschland selbst als ungerechte Provokation seitens der ehemaligen Feinde betrachtet und von praktisch allen politischen Lagern entrüstet zurückgewiesen wurden.

Vertrag von Versailles

Die Auffassung der Alliierten in Bezug auf die Ahndung deutscher Kriegsverbrechen setzte sich gegen die deutschen Widerstände zunächst durch, ohne dass die nur marginal an den Friedensverhandlungen beteiligte deutsche Reichsregierung darauf Einfluss nehmen konnte. Obwohl das Kabinett Bauer eine „Ausmerzung ehrverletzender Forderungen, wie die der Auslieferung Deutscher“[3] angestrebt hatte,[4] enthielt der Friedensvertrag von Versailles in den Artikeln 227 bis 230[5] die Forderung einer Auslieferung Kaiser Wilhelm II. und weiterer Personen, die die Alliierten noch benennen würden. Die Betreffenden sollten anschließend vor ein nationales Militärgericht gestellt werden.

Strafbestimmungen

Der Friedensvertrag enthielt in Teil VII Strafbestimmungen, welche die öffentliche Anklageerhebung gegen den ehemaligen deutschen Kaiser vor einem besonderen alliierten Gerichtshof wegen „schwerster Verletzung der internationalen Moral und der Heiligkeit der Verträge“ vorsahen. Damit war insbesondere die Verletzung der Neutralität Belgiens gemeint.[6] Die niederländische Regierung sollte Wilhelm II. zum Zwecke seiner Aburteilung aus seinem Exil ausliefern.

Bei einer Verurteilung sollte das Gericht die Strafe bestimmen, deren Verhängung es für angemessen erachtet (Art. 227).[7] Der Gerichtshof sollte aus fünf Richtern bestehen, die jeweils von den Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan zu ernennen waren, sich bei seinem Urteil „von den höchsten Grundsätzen der internationalen Politik“ leiten lassen und besorgt sein, „die Achtung der feierlichen Verpflichtungen und der internationalen Verträge sowie der internationalen Moral“ zu sichern.[8]

Nach Art. 228, 229 sollten die Alliierten auch sonstige Personen wegen „gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges“ verstoßenden Handlungen vor ihre nationalen Militärgerichte stellen. Alle beschuldigten Personen – darunter Generäle und ranghohe Politiker wie der ehemalige Reichskanzler Bethmann-Hollweg, der ehemalige deutsche Kronprinz Wilhelm von Preußen, Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg oder General Erich Ludendorff, aber auch einfache Offiziere und Soldaten – sollten von Deutschland ausgeliefert werden. In Art. 230 des Vertrags wurde die deutsche Regierung insoweit zur Mitwirkung an der Strafverfolgung der Alliierten verpflichtet.

Umsetzung

Die Forderungen der Alliierten stießen ungeachtet der Vertragsunterzeichnung in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung auf Ablehnung. Reichspräsident Ebert sprach von der „schwerste[n] aller Forderungen“, die abzuwehren Aufgabe der Regierung sei.[9] Die Prozesse galten als ehrenrührig und als nationale Schmach, da alliierte Kriegsverbrechen wie der Einsatz von chemischen Waffen,[10] die britische Seeblockade oder der Hungertod deutscher Kriegsgefangener[11] nicht thematisiert wurden. Eine deutsche „Gegenliste“ zur Ahndung französischer Kriegsverbrechen entstand.[12]

Die Niederlande weigerten sich, Wilhelm II. auszuliefern. Sie begnügten sich mit seiner Internierung auf einem Anwesen bei Doorn, das von der deutschen Grenze etwas weiter entfernt lag als sein erstes Exil in Amerongen und gut überwacht werden konnte. Mit Rücksicht auf den Gesundheitszustand des 61-jährigen verzichtete man auf seine Verbannung in eine niederländische Kolonie.

Der auf einem britischen Vorschlag basierende Straftatbestand der „Verbrechen gegen die »Heiligkeit der Verträge«“ war zu unbestimmt und erwies sich als kaum anwendbar.[13] Letztlich brachte erst das Londoner Statut von 1945 eine tragfähige Definition von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Vor allem für die Engländer und Franzosen stand ohnehin nicht die Verurteilung und Bestrafung im Vordergrund, sondern der Umstand, im Wege der Beweisaufnahme die angeklagten Vorgänge der Weltöffentlichkeit bekannt zu machen.[14] Vor allem der Prozess gegen Wilhelm II. sei eher von symbolischer Bedeutung. Mit seiner Rückkehr zur Macht sei ohnehin nicht zu rechnen.

Die alliierten Siegermächte verzichteten letztlich auf ein internationales Strafverfahren. Fehlende einschlägige Völkerrechtssätze, die Immunität von Staatsoberhäuptern bzw. deren allenfalls politische, aber nicht juristische Verantwortlichkeit und das strafrechtliche Rückwirkungsverbot machten einen Prozess gegen den deutschen Kaiser ebenso unmöglich wie die Uneinigkeit unter den Siegern selbst nicht zuletzt über den Verhandlungsort und die konkrete Besetzung des Gerichts.

Auswärtiges Amt und deutsches Heer weigerten sich, an der Auslieferung vermeintlicher Kriegsverbrecher mitzuwirken. Durch deutsche Zugeständnisse an anderer Stelle und nach Einlenken insbesondere des britischen Premierministers Lloyd George erklärten sich die Alliierten im Februar 1920 gegenüber der Reichsregierung mit der Durchführung von Probeprozessen einverstanden.[4] Sie übergaben Deutschland eine Liste mit 45 Personen, deren Aburteilung sie forderten. Deutschland erklärte sich bereit, die Beschuldigten vor das damals höchste deutsche Strafgericht, das Reichsgericht in Leipzig, zu stellen, das dabei nationale Straftatbestände anwendete.[8]

Angesichts der einschneidenden wirtschaftlichen Folgen der deutschen Reparationen nach dem Ersten Weltkrieg blieb dieser diplomatische Erfolg jedoch ohne innenpolitische Wirkung. Auch die Durchführung nationaler Gerichtsverfahren galt in Deutschland weithin als Demütigung.[4]

Internationale Politik

Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs führten nicht nur zu ersten Versuchen einer juristischen Ahndung von Kriegsverbrechen, sondern auch zum Bestreben der internationalen Politik der 1920er Jahre, insbesondere Angriffskriege aus dem politischen Instrumentarium der Staaten zu verbannen. Wichtige Schritte dieser Friedenssicherung waren die Gründung des Völkerbunds (1920), die Erweiterungen der Genfer Konvention (1929) sowie die Verabschiedung des Briand-Kellogg-Pakts (1928).

Dennoch scheiterten Bemühungen, darüber hinaus einen internationalen Strafgerichtshof einzurichten, der in den Augen der Kritiker die Souveränität der Staaten zu stark beschnitten hätte. So wurde der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg zum weltgeschichtlichen Novum, dass die bereits nach dem Ersten Weltkrieg entwickelten Ideen erstmals in die Tat umsetzte.[15]

Strafverfolgung vor dem Reichsgericht

Am 13. November 1918 wurde vom Rat der Volksbeauftragten eine Verordnung zur Prüfung der Behandlung von Kriegsgefangenen erlassen, im August 1919 erfolgte die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Prüfung, ob das Völkerrecht verletzt worden sei.

Im Dezember 1919 wurde von der Nationalversammlung das „Gesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen“[16], ergänzt 1920 und 1921[17][18] über die Zuständigkeit und das Verfahren vor dem Reichsgericht verabschiedet.

Bis 1914 waren Amnestien selbstverständlicher Bestandteil von Friedensverträgen. Gleichwohl war eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Verstößen gegen das Kriegsrecht seit der Haager Landkriegsordnung von 1907 anerkannt. Ihre Ahndung erfolgte nach dem jeweiligen nationalen Recht. Das Reichsgericht musste danach prüfen, ob eine Kriegshandlung durch das Kriegsrecht gerechtfertigt wurde und ob ein Verstoß gegen deutsches Strafrecht vorlag. Hatte der Beschuldigte vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt, war sein Tun strafbar, wenn nicht zu seinen Gunsten § 47 MStGB griff, der das Handeln auf Befehl regelte.[19]

Durchgeführte Verfahren

Die Anklage vor dem Reichsgericht vertrat Oberreichsanwalt Ludwig Ebermayer.

Generalleutnant Karl Stenger (1859–1928), der 1914 Kommandeur der badischen 58. Infanterie-Brigade gewesen war, wurde beschuldigt, er habe seiner Truppe befohlen, keine Gefangenen zu machen. Den Generälen Benno Kruska und Hans v. Schack wurde vorgeworfen, die Ausbreitung einer Typhusepidemie unter Kriegsgefangenen nicht verhindert zu haben und damit für den Tod Tausender verantwortlich zu sein. Oberleutnant Adolf Laule, 1914 in der Brigade Stengers eingesetzt, wurde die Tötung eines französischen Kriegsgefangenen vorgeworfen. Unteroffizier Max Ramdohr soll belgische Kinder gefangen gehalten und gequält haben.

Das Reichsgericht führte zunächst einen Prozess gegen die drei ehemaligen Pioniere Dietrich Lottmann, Paul Niegel und Paul Sangershausen.[20] Die Angeklagten wurden im Januar 1921 wegen Plünderungen in Belgien zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt.

In drei weiteren Verfahren, deren Gegenstand die Misshandlung englischer Kriegsgefangener durch die Lageraufseher Karl Heynen, Emil Müller und Robert Neumann war, kam es aufgrund der Beweislage zur Verurteilung von zweimal sechs und einmal zehn Monaten Gefängnis.

Der als Mitverantwortlicher für das Massaker von Andenne vom 19. und 20. August 1914 angeklagte ehemalige Kommandeur des preußischen Garde-Reserve-Schützen-Bataillons, Walter Bronsart von Schellendorff, der den Befehl gegeben haben soll, bei der Durchsuchung der Häuser des Ortes alle männlichen Einwohner wehrfähigen Alters ohne Weiteres mit dem Bajonett zu töten, wurde trotz belastender Zeugenaussagen wegen Mangels an Beweisen freigesprochen, da er behauptete, die Soldaten hätten ihn falsch verstanden.[21]

Im Fall des LazarettschiffsDover Castle“ wurde der geständige Oberleutnant Karl Neumann freigesprochen, weil das Gericht die Versenkung als von höherem Befehl gedeckt ansah, ohne jedoch zu prüfen, ob ein solcher Befehl vorlag.

Dagegen wurden die wegen Mithilfe an der Beschießung von Rettungsbooten bei der Versenkung des Lazarettschiffs „Llandovery Castle“ beschuldigten Oberleutnants zur See Karl Dithmar und John Boldt wegen Beihilfe zum Totschlag bei der Tötung von Überlebenden zu jeweils vier Jahren Gefängnis verurteilt – anstelle des eigentlich angeklagten, aber flüchtigen Kommandanten Helmut Patzig. Zur Begründung erklärte das Reichsgericht, das Verbot der Tötung von wehrlosen Feinden und Schiffbrüchigen sei als einfache und allgemein bekannte völkerrechtliche Regel zu betrachten, über deren Anwendbarkeit kein Tatsachenzweifel bestehen könne, sodass sich die Angeklagten nicht auf den Befehl ihres Vorgesetzten berufen konnten.[22]

Verurteilt wurde auch Major Benno Crusius – wegen fahrlässiger Tötung zu zwei Jahren Gefängnis – der zugab, den mündlichen Brigadebefehl Stengers, keine Gefangenen zu machen, ohne Prüfung an die ihm unterstellten Kompanien weitergegeben zu haben.[23]

Prozessergebnisse

Von den etwa 900 deutschen Militär- und Zivilpersonen, deren Auslieferung von den Alliierten ursprünglich verlangt worden war, sowie einigen hundert weiteren Beschuldigten, gegen welche die deutschen Behörden 1920 von sich aus Ermittlungen eingeleitet hatten, um Deutschlands guten Willen zu demonstrieren, wurden letztlich nur zehn zu Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und fünf Jahren verurteilt und sieben (zum Teil wegen Mangels an Beweisen) freigesprochen. Alle anderen Verfahren endeten mit einem Einstellungsbeschluss, der letzte erging 1931.[24] Einige Verurteilungen wurden später wieder aufgehoben.

In Belgien und Frankreich wurden ab 1922 Hunderte von Deutschen in Abwesenheitsverfahren verurteilt, da man die Spruchpraxis des Reichsgerichts als Farce empfand.[25] Das Reichsjustizministerium erteilte der Reichsanwaltschaft die Weisung, dass alle in Frankreich und Belgien begonnenen Verfahren in Deutschland mit Einstellungen enden sollten. Auf diese Weise wurden bis 1927 etwa 1.700 Fälle durch das Leipziger Reichsgericht ausgesetzt.[26]

Die Haltung der deutschen Justiz brachte der sozialdemokratische Rechtspolitiker und ehemalige Reichsminister der Justiz Gustav Radbruch, der an der Abwicklung der Verfahren beteiligt war, in seinen Lebenserinnerungen zum Ausdruck:

„Eine schwere Belastung des Reichsgerichts waren die Kriegsverbrecherprozesse. Sie mussten während meiner Amtszeit zunächst dilatorisch behandelt werden. (...) Als ... der oberste Rat (der Alliierten) sein Désintéressement an dem weiteren Verlauf der Kriegsverbrecherprozesse deutlich zu erkennen gab, fiel für uns jeder Grund zu einer weiteren dilatorischen Behandlung fort. Nun wurden die zahlreichen auf haltlose Beschuldigungen gegründeten Verfahren ... eingestellt.“

Gustav Radbruch[27]

Rezeption

Seinerzeit anerkannte Grundprinzipien der westfälischen Völkerrechtsordnung wie die Staatssouveränität und der Grundsatz der Immunität von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern sowie das strafrechtliche Rückwirkungsverbot (Art. 116 WRV, § 2 RStGB) als Säule eines aufgeklärten, demokratischen Strafrechts wurden in den Leipziger Prozessen aufrecht erhalten.[28]

England hielt den Richtern zugute, sie „performed their difficult task without fear or favour“.[29] Die verhängten Strafen seien zwar „far too light, but [...] they must be estimated according to their values in Germany“. Die alliierten Prozessbeobachter hingegen verließen Leipzig.

Die Leipziger Prozesse gelten in der Forschung gemeinhin als Misserfolg, der kaum Beachtung verdiene oder als bloßer „Prolog zu Nürnberg“.[30] Die milden Haftstrafen verbunden mit vorzeitigen Entlassungen und Begnadigungen sprächen für sich, lege man einen gewissen Abschreckungseffekt von Strafprozessen als Maßstab an die Leipziger Prozesse an.[31]

Die nationale Justiz war tatsächlich nicht geeignet, eigene Staatsangehörige als Kriegsverbrecher zu verfolgen. Begriffe wie „Kriegsverbrechen“ wurden jedoch erstmals von der deutschen Justiz erörtert und Rechtfertigungsmuster wie „Kriegsnotwendigkeit“ und „Handeln auf Befehl“ hinterfragt, auch wenn die deutsche Kriegsführung insgesamt gerechtfertigt wurde. So dokumentieren die Leipziger Prozesse die ersten Anfänge des modernen Völkerstrafrechts.

Da die Alliierten mit den Ergebnissen der Prozesse nicht zufrieden waren, wollte man die Bestrafung der deutschen Hauptkriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr den Deutschen selbst überlassen, was 1945 zur Einsetzung des Internationalen Militärtribunals führte.[32]

Literatur

  • Ludwig Ebermayer: Fünfzig Jahre Dienst am Recht. Erinnerungen eines Juristen, Leipzig 1930
  • Carl Haensel: Der Nürnberger Prozess: Tagebuch eines Verteidigers. Moewig, München 1983, ISBN 3-8118-4330-3.
  • Gerd Hankel: Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburger Edition, Hamburg 2003. ISBN 9783930908851 (Inhaltsverzeichnis).
  • Friedrich K. Kaul: Die Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher im ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 14 (1966), S. 19–32
  • Alan Kramer: Deutsche Kriegsverbrechen 1914/1941. Kontinuität oder Bruch?, in: Sven Müller, Cornelius Torp (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009
  • Kai Müller: Oktroyierte Verliererjustiz nach dem Ersten Weltkrieg, in: Archiv des Völkerrechts 39 (2001), S. 202–222
  • Kai Müller: Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse nach dem Ersten Weltkrieg. In: Bernd-Rüdiger Kern, Adrian Schmidt-Recla (Hrsg.): 125 Jahre Reichsgericht. Duncker & Humblot, Berlin 2006, ISBN 3-428-12105-8, S. 249–264.
  • Walter Schwengler: Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage. Die Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechern als Problem des Friedensschlusses 1919/20, Stuttgart 1982
  • Daniel Marc Segesser: Recht statt Rache oder Rache durch Recht? Die Ahndung von Kriegsverbrechen in der internationalen wissenschaftlichen Debatte 1872–1945. Schöningh, Paderborn 2010 (Habil. Bern 2006), insbesondere S. 225–231.
  • Andreas Michael Staufer: Ludwig Ebermayer – Leben und Werk des höchsten Anklägers der Weimarer Republik unter besonderer Berücksichtigung seiner Tätigkeit im Medizin- und Strafrecht, Leipziger Universitätsverlag 2010. ISBN 3865835201
  • Bruno Thoß, Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Erster Weltkrieg – Zweier Weltkrieg. Ein Vergleich, Paderborn 2002
  • Wolfram Wette, Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001
  • Harald Wiggenhorn: Verliererjustiz: Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse nach dem Ersten Weltkrieg. Studien Zur Geschichte des Völkerrechts. Baden-Baden: Nomos Verlag, 2005. ISBN 978-3-8329-1538-4. Besprechung von Steffen Bruendel
  • Harald Wiggenhorn: Eine Schuld fast ohne Sühne – Erinnerung an die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse vor 75 Jahren. Die Zeit, 16. August 1996, S. 9–11.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Vgl. Alan Kramer: Atrocities, in: International Encyclopedia of the First World War, Artikelfassung vom 14. Juni 2016, abgerufen am 14. September 2016.
  2. Neue Waffen im Ersten Weltkrieg. Die Industrie des Tötens. In: FAZ, 31. Juli 2014; abgerufen am 14. September 2016.
  3. Telegramm des Gesandten von Haniel an den Reichsaußenminister. Versailles, 21. Juni 1919 Akten der Reichskanzlei im Bundesarchiv, abgerufen am 13. September 2016.
  4. a b c Das Kabinett Bauer, Auslieferungsfrage Akten der Reichskanzlei im Bundesarchiv, abgerufen am 13. September 2016.
  5. Friedensvertrag zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten vom 28. Juni 1919, Art. 227-230
  6. Kerstin Wolny: Ist das Aggressionsverbrechen nach heutigem Völkerrecht strafbar? Kritische Justiz 2003, S. 48 ff., S. 50.
  7. Volkmar Schöneburg: Nullum crimen, nulla poena sine lege. Rechtsgeschichtliche Anmerkungen UTOPIE kreativ, H. 94 (August) 1998, S. 60–70.
  8. a b Hansjörg Geiger: Internationaler Strafgerichtshof und Aspekte eines neuen Völkerstrafgesetzbuches Freundesgabe Büllesbach 2002, S. 327–346.
  9. Gerd Hankel: Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburg 2003, S. 45
  10. Ypern: Chlorgas, Senfgas und der Erste Weltkrieg
  11. Sönke Neitzel: Der historische Ort des Ersten Weltkrieges in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts bpb, 10. April 2014
  12. Claus Heinrich Bill: Deutsch-französische Kriegsverbrechen im Ersten Weltkrieg 1914-1918. Verzeichnis von 267 Opfern und Tätern in Kriegsverbrechensvorgängen adelskartei.de, abgerufen am 16. März 2016
  13. Cherif M. Bassiouni: World War I: »The War to End all Wars« and the Birth of a Handicapped International Criminal Justice System, in: Denver Journal of International Law and Policy 30 (2002) 244
  14. J. W. Brügel: Das Schicksal der Strafbestimmungen des Versailler Vertrags, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 6. Jahrg., 3. H. (Juli 1958), S. 263, 267 (PDF)
  15. "Nürnberg" in Vergangenheit und Gegenwart bpb, 7. Juni 2013
  16. vom 18. Dezember 1919, RGBl. 2125
  17. Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen vom 18. Dezember 1919, RGBl. vom 24. März 1920, S. 2125
  18. Gesetz zur weiteren Ergänzung des Gesetzes zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen vom 12. Mai 1921
  19. Militär-Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 20. Juni 1872
  20. Gerd Hankel: Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburg 2003, S. 71
  21. John Horne, Alan Kramer: Deutsche Kriegsgreuel 1914: Die umstrittene Wahrheit. Hamburg 2003, S. 56–59.
  22. Gerd Hankel: Das Tötungsverbot im Krieg: Ein Interventionsversuch. Hamburger Edition, Hamburg 2010, S. 4 u. Anm. 8.
  23. Uwe Wesel: Freispruch für den General. Wie deutsche Kriegsverbrechen nach dem Ersten Weltkrieg geahndet wurden Die Zeit, 24. Juli 2003
  24. Gerd Hankel: Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburg 2003; vgl. Klappentext (PDF; 1,6 MB).
  25. Gordon Wallace Bailey: Dry Run for the Hangman. The Versailles-Leipzig Fiasco, 1919-1921. Feeble Foreshadow of Nuremberg, o.O. 1971
  26. Jakob Zenzmaier: Die Leipziger Prozesse (1921-1927). Zwischen nationaler Schande und juristischer Farce. Abgerufen am 8. März 2016.
  27. Zitiert nach: Horst Meier: Rezension zu Gerd Hankel: Die Leipziger Prozesse - Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg. Deutschlandfunk, 23. Juni 2003; abgerufen am 11. September 2016.
  28. Christoph Safferling: Lernen von Nürnberg. Die Relevanz des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses für das moderne Völkerstrafrecht. Rg 14/2009, S. 148–167
  29. Claud Mullins: The Leipzig Trials. An Account of War Criminals’ Trials And a Study of German Mentality, London 1921, S. 44
  30. Dirk v. Selle: Prolog zu Nürnberg – Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse vor dem Reichsgericht, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 3/4 (1997), S. 192–209; James F. Willis: Prologue to Nuremberg. The Punishment of War Criminals of the First World War, Westport 1982
  31. Internationaler Militärgerichtshof, Band II, 100 Eröffnungsplädoyer von Robert H. Jackson, dem US-amerikanischen Chefankläger in Nürnberg
  32. Vorgeschichte zu den Nürnberger Prozessen, Webseite der Museen der Stadt Nürnberg