„Übergesetzlicher Notstand“ – Versionsunterschied

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Übergesetzlicher Notstand ist keine Rechtsgrundlage für den gezielten Abschuss von entführten Flugzeugen
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Das [[Landgericht Frankfurt am Main|Landgericht Frankfurt]] folgte dieser Auffassung jedoch nicht. Notstand scheide schon deswegen aus, da es andere, mildere Mittel gegeben hätte, um das Opfer zu retten.
Das [[Landgericht Frankfurt am Main|Landgericht Frankfurt]] folgte dieser Auffassung jedoch nicht. Notstand scheide schon deswegen aus, da es andere, mildere Mittel gegeben hätte, um das Opfer zu retten.


== Gezielter Abschuss von entführten Passagierflugzeugen ==
Der ''übergesetzliche Notstand'' wurde im Jahr [[2007]] im Rahmen der [[Terrorismusbekämpfung]] von Bundesverteidigungsminister [[Franz Josef Jung]] als "[[Rechtsgrundlage]]" für den Abschuss von entführten (und zur Waffe pervertierten) Passagierflugzeugen ins Spiel gebracht <ref>[http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,506081,00.html|Spiegel Online vom 17.09.2007: "Terrorabwehr: SPD und Grüne empört über Jungs Abschuss-Pläne"]</ref>.

In der Tat greifen die gesetzlich geregelten [[Rechtfertigungsgrund|Rechtfertigungsgründe]] in einem solchen Fall nicht ein:

Die [[Notwehr]] nach {{Zitat de §|32|stgb}} [[Strafgesetzbuch|StGB]] rechtfertigt nur Eingriffe in Rechtsgüter des Angreifers, also der Flugzeugentführer. Der [[Rechtfertigender Notstand|rechtfertigende Notstand]] nach {{Zitat de §|34|stgb}} [[Strafgesetzbuch|StGB]] scheidet aus, da eine Abwägung Leben gegen Leben nicht in Betracht kommt.
Auch im Übrigen kann es keine [[Rechtfertigungsgrund|rechtfertigende]] gesetzliche Grundlage geben. Da der gezielte Abschuss von entführten Passagiermaschinen die an Bord befindlichen Passagiere und Besatzungsmitglieder zu Objekten staatlichen Handelns degradiert, verstößt er gegen Art. 1 I [[Grundgesetz|GG]]<ref>[http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20060215_1bvr035705.html| Urteil des BVerfG vom 15.02.2006 zum Luftsicherheitsgesetz (1 BvR 357/05)]</ref>. Auch eine Verfassungsänderung könnte hieran nichts ändern, da insoweit die [[Ewigkeitsgarantie]] des Art. 79 III [[Grundgesetz|GG]] gilt<ref>[http://www.zeit.de/online/2007/38/jung-kommentar| Zeit online vom 17.09.2007: "Schuss auf das Grundgesetz"</ref>.

Es verbleiben also nur [[Entschuldigungsgrund|Entschuldigungsgründe]], wobei der gesetzlich geregelte [[Entschuldigender Notstand|entschuldigende Notstand]] nach {{Zitat de §|35|stgb}} [[Strafgesetzbuch|StGB]] schon wegen der dort erforderlichen Nähebeziehung ausscheidet.
Letztlich könnte ein Abschussbefehl also nur auf den höchst umstrittenen ''übergesetzlichen Notstand'' gestützt werden. Dieser macht das Handeln aber nicht rechtmäßig, sondern [[Entschuldigungsgrund|entschuldigt]] unter engen Voraussetzungen [[Rechtswidrigkeit|rechtswidriges]] Handeln. Der ''übergesetzliche Notstand'' ist also keineswegs "[[Rechtsgrundlage]]" für den Abschuss von entführten Passagierflugzeugen, so dass die Empfehlung des [[Deutscher Bundeswehrverband|Bundeswehrverbandes]] und des [[Verband der Besatzungen strahlgetriebener Kampfflugzeuge der Deutschen Bundeswehr|VBSK]], einen entsprechenden (rechtswidrigen) Abschussbefehl nicht auszuführen <ref>[http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,506134,00.html|Spiegel Online vom 17.09.2007: "Flugzeugabschuss: Jetpiloten meutern gegen Jung"]</ref>, verständlich erscheint.
== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
*[[Schleyer-Entführung]]
*[[Schleyer-Entführung]]
*[[Befehlsnotstand]]
*[[Befehlsnotstand]]
== Quellen ==
<references/>


{{Rechtshinweis}}
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Version vom 18. September 2007, 13:30 Uhr

Der übergesetzliche Notstand ist in der deutschen Rechtswissenschaft ein Argumentationsansatz für einen Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- oder Strafausschluss-/Strafaufhebungsgrund bei einer Straftat, der nicht gesetzlich geregelt ist. „Übergesetzlich“ meint Gründe, die ethisch von gleichem oder höheren Gewicht sind und eigentlich vor Erlass jedweder Strafgesetze bestünden (vgl. auch Naturrecht, Rechtspositivismus) und die auf ganz außergewöhnliche und unauflösbare Gewissenskollisionen beschränkt sein sollen. Tatbestand und Rechtsfolgen des übergesetzlichen Notstands sind diffus geblieben.

Anerkannt ist die Figur des übergesetzlichen Notstands in der Praxis nicht. Dogmatisch ist sie höchst umstritten und wird im Widerspruch gesehen zu dem Verbot der Abwägung Leben gegen Leben, dem Legalitätsprinzip, dem Akkusationsgrundsatz und dem Vorrang der Verfassung. Insbesondere wird kritisch gesehen, einen übergesetzlichen Notstand in Fällen eines absoluten Verbots zu begründen, weil damit die absolute und ausnahmslose Wirkung des Verbots bewusst umgangen wird. Beispiel: Folterverbot.

Entwicklung

Das deutsche Strafgesetzbuch kannte in seiner ursprünglichen Fassung nur eine Notstandsregelung, die etwa dem heutigen entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) entspricht. Dies führte beispielsweise dazu, dass sich ein Arzt nach damaligem Recht strafbar machte, der bei medizinischer Indikation einen Schwangerschaftsabbruch durchführte, um das Leben seiner Patientin zu retten.

In einem solchen Fall erkannte das Reichsgericht 1927 an, dass es auch einen rechtfertigenden Notstand gibt, der nicht gesetzlich geregelt sei (RGSt 61, 242). Nach der Güterabwägungstheorie handele derjenige nicht rechtswidrig, der ein geringerwertiges Rechtsgut verletzt, um ein „höherwertiges Rechtsgut“ zu schützen.

Dieses kasuistische Rechtsinstitut wurde mit Einführung des rechtfertigenden und entschuldigenden Notstands (Vorlage:Zitat de § und Vorlage:Zitat de § StGB) durch die Große Strafrechtsreform im Jahr 1975 verworfen.

Schuldausschließende Pflichtenkollision

Eine unlösbare Pflichtenkollision besteht, wenn der Täter nur die Wahl zwischen zwei Übeln hat und in beiden Fällen sich pflichtverletzend verhalten würde.

Beispiel: Ärzte, die in der Zeit des Nationalsozialismus einige Geisteskranke für die "Euthanasie" selektiert haben, um andere Geisteskranke zu retten. Hätten sich die Ärzte geweigert, wären durch einen regimetreuen Arzt wahrscheinlich wesentlich mehr der Patienten ermordet worden.
weiteres Beispiel: Bei gleichzeitiger und homogener Gefahr für einen Menschen und einigen Vielen und wenn man nur gegen eine der Gefahren eingreifen kann.

Aufgrund dessen wurden in einem Urteil des OGH nach dem Zweiten Weltkrieg einige der Ärzte vom Strafvorwurf freigesprochen. Seit dem geht man davon aus, dass ein Verhalten in ähnlich gelagerten Fall-Konstellationen nicht strafbewehrt ist. (OGHSt 1, 321) Siehe auch: Trolley-Problem

Daschner-Prozess

Öffentlich diskutiert wurde über den übergesetzlichen Notstand im Jahr 2002 beim Entführungsfall Jakob von Metzler. Dort drohte der damalige stellvertretende Polizeipräsident Wolfgang Daschner dem Täter mit Folter, wenn er nicht den Aufenthaltsort seines Opfers bekanntgeben würde. Während des nachfolgenden Prozesses berief sich Wolfgang Daschner u.a. auf eine schuldausschließende Pflichtenkollision, da er handelte, um das Opfer zu retten.

Das Landgericht Frankfurt folgte dieser Auffassung jedoch nicht. Notstand scheide schon deswegen aus, da es andere, mildere Mittel gegeben hätte, um das Opfer zu retten.

Gezielter Abschuss von entführten Passagierflugzeugen

Der übergesetzliche Notstand wurde im Jahr 2007 im Rahmen der Terrorismusbekämpfung von Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung als "Rechtsgrundlage" für den Abschuss von entführten (und zur Waffe pervertierten) Passagierflugzeugen ins Spiel gebracht [1].

In der Tat greifen die gesetzlich geregelten Rechtfertigungsgründe in einem solchen Fall nicht ein:

Die Notwehr nach Vorlage:Zitat de § StGB rechtfertigt nur Eingriffe in Rechtsgüter des Angreifers, also der Flugzeugentführer. Der rechtfertigende Notstand nach Vorlage:Zitat de § StGB scheidet aus, da eine Abwägung Leben gegen Leben nicht in Betracht kommt. Auch im Übrigen kann es keine rechtfertigende gesetzliche Grundlage geben. Da der gezielte Abschuss von entführten Passagiermaschinen die an Bord befindlichen Passagiere und Besatzungsmitglieder zu Objekten staatlichen Handelns degradiert, verstößt er gegen Art. 1 I GG[2]. Auch eine Verfassungsänderung könnte hieran nichts ändern, da insoweit die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG gilt[3].

Es verbleiben also nur Entschuldigungsgründe, wobei der gesetzlich geregelte entschuldigende Notstand nach Vorlage:Zitat de § StGB schon wegen der dort erforderlichen Nähebeziehung ausscheidet. Letztlich könnte ein Abschussbefehl also nur auf den höchst umstrittenen übergesetzlichen Notstand gestützt werden. Dieser macht das Handeln aber nicht rechtmäßig, sondern entschuldigt unter engen Voraussetzungen rechtswidriges Handeln. Der übergesetzliche Notstand ist also keineswegs "Rechtsgrundlage" für den Abschuss von entführten Passagierflugzeugen, so dass die Empfehlung des Bundeswehrverbandes und des VBSK, einen entsprechenden (rechtswidrigen) Abschussbefehl nicht auszuführen [4], verständlich erscheint.

Siehe auch

Quellen

  1. Online vom 17.09.2007: "Terrorabwehr: SPD und Grüne empört über Jungs Abschuss-Pläne"
  2. Urteil des BVerfG vom 15.02.2006 zum Luftsicherheitsgesetz (1 BvR 357/05)
  3. [http://www.zeit.de/online/2007/38/jung-kommentar%7C Zeit online vom 17.09.2007: "Schuss auf das Grundgesetz"
  4. Online vom 17.09.2007: "Flugzeugabschuss: Jetpiloten meutern gegen Jung"