Muttersprache

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Internationaler Tag der Muttersprache in Sydney, Australien. Inschrift: Conserve your mother language

Als Muttersprache bezeichnet man die in der frühen Kindheit ohne formalen Unterricht erlernte Sprache. Das Wort wurde nach Kluge vermutlich nach dem Vorbild des lateinischen lingua materna (dt. wörtlich: Sprache mütterlicherseits) geprägt.

Eine Sprache wird in der Regel durch eine enge Bezugsperson oder durch die Mutter vermittelt (daher „Muttersprache“). Verbunden mit dem Begriff ist außerdem eine allgemeine Vorstellung, dass die Muttersprache die Sprache ist, die ein sich verbal ausdrückendes Individuum (Muttersprachler) am besten beherrscht.[1]

Definitionen

Der Ausdruck „Muttersprache“ wird im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet und findet sich auch in vielen Fachbüchern wieder. Obwohl er dabei lediglich im übertragenem Sinne benutzt wird und darin bedeutet, dass diese Sprache zuhause gesprochen wurde und nicht in der Schule erlernt ist, gibt es unterschiedliche Betrachtungen dazu:

Der Duden definiert Muttersprache als „Sprache, die ein Mensch als Kind (von den Eltern) erlernt [und primär im Sprachgebrauch] hat.“[2]

Neben Muttersprachler wird zuweilen im Deutschen die englische Entsprechung Native Speaker verwendet, mit der Bedeutung im Englischen, dass diese Sprache als Kleinkind erlernt wurde. Alternativ dazu spricht man im Englischen ebenfalls von mother tongue.[3]

Der US-amerikanischen Linguistin Suzanne Romaine zufolge suggeriert der Ausdruck, dass es sich bei der Muttersprache um die Sprache handelt, die von der Mutter gesprochen und von ihr erlernt wird. Dies ist in vielen Gesellschaften, in denen Menschen mehrere Sprachen sprechen und Paare häufig gemischtsprachig sind, nicht immer zutreffend. So kann es durchaus sein, dass das Kind zunächst die Sprache des Vaters, der Großeltern oder einer anderen Betreuungsperson lernt, weil diese die primären Bezugspersonen sind.[4]

Häufig wird mit dem Begriff „Muttersprache“ assoziiert, dass die Muttersprache die Sprache ist, die ein Individuum im Vergleich zu allen weiteren erlernten Sprachen am besten beherrscht. Auch dies ist nicht notwendigerweise so, denn Individuen können z. B. durch Migration in andere Länder weitere Sprachen erlernen und diese dann ausschließlich nutzen, so dass die Kompetenz in der Muttersprache abnimmt oder ganz verloren geht.[5][6]

In der Linguistik wird der Ausdruck „Erstsprache“ (Abkürzung: L1) bevorzugt, um die erste in der Kindheit erworbene Sprache zu bezeichnen.[7]

Trotz der unterschiedlichen Interpretationen verwenden Linguisten und auch Institutionen wie z. B. die UNO, weiterhin den Ausdruck „Muttersprache“, zum Teil aber in dem eher weiteren Sinne „eine Sprache, die im Heim eines Individuums in früher Kindheit gesprochen wurde, aber nicht notwendigerweise die Sprache, die von ihm aktuell gesprochen wird“.[8]

Erwerb der Muttersprache

Der Psychologe Steven Pinker und der Linguist Noam Chomsky nehmen an, dass der junge Mensch über angeborene Strukturen verfügt (Universalgrammatik), die den Spracherwerb aktiv unterstützen (vgl. Generative Grammatik). Diesen Ansatz erweitert Jerome Bruner um ein elterliches „Spracherwerbsunterstützungssystem“, das dazu führt, dass Interaktion mit Kleinkindern deren Lernen besonders anregt. Neuere Forschungen zeigen, dass der Spracherwerb auch ohne die Annahme angeborener sprachspezifischer Gehirnstrukturen erklärbar ist (Konnektionismus, Kulturtheorien); der Neocortex zeigt eine hohe neuronale Plastizität in den frühen Jahren und das Kind ist in der Regel äußerst anregenden Lernumgebungen über lange Zeit ausgesetzt. Wichtig ist dabei, dass andere Menschen über vergleichbare geistige Strukturen (Absichten, Zwecke) verfügen, die das Kind mit ihnen durch die Sprache teilen kann (Theory of Mind, Kulturtheorie von Tomasello). Gemeinsames Handeln in größeren Gruppen scheint auch aus evolutionärer Sicht der Anlass zur Ausbildung der Sprache gewesen zu sein (Dunbar).

Mehrsprachigkeit oder Bilingualismus

Mit Bilingualismus wird die Fähigkeit eines Individuums bezeichnet, zwei oder mehr Sprachen zu beherrschen. Ein Individuum kann z. B. bilingual werden, wenn es als Kind zwei Sprachen ausgesetzt ist – der Sprache der Mutter und der des Vaters (oder einer weiteren engen Bezugsperson). In vielen Familien wird das Prinzip „eine Person – eine Sprache“ umgesetzt, d. h. das jeweilige Elternteil spricht mit dem Kind in seiner Muttersprache.[9]

Bilingual im strengeren Sinne heißt, dass die Zweitsprache mit ebenso hoher Kompetenz wie die Muttersprache gesprochen wird. In den USA, aber auch in anderen Teilen der Welt, ist die Tendenz zu beobachten, jede Person, die über einigermaßen brauchbare Fremdsprachen­kenntnisse verfügt, als „bilingual“ beziehungsweise „multilingual“ zu bezeichnen. Sprachenpolitisch kann dies als der Versuch gesehen werden, die tatsächliche Mehrsprachigkeit großer Bevölkerungsgruppen, die neben der Majoritätssprache eine andere Muttersprache sprechen, im Verhältnis zu der als idealisiert aufzufassenden und nur vorgestellten reinen und perfekten Einsprachigkeit aufzuwerten.

Die Muttersprache bei Volkszählungen

Bei der Entstehung von Nationen und in internationalen territorialen Auseinandersetzungen, auch in den Kolonien, spielte die Sprache eine zunehmende Rolle. In der Revue des Deux Mondes wurde 1842 veröffentlicht, dass „die wahren natürlichen Grenzen nicht durch Berge und Flüsse bestimmt [wurden], sondern durch die Sprache, Gebräuche, die Erinnerungen und alles, was eine Nation von der anderen unterscheidet“.[10] Der 1860 abgehaltene Internationale statistische Kongress in St. Petersburg bezeichnete die Sprache als einzigen Aspekt der Nationalität, der sich zumindest objektiv zahlenmäßig erfassen und in Tabellen darstellen lässt.[11] Der letztendliche Beschluss des Kongresses machte die Frage der Muttersprache in Volkszählungen nicht obligatorisch. Es war den einzelnen Regierungen überlassen, ob eine solche Frage von „nationaler“ Bedeutung sei oder nicht. Der statistische Kongress von 1873 sprach sich hingegen dafür aus, diese Frage künftig in alle Volkszählungen mit aufzunehmen.[10]

Die Frage nach der Muttersprache war insbesondere in der österreichisch-ungarischen Monarchie kontrovers, da man befürchtete, dadurch das Aufkommen des Nationalismus zu begünstigen. Daher wurde diese Frage erst ab 1880 eingeführt. Seitdem entwickelte sich jede Volkszählung zu einem Kampfplatz zwischen den einzelnen Nationalitäten und alle noch so ausgeklügelten Schlichtungsversuche der Behörden blieben erfolglos.[10]

Im Habsburgerreich entschied man sich dagegen, die Sprache des öffentlichen Lebens als Frage bei Volkszählungen zu wählen, da die Möglichkeit bestand, dass diese durch die Regierung oder eine Partei der Bevölkerung aufgezwungen worden war. Insbesondere der österreichische Statistiker Adolf Ficker sprach sich dafür aus, den ständigen Wandel der Sprache und vor allem die sprachliche Assimilierung zu berücksichtigen, indem die Bürger nicht nach deren Muttersprache oder (im Wortsinne) nach deren Sprache befragt wurden, die sie als erste von ihren Müttern gelernt hatten, sondern nach deren „Familiensprache“, das heißt, nach der Sprache, deren sich das betreffende Individuum im Familienkreis gewöhnlich bedient. Volkszählungen zwangen in ihrer Frage nach der Sprache daher zum ersten Mal jedermann dazu, nicht nur eine Nationalität, sondern eine sprachliche Nationalität zu wählen.[11]

Siehe auch

Literatur

  • Britta Jung, Herbert Günther: Erstsprache, Zweitsprache, Fremdsprache: Eine Einführung. Beltz, Weinheim/ Basel 2004, ISBN 3-407-25731-7.
  • Christina Kauschke: Kindlicher Spracherwerb im Deutschen: Verläufe, Forschungsmethoden, Erklärungsansätze. De Gruyter, Berlin/ Boston 2012, ISBN 978-3-11-028388-4.
  • Suzanne Romaine: Bilingualism. 2. Auflage. Blackwell, Oxford 1995, ISBN 0-631-19539-4.

Weblinks

Wiktionary: Muttersprache – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Suzanne Romaine: Bilingualism. 2. Auflage. Blackwell, Oxford 1995, ISBN 0-631-19539-4, S. 19, 22.
  2. Muttersprache https://www.duden.de abgerufen am 3. Sept. 2019
  3. mother tongue https://dictionary.cambridge.org abgerufen am 3. Sept. 2019
  4. Suzanne Romaine: Bilingualism. 2. Auflage. Blackwell, Oxford 1995, ISBN 0-631-19539-4, S. 19–20.
  5. Britta Jung, Herbert Günther: Erstsprache, Zweitsprache, Fremdsprache: Eine Einführung. Beltz, Weinheim/ Basel 2004, ISBN 3-407-25731-7, S. 56–57.
  6. Suzanne Romaine: Bilingualism. 2. Auflage. Blackwell, Oxford 1995, ISBN 0-631-19539-4, S. 22.
  7. Suzanne Romaine: Bilingualism. 2. Auflage. Blackwell, Oxford 1995, ISBN 0-631-19539-4, S. 19.
  8. Suzanne Romaine: Bilingualism. 2. Auflage. Blackwell, Oxford 1995, ISBN 0-631-19539-4, S. 19.
  9. Christina Kauschke: Kindlicher Spracherwerb im Deutschen: Verläufe, Forschungsmethoden, Erklärungsansätze. De Gruyter, Berlin/ Boston 2012, ISBN 978-3-11-028388-4, S. 121.
  10. a b c Eric J. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. 1990, S. 116 ff.
  11. a b Emil Brix: Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880–1910. 1982.