„Das Urteil (Kafka)“ – Versionsunterschied

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* [http://www.theateraufcd.de/Das_Urteil.aspx Kostenlose MP3-Version des Werkes als Hörbuch]
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* [http://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Franz_Kafka_Das_Urteil Franz Kafka - Das Urteil] gelesen von [http://de.wikipedia.org/wiki/Hans-J%C3%B6rg_Gro%C3%9Fe Hans-Jörg Große]. Eine Hörbuchbearbeitung von [http://de.wikipedia.org/wiki/Hans-J%C3%B6rg_Gro%C3%9Fe Hans-Jörg Große] und [http://www.kulturagent.eu Christian Mantey], Berlin 2008.


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==

Version vom 16. Oktober 2010, 11:55 Uhr

Das Urteil ist eine 1912 entstandene Erzählung von Franz Kafka. Das Werk stellt einen Vater-Sohn-Konflikt im Zusammenhang mit der bevorstehenden Heirat des Sohnes dar. Ein erfolgreicher junger Kaufmann wird von seinem Vater nicht anerkannt. Der Vater spricht ein Todesurteil über den Sohn aus und dieser vollzieht das Urteil durch Sturz in den Fluss.

Original-Broschur des ersten Einzeldrucks 1916

Zusammenfassung

Die Erzählung, die den Charakter einer Novelle hat, handelt von Georg Bendemann, dem Sohn eines Kaufmanns. Er ist verlobt und korrespondiert mit einem bedauernswerten Freund in Petersburg. Um diesen zu schützen, verschweigt Georg in seinen Briefen viel von seinem eigenen erfolgreichen Leben. Doch nach langem Überlegen und Überredungen seiner zukünftigen Frau entschließt er sich, ihm von seiner bevorstehenden Hochzeit zu erzählen. Als Georg mit dem Brief zu seinem Vater geht, kommt es zu einem Disput. Während des Streits erfährt der Sohn, dass sein Vater schon lange mit dem Petersburger Freund in Verbindung steht und dieser von ihm alles erfährt. Der Vater wirft Georg vor, die Leitung des Geschäftes an sich gerissen zu haben und eine nicht ehrenhafte Verlobte gewählt zu haben. Er endet mit den Worten: „Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!“ Nach diesen Worten läuft der Sohn aus dem Haus und stürzt sich in den Fluss.

Form

Die surrealistisch gefärbte „unerhörte Begebenheit“ lässt eine Zuordnung der Geschichte zur Gattung „Novelle“[1] als gerechtfertigt erscheinen, sie ist jedoch keineswegs zwingend. Sie wird vielfach von den verschiedenen Interpretatoren[2] auch lediglich als Erzählung oder Geschichte tituliert. Kafka selbst hat den Untertitel „Eine Geschichte“ gewählt.[3]

Das Werk lässt sich in vier Szenen gliedern:[4]

  • Georg mit Brief am Fenster
  • Georg geht zum Vater
  • Disput mit dem Vater
  • Urteil und Vollstreckung

Es herrscht eine Erzählperspektive, die zwar das gedankliche Innenleben des Sohnes wiedergibt, aber nicht das des Vaters. Er wird nur in seinen nörgelnden, drohenden und zynischen Äußerungen dargestellt. Diese bleiben überwiegend unverständlich – für den Sohn und für den Leser. Der Leser ist an die Denk- und Wahrnehmungsweise Georgs gebunden. Aber die Sicht des anonymen Erzählers auf Georg ist sachlich-kalt und unberührt.

Der Blick am Ende auf den Sturz des Selbstmörders mit der parallelen Verkehrsbeschreibung zeigt eine Dynamik, in der das individualpsychologische Moment ausgelöscht wird. Das Schlussbild der Geschichte verbindet die Eindrücke des Großstadtlebens mit der Reflexion filmischer Bewegungsbeschleunigung und der Agonie des Protagonisten.[5]

Hintergrund

Laut Kafkas Tagebucheintrag vom 23. September 1912 schrieb er die Erzählung in der Nacht vom 22. zum 23. September desselben Jahres. Diese Nacht wird oft als Geburt des Literaten von Weltruf angesehen. Er beschreibt die Entstehung dieses Werkes auch tatsächlich wie eine Geburt. Er erwähnt große Anstrengung und Freude.

Die Erstausgabe enthält die Widmung „Für Fräulein Felice B.“. Weitere Informationen zu Kafkas Beziehung zu Felice Bauer finden sich im Artikel Franz Kafka. Dass er sich und seine Beziehung zu Felice im „Urteil“ verarbeitet, zeigt sich auch in der Namensähnlichkeit, auf die Kafka selbst hinweist. Die Namen Georg Bendemann und Frieda Brandenfeld korrespondieren in der Buchstabenzahl bzw. in den Initialen mit seinem Namen und dem seiner künftigen Verlobten.[6] Er fragt sie im Brief: „Findest Du im ‚Urteil‘ irgendeinen Sinn … Ich finde ihn nicht und kann auch nichts darin erklären“.

Kafkas eigene Äußerungen helfen tatsächlich kaum, die Geschichte zu deuten.[7] Er stellt selbst die Existenz des Freundes in Russland in Frage, der Freund sei „vielleicht eher das, was dem Vater und Georg gemeinsam ist“. Er erwähnt „Gedanken an Freud natürlich“,[8] ohne näher auf psychologische Zusammenhänge einzugehen und dort Erklärung zu suchen.[9]

Max Brod berichtet, dass Kafka beim letzten Satz der Geschichte mit dem „geradezu unendlichen Verkehr“ über die Brücke an eine starke Ejakulation gedacht habe. So ergibt sich auch die überraschende Deutungsvariante, dass das Urteil eine symbolische Abnabelung vom Elternhaus begründet und ein Einswerden mit dem „unendlichen Verkehr“ (also dem Strom des Lebens), der außerhalb befindlichen Welt darstellt.[2]

Textanalyse mit Personencharakteristik

Das besondere Phänomen der Geschichte besteht darin, dass alle auftretenden Personen extremen Wandlungen unterworfen sind und teilweise unerklärlich divergierende Charaktere darstellen.

Der Sohn Georg

Er wird in der Erzählung zunächst sehr positiv eingeführt. An einem Frühlingstag am offenen Fenster sitzend schreibt er einen Brief an seinen glücklosen Freund in Russland. Georg hat sich verlobt und schaut auf große geschäftliche Erfolge in den letzten Jahren zurück. Aber schon an den Überlegungen, die er beim Schreiben dieses Briefes anstellt, erkennt man in ihm Zweifel, Skrupel und Verunsicherung, die sich mit der eingangs dargestellten Erfolgsnatur nicht decken. Die Zweifel entspringen dem Mitgefühl mit dem Freund. Allerdings könnte man auch sagen, dass er sich eben nicht freundschaftlich verbunden verhält, sondern eher Distanz signalisiert.

Wahrscheinlich wegen dieser Zweifel schickt Georg den Brief auch nicht einfach ab, sondern geht damit zu seinem Vater, wohl um dessen Zustimmung zu erhalten. Im Zimmer des Vaters erlebt der Sohn diesen zunächst als hinfälligen alten Mann, dem er sofort Mitgefühl entgegenbringt und sich vornimmt, künftig besser für ihn zu sorgen. Der Vater reagiert darauf unerwartet und erschreckend. Er weist Georgs Fürsorge als Bevormundung zurück. Die neuen Geschäftserfolge spricht er seiner eigenen guten Vorbereitung, nicht aber Georgs Tätigkeit zu. Die Verlobte, die, soweit sie in der Geschichte auftritt, als positiv dargestellt wird, schmäht er als ordinäre Person. Der Freund in Russland, zu dem er heimlich Kontakte hat, sei ein Sohn nach seinem Herzen. Seinen eigenen Sohn bezeichnet er als teuflischen Menschen.

Georg ist völlig unfähig, auf diese Ungeheuerlichkeiten des zornigen väterlichen Ausbruches zu reagieren. Man erlebt hier geradezu die Demontage einer Persönlichkeit vom Erfolgsmenschen zum stammelnden Kind durch den hypnotisierenden Einfluss des Vaters.[10] Er reagiert immer nur mit kurzen konfusen Einwürfen, was auch der Vater bemerkt. Georg verteidigt weder sich in seiner Stellung als Sohn (oder auch eigenständige Person) noch verteidigt er seine Verlobte.

Als der Vater ihn zum „Tod des Ertrinkens verurteilt“, löst das bei Georg nur Panik aus, er fühlt sich aus dem Zimmer gejagt und jagt selbst ohne Besinnung weiter bis zur Brücke, um sich dort in den Fluss fallen zu lassen. Zu einer kühlen intellektuellen Bewertung oder gar einer Auflehnung gegen das väterliche Urteil, das ja keinerlei öffentliche Legitimation hat, wie sonst ein juristisches Urteil, ist er nicht in der Lage. Warum das so ist, wird in der Geschichte nicht erklärt. Es wird hier nur das verhängnisvolle Ende präsentiert.

Es ist anzunehmen, dass die Gründe, (so es denn reale Gründe gibt) in der familiären Entwicklungsgeschichte Georgs liegen. Auch sein letzter Ausspruch; „Liebe Eltern, ich habe Euch doch immer geliebt“ verweist auf das frühere Leben und Aufwachsen mit den Eltern. Tiefe Minderwertigkeitsgefühle und der Wunsch, doch noch im Einklang mit dem Vater zu sein, könnten ein möglicher Schlüssel dazu sein, warum er sich so bedingungslos dem Urteilsspruch unterwirft.

Georgs Vater

Er wird eingeführt als bedauernswerter, hinfälliger alter Mann, der in einem kleinen dunklen Zimmer lebt. Sein geäußerter Zweifel an der Existenz des Freundes in Russland scheint man zunächst einer Altersverwirrtheit zurechnen zu müssen. Dann merkt man aber, dass er ganz gezielt darauf zugesteuert hat, um über dem Lob dieses Freundes seinem Sohn schwere Vorwürfe zu machen.

Plötzlich erscheint der Vater Georg als Riese und Schreckensbild, vor dem er selbst ganz klein, also ein Kind wird. Nicht erklärt wird, warum der Vater die geschäftliche Leistung des Sohnes verachtet und warum er die Verlobte in die Nähe einer Cancantänzerin (=Prostituierte) bringt. Die Dinge, die zu Beginn der Geschichte den Erfolg Georgs signalisieren, werden vom Vater negiert und gerade gegen Georg gewendet. Der Vater hat eine große mentale Macht über Georg. Seine Abscheu vor Georg ist aber so stark, dass er mit dem Vollzug des Urteils das Auslöschen seiner Sippe – andere Kinder des Vaters werden nicht erwähnt – herbeiführen lässt.

Mit der Urteilsverkündung bricht auch der Vater zusammen, wie Georg es im Hinauseilen noch flüchtig registriert.

Der ferne Freund

Dieser ist schemenhaft und tritt nur indirekt und namenlos auf. Er wird zunächst von Georg als bedauernswerte Existenz geschildert: Auswanderer nach Russland, schlecht gehende Geschäfte, einsam, eine Krankheit in sich tragend. Der Vater aber schätzt diesen Mann viel mehr als den eigenen Sohn, ohne dass klar wird, warum. Es scheint paradox, dass der Vater diesen freudlosen Junggesellen seinem Sohn so sehr vorzieht.

Am Anfang ist der Freund derjenige, dem man Wissen nur gefiltert weitergibt und ihn damit zum Unterlegenen macht. Durch die heimlichen Briefkontakte zwischen Freund und Vater ist Georg nun in der Situation des Unwissenden und Getäuschten, der Freund aber übersieht alles klar. Kafka selbst hat die tatsächliche Existenz des Freundes infrage gestellt und nur als Ausdruck des Gemeinsamen zwischen Vater und Sohn bezeichnet.[7] Gleichzeitig ist aber doch die Bevorzugung des Freundes der riesige Keil, den der Vater schon lange zwischen sich und Georg getrieben hat.

Man kann den Freund auch als Alter Ego von Kafka selbst sehen.[11] Der Freund lebt so, wie Kafka propagiert, dass man als Künstler leben muss: einsam, wenig Erwerbsarbeit, keine Ehe. Bezeichnend ist, dass der Freund Georg bewegen wollte, auch nach Russland auszuwandern. Die Figur des fernen Freundes erinnert an den einsamen Mann in der russischen Eisenbahnstation aus Erinnerungen an die Kaldabahn.

Interpretationsvielfalt

Das Urteil ist wohl das am meisten interpretierte Werk Kafkas, vielleicht sogar der deutschsprachigen Literatur überhaupt. Es sind inzwischen weit mehr als 200 veröffentlichte deutschsprachige Deutungsversuche bekannt und ein Ende ist nicht absehbar. Die amerikanische Kritikerin Susan Sontag hat es so formuliert, dass Kafka das Opfer einer Massenvergewaltigung durch eine Armee von Interpreten geworden sei.[12]

Diese Geschichte mit ihren sich extrem wandelnden Personen und Zusammenhängen hat insbesondere die Literaturtheorie mit ihren unterschiedlichen Methoden (u. a. Hermeneutik, Strukturalismus, Rezeptionsästhetik, Diskursanalyse) zu vielfältigen Interpretationsaktivitäten veranlasst.[13] Siehe hierzu auch die Interpretation seines Werkes.

Kafka selbst hat sich in Briefen und Tagebuchaufzeichnungen verschiedenfach interpretatorisch mit dem Urteil beschäftigt. Bezeichnend ist sein Satz „Sicher bin ich dessen aber auch nicht.[7]

Biographische Deutung

Die Erzählung kann man im unmittelbaren biographischen Zusammenhang mit Kafka selbst deuten. Sie lässt sich sowohl auf den eigenen Vater-Sohn-Konflikt Kafkas, als auch auf einen ähnlichen Fall im Freundeskreis Kafkas zurückführen. Man erkennt drei wesentliche Lesarten, die auf die innerliche Beziehung von Kafka zu seiner Figur Georg abheben:

  • Die Erzählung berührt zum einen den Untergrundkampf der Gefühle zwischen Vater und Sohn, der Kafka bekanntlich zeitlebens belastet. Sein Selbstgefühl ist vom Urteil des Vaters abhängig, doch dieses signalisiert ihm immer wieder, dass seine Erfolge nichtig seien und es schließlich schlimm mit dem Sohn ausgehen wird. Kafka entwickelt das schuldhafte Lebensgefühl eines Betrügers. Innerhalb der Erzählung wirft der Vater dem Sohn gerade eine solche Falschheit vor. Kafkas (auch aus anderen Quellen gespeistes) existentielles Schuldgefühl, das sich mitunter in einer geradezu masochistischen Selbstvernichtungslust äußert, findet in der Erzählung ihre Entsprechung in der widerspruchslosen Hinnahme der Anklagerede und der willfährigen Selbsthinrichtung.[14]
  • In einer zweiten Sinnschicht berührt die Erzählung die Lebenssünde der Gefühlskälte, die Kafka sich innerlich vorwarf. Sie besteht in einer Lieb- und Herzlosigkeit anderen Menschen (hier: dem Freund, der Verlobten und dem Vater) gegenüber und im Vorwiegen der Selbstbezogenheit (Kafkas Verehelichungsprobleme!). Der Vater wirft Georg diese Lebenssünden (mehr oder minder verschlüsselt) an den Kopf; und die klaglose Annahme des Urteils spricht dafür, dass dies einem tödlichen Selbsterkennungsakt (Georgs wie Kafkas) entspricht.[14]
  • Die dritte Lesart richtet ihr Augenmerk darauf, dass Georgs Freund viele Attribute aufweist, mit denen man Kafka selbst beschreiben kann. Der Freund hat keinen Geschäftssinn, lebt menschenabgekapselt und ohne weibliche Beziehung – stellt also ein Alter Ego Kafkas dar. Die Erzählung verkörpert dann eine innerpersonale Auseinandersetzung zweier Persönlichkeitsanteile Kafkas, wobei Georg eher das von Kafkas realem Vater gewünschte Idealbild des Sohnes darstellt (geschäftsinteressiert, gesellschaftlich eloquent, heiratswillig), während der dem Erzählungs-Vater scheinbar näherstehende Freund gerade Kafkas eigentliche Wesenszüge verkörpert. Kafka lässt sich als Autor gewissermaßen auf das Gedankenspiel ein, dass er als Georg dieser vaterkonforme Geschäftsmann sei, der er in Wirklichkeit nicht sein konnte – und zugleich imaginiert er sich die Wunscherfüllung, sein Vater liebe im Grunde gerade den weltabgekehrten Sohn. Es ist aber wiederum bezeichnend, dass Kafka diesen Selbstverrat an seinem dominanten, eben weltabgekehrten Ich tödlich ahndet.[11]

Erhellend für das „Urteil“ ist Kafkas Brief an den Vater, der sieben Jahre später verfasst wurde. Hier finden sich verschiedene Motive aus dem „Urteil“ wieder, beispielsweise die starke, redehemmende Verunsicherung des Sohnes, die Riesenhaftigkeit des Vaters und die vom Vater als anstößig dargestellte Verlobte. Im gleichen Jahr 1919 erschien auch Elf Söhne, in dem die teils latente, teils offene Ablehnung der elf verschiedenen Söhne durch einen letztlich unglücklichen Vater dargestellt wird. Auch zur kurz nach dem Urteil entstandenen Novelle Die Verwandlung bestehen innere Bezüge. Auch dort ist ein Sohn, der den Forderungen seiner Familie nicht gerecht wird und der am Schluss zum Verschwinden (quasi auch zum Selbstmord) aufgefordert wird und stirbt.

Dass Kafka das „Urteil“ seiner neuen Freundin Felice Bauer widmet, ist nicht ohne Risiko. Die Frau in der Geschichte mit den Initialen F. B. wird vom Vater als ordinär dargestellt. Die Beziehung zu ihr ist einer der erkennbaren Gründe, warum der Vater Georg so sehr ablehnt. Wie Felice das auf sich bezogen hat, scheint nicht bekannt. Ihre Briefe hat Kafka nach der späteren zweiten Entlobung offensichtlich ganz vernichtet, sie sind nicht erhalten.[7]

Bei einer unmittelbaren Identifizierung Kafkas mit Georg Bendemann sollte allerdings folgendes bedacht werden:

Kafkas Vater hatte mit seinem Sohn eben gerade nicht das Problem, dass dieser ihn verdrängen oder dominieren wollte, sondern das genaue Gegenteil war der Fall.

Kafka war im übrigen ein ausgezeichneter, akrobatischer Schwimmer.[15] Ein Sprung aus großer Höhe in einen Fluss wäre für ihn ein sportliches Kunststück, aber kaum eine sichere Selbstmordmethode gewesen. Andererseits war für Kafka Jahre später die Vorstellung des großen Schwimmers präsent, der zu großen sportlichen Ehren gelangt, aber eigentlich gar nicht schwimmen kann.[16]

Zitate

  • Georg über den Freund: Folgte er aber wirklich dem Rat....so bliebe er dann trotz allem in seiner Fremde, verbittert durch die Ratschläge, und den Freunden noch ein Stück mehr entfremdet.. fände sich nicht in seinen Freunden und nicht ohne sie zurecht, litte an Beschämung, hätte jetzt wirklich keine Heimat und keine Freunde mehr; war es da nicht viel besser für ihn, er blieb in der Fremde, so wie er war?
  • Auf seinen Armen trug er den Vater ins Bett. Ein schreckliches Gefühl hatte er, als er während der paar Schritte zum Bett hin merkte, dass sein Vater mit seiner Uhrkette spielte.
  • Der Vater: Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wusstest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch. – Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!

Rezeption

  • Stach (S.115 ff.) betont die positiv-bestätigende Wirkung des Urteils auf Kafka selbst als Literat. Es war sein erstes Werk aus einem Guss, das in einem einzigen produktiven Schub entstand ohne diverse fragmentarische Stadien.
  • Alt (S. 324) schreibt, dass ein Kampf in Szene gesetzt wird, bei dem die Gesten und die Körperhaltungen eine eigene Machtordnung veranschaulichen.
  • Sudau (S. 57): „Wenn in Georgs Vater wie im Türhüter Vor dem Gesetz das Lächerliche und das Erhabene, die Niedertracht und die Anmutung von Gottesrepräsentanz gleichzeitig präsent sind, so wird jede Aussicht auf eine eindeutige Lesbarkeit der Welt – und eine eindeutige Interpretierbarkeit von Kafkas Texten – zuschanden.“

Literatur

Textausgaben

  • Das Urteil. Eine Geschichte von Franz Kafka. In: Arkardia. Ein Jahrbuch für Dichtkunst. Herausgegeben von Max Brod. Kurt Wolff, Leipzig, 1913 (Erstdruck)
  • Franz Kafka. Sämtliche Erzählungen. Herausgegeben von Paul Raabe. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main und Hamburg, 1970. ISBN 3-596-21078-X.
  • Franz Kafka: Drucke zu Lebzeiten. Herausgegeben von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1996, S. 41-61.

Sekundärliteratur

Weblinks

Datei:Franz Kafka - Das Urteil Cover 2008.jpg
Franz Kafka - Das Urteil - gelesen von Hans-Jörg Große - Berlin, 2008.
Wikisource: Das Urteil – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

  1. Peter-André Alt: Franz Kafka: Der ewige Sohn. C.H. Beck, München 2005, ISBN 3-406-53441-4, S. 324
  2. a b Kafkas „Urteil“ und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen. Reclam, S. 97 Stefan Neuhaus
  3. Franz Kafka: Erzählungen II. S. 34, Cerstin Urban.
  4. Ralf Sudau: Franz Kafka: Kurze Prosa / Erzählungen. 2007, ISBN 978-3-12-922637-7, S. 52 f.
  5. Peter-André Alt: Kafka und der Film. Beck, 2009, ISBN 978-3-406-58748-1, S. 75/76
  6. Franz Kafka Tagebucheintrag 11. Februar 1913
  7. a b c d Literaturwissen Franz Kafka, Reclam, S. 74, Carsten Schlingmann
  8. Joachim Pfeiffer: Franz Kafka – Die Verwandlung / Der Brief an den Vater. Oldenbourg Interpretationen, ISBN 3-486-88691-6, S. 126, Thomas Anz
  9. Peter-André Alt: Franz Kafka: Der ewige Sohn. C.H. Beck, München 2005, ISBN 3-406-53441-4, S. 310
  10. Ralf Sudau: Franz Kafka: Kurze Prosa / Erzählungen. 2007, ISBN 978-3-12-922637-7, S. 54
  11. a b Ralf Sudau: Franz Kafka: Kurze Prosa / Erzählungen. 2007, ISBN 978-3-12-922637-7, S. 43
  12. Kafkas „Urteil“ und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen. Reclam, S. 29
  13. Kafkas „Urteil“ und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen. Reclam
  14. a b Ralf Sudau: Franz Kafka: Kurze Prosa / Erzählungen. 2007, ISBN 978-3-12-922637-7, S. 38
  15. Peter-André Alt: Franz Kafka: Der ewige Sohn. Eine Biographie. Beck, München 2005, ISBN 3-406-53441-4, S. 206
  16. Reiner Stach: Kafka – Die Jahre der Erkenntnis. S. Fischer, ISBN 978-3-10-075119-5, S. 402