Australopithecus sediba

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Australopithecus sediba
Zeitliches Auftreten
Pleistozän (Gelasium)
um 1,9 Mio. Jahre
Fundorte
Systematik
Altweltaffen (Catarrhini)
Menschenartige (Hominoidea)
Menschenaffen (Hominidae)
Hominini
Australopithecus
Australopithecus sediba
Wissenschaftlicher Name
Australopithecus sediba
Berger et al., 2010

Australopithecus sediba ist eine Vormenschen-Art der Gattung Australopithecus, die vor etwa 1,9 Millionen Jahren im Gebiet des heutigen Südafrika lebte. Die Art wurde 2010 von einer Paläontologen-Gruppe um Lee Berger erstmals wissenschaftlich beschrieben.[1] In der Erstbeschreibung heißt es, Australopithecus sediba stamme vermutlich von Australopithecus africanus ab und weise mehr gemeinsame Zahn- und Knochenmerkmale mit den frühesten Vertretern der Gattung Homo auf als jede andere bisher beschriebene Australopithecus-Art. Australopithecus sediba könne daher als potentieller Vorfahre der frühen Homo-Arten („potentially ancestral to Homo“) interpretiert werden.

Der zweite Namensbestandteil sediba bedeutet in der Bantusprache Sesotho „Brunnen“ oder „Quelle“, im übertragenen Sinne auch „Ursprung“.[2] Die genaue Position von Australopithecus sediba im Stammbaum der Hominini ist noch ungeklärt.[3]

Das Typusexemplar

Typusexemplar von Australopithecus sediba ist das teilweise erhaltene Skelett Malapa Hominin 1 (MH1). Entdeckt wurde es in der Malapa-Höhle. Sie liegt 40 Kilometer westlich von Johannesburg und 15 km nordnordöstlich der bekannten Fossilienfundstätten von Sterkfontein, Swartkrans und Kromdraai. Auch die Malapa-Höhle befindet sich im Gebiet des UNESCO-Welterbes Cradle of Humankind. Entdecker des ersten Fossils von Australopithecus sediba – des rechten Schlüsselbeins, Archivnummer UW88[4] – war am 15. August 2008 Matthew Berger, der neunjährige Sohn von Lee Berger.

MH1 stammt von einem jugendlichen Individuum, dessen bleibende große Backenzähne schon durchgebrochen waren und in Okklusion standen. Aus Vergleichen mit heute lebenden Menschenaffen und Menschen wurde gefolgert, dass MH1 bereits rund 95 Prozent des Schädelvolumens eines Erwachsenen aufwies. Verglichen mit heute lebenden Kindern spräche dies für ein Alter von 12 bis 13 Jahren; allerdings vollzog sich die Entwicklung der Australopithecinen rascher, das Kind starb also in einem jüngeren Lebensalter. Sein Entwicklungsstand ist am ehesten vergleichbar mit den Fossilien OH7, dem Holotypus von Homo habilis, und KNM-WT 15000, bekannt als Turkana Boy.

Erhalten sind von MH1 unter anderem der Gesichtsschädel einschließlich zahlreicher, relativ kleiner Zähne des Oberkiefers, Teile des ebenfalls bezahnten Unterkiefers, ein Oberarmknochen, ein Wadenbein sowie diverse Fragmente aus dem Bereich der Wirbelsäule, der Rippen und des Beckens. Für das Innere des Schädels wurde ein Volumen von nur 420 Kubikzentimetern rekonstruiert.

Als Paratypus wurde MH1 das Teilskelett MH2 eines erwachsenen Individuums zur Seite gestellt, das in weniger als 50 Zentimeter Entfernung von MH1 gefunden worden war. Das erste von MH2 entdeckte Fossil war ein Oberarmknochen (UW 88-57), den Lee Berger am 4. September 2008 entdeckte. MH2 konnte unter anderem ein einzelner Oberkieferzahn, Unterkiefer-Fragmente sowie ein weitgehend erhaltener rechter Arm einschließlich der fast vollständig erhaltenen Knochen aus dem Bereich der Schulter und der Finger zugeordnet werden. Die Armknochen von MH2 wurden in anatomisch korrekter Anordnung freigelegt, während die Knochen von MH1 über eine Fläche von rund zwei Quadratmetern verstreut lagen.[5] Da auch das Schambein sowie weitere Fragmente des Hüftbeins erhalten blieben, konnte MH2 als vermutlich weiblich identifiziert werden. Aus dem Vergleich der erhaltenen Arm- und Beinknochen, an denen die Muskelansätze noch gut zu erkennen sind, ergibt sich, dass die Arme – wie bei anderen Australopithecus-Arten, nicht jedoch wie bei den Homo-Arten – in Relation zu den Beinen „affenähnlich“[6] lang waren.

Der Schädel von MH1 zeichnet sich der Erstbeschreibung zufolge durch ein Mosaik von teils abgeleiteten Merkmalen, teils ursprünglichen Merkmalen aus, die ihn sowohl von den älteren Chronospezies Australopithecus anamensis und Australopithecus afarensis unterscheidbar machen als auch von späteren Arten der Gattung Homo. Von Australopithecus garhi unterscheide sich Australopithecus sediba beispielsweise durch das Fehlen des Prognathismus (keine ausgeprägte Schnauze, da kein markanter Vorstand des Oberkieferknochens), von den Arten der Gattung Paranthropus durch das Fehlen ihrer Merkmale für extrem kräftige Nacken- und Kaumuskeln. Am ehesten ähnele MH1 Australopithecus africanus, der jedoch beispielsweise ein weit ausladenderes Jochbein und einen weniger ausgeprägten Kinnknochen besitze.

Die mit nur 420 Kubikzentimetern sehr geringe Gehirngröße (schon Homo rudolfensis werden ca. 750 Kubikzentimeter zugeschrieben[7]) und die auf nur knapp 1,30 Meter geschätzte Körpergröße von MH1 und MH2 werden in der Erstbeschreibung als dafür Gründe angegeben, die Fossilien als weitere Art der Gattung Australopithecus einzuordnen und nicht als weitere Art der Gattung Homo. Gleichwohl teile Australopithecus sediba mit den frühen Homo-Arten diverse anatomische Merkmale, vor allem im Bereich des Beckens und der Hüftgelenke, die auf eine Steigerung der Effizienz des zweibeinigen Laufens im Vergleich zu Vorläuferarten schließen lassen. Außerdem rangiere die Größe der Prämolaren und der Molaren am untersten Ende der von Australopithecus africanus bekannten Funde, sie gleiche vielmehr derjenigen von Homo habilis, Homo rudolfensis und Homo erectus. Der Bau der Füße sei hingegen weniger Homo-ähnlich.

Datierung und Habitat

Beide Skelette wurden kurz nach ihrem Tod gemeinsam unter Schutt begraben und so vor der Zerstörung durch Aasfresser bewahrt. Mit Hilfe der Uran-Blei-Datierung konnte für eine unter den Skeletten liegende Bodenschicht ein Alter von 2,026 ± 0,021 Millionen Jahre bestimmt werden; für die darüber liegende, Fossilien bergende Schicht ergab sich anhand magnetostratigraphischer Analysen ein Alter von 1,95 bis 1,78 Millionen Jahre.[8] In der Erstbeschreibung wurde angemerkt, dass bisher keine Aussage darüber möglich ist, seit wann und wie lange die Art existierte.

Begleitfunde von Dinofelis und Megantereon sowie von fossilen Vorläuferarten der Schabrackenhyänen und der Afrikanischen Wildhunde, der Pferde, der Schweine, der Klippspringer und der Hasen wurden – neben den stratigraphischen Befunden – als Beleg dafür interpretiert, dass alle Tiere zu Lebzeiten in ein Höhlensystem stürzten, das oberseits Öffnungen hatte. Nach ihrem Tod seien sie vermutlich von eindringenden Wassermassen an eine tiefer gelegene Stelle gespült und dort unter angespültem und herabfallendem Gestein verschüttet worden. Später sei das Höhlensystem wieder mit Gestein aufgefüllt und erst im frühen 20. Jahrhundert durch Steinbrucharbeiter wieder teilweise freigelegt worden.

Die Analyse des Habitats von Australopithecus sediba wurde bisher noch nicht publiziert; in einem Interview verwies Lee Berger jedoch auf die zahlreich gefundenen Pflanzenfresser-Fossilien und erwähnte, dass der Fundort vor 1,9 Millionen Jahren bewaldet gewesen sei.[6]

In der Malapa-Höhle wurden neben den beiden Fossilien MH1 und MH2 noch zwei weitere Skelette von Australopithecus sediba entdeckt: ein Kind und ein erwachsenes Individuum, deren wissenschaftliche Beschreibung noch aussteht.

Bedeutung der Funde

Die Fossilien stammen aus einer Epoche, aus der bisher besonders wenige Hominini-Fossilien bekannt sind: weniger als aus der Epoche von Australopithecus afarensis (vor 4,0 bis 2,9 Millionen Jahren) und weniger als aus der Zeit vor rund 1,5 Millionen Jahren und danach. Auf ein Alter von 1,9 Millionen Jahre werden zudem auch die ältesten Funde von Homo erectus datiert, dessen Anatomie „schon in vielen Einzelheiten weitgehend mit der des modernen Menschen überein[stimmt].“[9] Die Australopithecus-Funde aus der Malapa-Höhle füllen somit eine Fossilienlücke genau in jeder Zeit, in der mit Homo erectus der unmittelbare Vorfahre des Homo sapiens erstmals in Erscheinung tritt. Lee Berger bezeichnete seinen Fund daher als „den Rosettastein, der den Zugang zum Verständnis der Gattung Homo aufschließt.“[6]

Im Unterschied zu Lee Berger und den anderen Autoren der Erstbeschreibung, die beide Fossilien als mögliche Übergangsform zwischen Australopithecus und Homo interpretieren, sind andere Paläoanthropologen zurückhaltender. Sie weisen, wie beispielsweise Tim White und Ron Clark, darauf hin, dass es sich um einen späten, südafrikanischen Seitenast der Australopithecinen handeln könne, der neben bereits existierenden Vertretern der Gattung Homo gelebt habe, hieß es in einem Begleitartikel zur Erstbeschreibung.[10] Hintergrund dieser vorsichtigeren Interpretation ist, dass das bisher älteste der Gattung Homo zugeordnete Fossil, der von Friedemann Schrenk entdeckte Unterkiefer eines Homo rudolfensis (Inventarnummer UR 501) auf ein Alter von 2,5 Millionen Jahre datiert wurde und somit deutlich älter ist als die Funde von Australopithecus sediba. Zudem hätten die neuen Funde nur relativ wenige Merkmale mit Homo gemein, so dass diese Kritiker – wie zuvor – Australopithecus afarensis den Status einer Vorläuferart der Gattung Homo zuschreiben. In der Fachzeitschrift Nature wurde kritisiert, dass die Autoren der Erstbeschreibung versäumt hätten, die Variationsbreite von Australopithecus africanus auszuloten, bevor sie die Funde einer eigenen Art zuordneten.[3] Kritisiert wurde zugleich, dass die Beschreibung der Art im Wesentlichen anhand eines jugendlichen Skeletts erfolgte, ohne dass man bisher sicher Daten vorweisen könne, wie gering oder wie erheblich sich Jugendliche von Erwachsenen unterschieden haben.

Einer der Co-Autoren der Erstbeschreibung, Peter Schmid vom Anthropologischen Institut der Universität Zürich, räumte sogar ein, dass die Unterarmknochen „affenähnlich lang“ und die Fingerknochen „robust, gebogen“ seien sowie „starke Ansatzstellen für die Sehnen der Beugemuskeln“ aufweisen, „was auf kräftige Kletterhände deutet“, also auf eine noch stark baumbewohnende (arboreale) Lebensweise.[11] Ähnlich äußerte sich Lee Berger in einem Interview: „It’s got long arms though, long ape-like arms, primitive wrists, and short but powerful and curved fingers.“[6]

Donald Johanson bezeichnete die paläoanthropologischen Funde aus dieser Epoche als „beinahe völlig verwirrend“ („almost totally confusing“).[12]

Weblinks

  • Wikispecies: Australopithecus sediba
  • nature.com vom 8. April 2010: „Claim over 'human ancestor' sparks furore.“ (mit Abbildungen beider Skelette)
  • sciencemag.org vom 9. April 2010: „Special Feature: Australopithecus sediba.“ Linkliste mit Verweisen u. a. auf die digitale Rekonstruktion eines Schädels (Englisch)
  • tagesspiegel.de vom 8. April 2010: „Ecce Homo? In Südafrika haben Forscher einen neuen Urmenschen entdeckt. Er könnte der Vorfahre der Gattung Homo sein.“
  • faz.net vom 9. April 2010: Günter Paul, „Der verschollen geglaubte Uronkel.“

Einzelnachweise

  1. Berger LR, de Ruiter DJ, Churchill SE, Schmid P, Carlson KJ, Dirks PHGM, Kibii JM: Australopithecus sediba: A New Species of Homo-Like Australopith from South Africa. In: Science. 328. Jahrgang, 2010, S. 195–204, doi:10.1126/science.1184944.
  2. A. Mabille, H. Dieterlen: Sesuto-English Dictionary. Morija Sesuto Book Depot, Morija 1985, ohne ISBN
  3. a b nature.com vom 8. April 2010: „Claim over 'human ancestor' sparks furore.“, doi:10.1038/news.2010.171
  4. Alle Funde aus der Malapa-Höhle werden entsprechend dem Regelwerk der University of the Witwatersrand (UW) unter der Archivnummer UW88 registriert.
  5. sciencemag.org vom 9. April 2010: Supporting Online Material for „Australopithecus sediba: A New Species of Homo-like Australopith from South Africa. Text S1“
  6. a b c d sciencemag.org vom 9. April 2010: Transcript eines Interviews mit Lee Berger für ein Science Magazine Podcast
  7. G. J. Sawyer, Viktor Deak: Der lange Weg zum Menschen. Lebensbilder aus 7 Millionen Jahren Evolution. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 2008, S. 79
  8. Paul H. G. M. Dirks et al.: Geological Setting and Age of Australopithecus sediba from Southern Africa. Science, Band 328, 2010, S. 205 – 208, doi:10.1126/science.1184950
  9. Friedemann Schrenk: Die Frühzeit des Menschen. Der Weg zum Homo sapiens. C. H. Beck, München 1997, S. 93
  10. Michael Balter: Candidate Human Ancestor From South Africa Sparks Praise and Debate. Science, Band 328, 2010, S. 154–155, doi:10.1126/science.328.5975.154
  11. idw-online.de vom 8. April 2010: Pressemitteilung der Universität Zürich.
  12. Michael Balter: Candidate Human Ancestor From South Africa Sparks Praise and Debate. Science, Band 328, 2010, S. 155