Benutzer:Greifensee/Lernen durch Lehren (Theorie)

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Das von Jean-Pol Martin seit Beginn der 80er Jahre fortlaufend weiterentwickelte[1] Modell Lernen durch Lehren (LdL) stützt sich als theoretisch untermauertes Gesamtkonzept auf Elemente der humanistischen Psychologie und der Kognitionspsychologie. Ziel ist es, ein anthropologisch motiviertes Lernerkonstrukt anzubieten, das sich vor allem durch Anwendbarkeit auszeichnet.

Kontrolle als zentrales Motiv menschlichen Handelns

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Erweiterte Bedürfnispyramide, angelehnt an Maslow

Transzendenz

Selbstverwirklichung

Soziale Anerkennung

Soziale Beziehungen

Sicherheit

Physiologische Grundbedürfnisse

Martin geht unter Berufung auf Dörner [2] von der Prämisse der Kontrolle als zentrales Motiv menschlichen Handelns aus, die als zunächst physische, aber vor allem kognitive Beherrschung und Durchdringung von Situationen, die Probleme aufwerfen oder ein Ungleichgewicht darstellen, charakterisiert werden kann. Er stützt sein Lernerkonstrukt auf eine anthropologische Basis: Die durch das Bedürfnis nach Transzendenz ergänzte maslowsche Bedürfnispyramide und die systemtheoretische Aufstellung antinomischer Bedürfnistendenzen

  • zwischen Integration (jeder möchte beispielsweise zu einer Gruppe gehören) und Differenzierung (jeder möchte auch als Individuum betrachtet werden),
  • zwischen Einfachheit und Komplexität,
  • zwischen Chaos und Ordnung,
  • zwischen Freiheit und Zwang,
  • zwischen Klarheit und Unbestimmtheit

ordnen sich dem zentralen menschlichen Bedürfnis nach Kontrolle unter, dem LdL Rechnung tragen will. Im Gesamtkonzept LdL werden alle Aktivitäten dem Ziel untergeordnet, dass Lerner ihren Mitschülern vorgegebene oder selbsterstellte Inhalte vermitteln.[3] Dies geschieht unter Berücksichtigung der anthropologischen Grundsätze mit dem Ziel, die Kontrollkompetenz des einzelnen Lerners zu erhöhen: Die Aufgabe, anderen einen Wissensstoff zu vermitteln, soll die Bedürfnisse nach Sicherheit (Aufbau des Selbstbewusstseins), nach sozialem Anschluss und sozialer Anerkennung sowie nach Selbstverwirklichung und Sinn (Transzendenz) befriedigen.

Problemlösen und exploratives Verhalten|Explorieren

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Erfolgreiche Problemlöser mit breiter kognitiver Landkarte können Problemsituationen mit höherer emotionaler Distanz begegnen und ermöglichen eine wirksamere, direktere, objektivere Lösung des Problems. Die Merkmale erfolgreicher Problemlöser (heuristische und epistemische Kompetenz, Abstraktheit und Differenzierung, Empathie und emotionale Distanz)[4] greifen nur vor dem Hintergrund explorativen Verhaltens, das somit in engen Zusammenhang mit der Problemlösefähigkeit tritt: Exploratives Verhalten provoziert das Aufsuchen von Problemsituation und deren Behauptung, ermöglicht die Aufnahme und Verarbeitung neuer kognitiver Schemata, die vor emotionalen Einbrüchen schützen, und erhöht somit die Kontrollkompetenz, erweist sich also als fördernd für das Lösen von Problemen. Systhemtheoretisch bedeutet dies, den Lerner mit Komplexität zu konfrontieren mit der Aufgabe, diese Komplexität letztlich von sich aus reflexartig und routinemäßig aufzusuchen und zu reduzieren, also als erfolgreicher Problemlöser tätig zu werden.

Motivation und Flow

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Flow-Effekt

Das dem explorativen Verhalten inhärente aktive Aufsuchen von Problemsituationen bzw. das Sicheinlassen auf Unbestimmtheit kann nur unter bestimmten Voraussetzungen gefördert werden: Sind die Anforderungen einer Situation im Vergleich zu den eigenen Fähigkeiten zu groß, besteht die Gefahr der Überforderung, des Scheiterns und letztlich der Frustration. Sind im Gegensatz dazu die Fähigkeiten im Vergleich zu den Anforderungen zu gering, ist zwar Entspannung möglich, auf Dauer wird sich aber ein Gefühl der Langeweile, der Unterforderung und letztendlich der Apathie einstellen. Als Lehrperson muss man sich also überlegen, wie man Schüler mit anspruchsvollen, aber lösbaren Problemsituationen konfrontiert und entsprechende Erfolgserlebnisse möglich macht. Flow stellt sich ein, wenn man eine anspruchsvolle, mit den eigenen Fähigkeiten gerade noch lösbare Situation bewältigt, ohne unter- oder überfordert zu sein. Csikszentmihalyi [5] bezeichnet Flow als einen besonderen, dynamischen Zustand, als holistisches „Gefühl bei völligem Aufgehen in einer Tätigkeit, (…) [als] einheitliches Fließen von einem Augenblick zum nächsten.“[6]

Bei LdL werden die durch die Globalisierung und das Internet immer komplexer werdenden, ungeordneten Inhalte durch intensive Kommunikation gemeinsam verarbeitet, bewertet, analysiert und erst a posteriori in Linearität gebracht. Damit dieser Prozess der kollektiven Wissenskonstruktion gelingen kann, müssen sich der Lerner nach dem Prinzip der Ressourcenorientierung verhalten. Jede durch exploratives, unvoreingenommenes Verhalten akquirierte externe Quelle und jeder einzelne Schüler mit seinem Wissen und seinen Ideen trägt also als potentielle Ressource zum Wissensgenerierungsprozess bei. Die Lerner, die die Lehrfunktion übernehmen, müssen diese oft verborgenen Ressourcen erspüren, sensibel nachfragen, also über Netzsensibilität verfügen, die sich nicht nur auf das Arrangement im Klassenzimmer, sondern auch auf die Welt außerhalb sowie das Internet bezieht. Außerdem trainieren die Lerner routinemäßig das Aushalten von Unbestimmtheit und die Reduktion bzw. Kompression von Komplexität, wenn sie den neuen Stoff zunächst für sich selbst verstehen und aufnehmen, strukturieren und schließlich entsprechend dem Prinzip der Aufmerksamkeitsökonomie anschaulich und übersichtlich präsentieren. Lerngewinn und Verständnis müssen reflexartig überprüft und evaluiert werden. Voraussetzung für die kollektive, ressourcenorientierte Wissenskonstruktion ist ein geordneter und disziplinierter Klassenraumdiskurs. Die Klasse selbst wird metaphorisch zum neuronalen Netz umstrukturiert, in dem intensive multipolare Interaktionen zwischen den Schülern stattfinden. Die induzierte Gehirnmetapher gestaltet die Klasse als offenes Wissensnetzwerk, in dem es durch Wissensumformungsprozesse zu Emergenzen kommt, die sich in dieser prosozialen, kooperativen Arbeitsform als Wissen und Problemlösungen präsentieren. Zusätzlich verfolgt LdL nicht nur den Aufbau von Faktenwissen, sondern involviert auch den Schlüsselqualifikations- und Kompetenzbegriff.

Literaturhinweise

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  • M. Csikszentmihalyi: Das flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen. Klett, Stuttgart 1985.
  • M. Csikszentmihalyi: Lebe gut! Wie Sie das Beste aus Ihrem Leben machen. DTV, München 2001
  • D. Dörner et al.: Lohausen - Vom Umgang mit Unbestimmtheit und Komplexität. Hans Huber, Bern 1983.
  • Michael Kratky: Ein neues Paradigma: Wissenskonstruktion und -management im Leistungskurs. Grin, München 2007. ISBN 978-3-638-80349-6
  • Jean-Pol Martin: Zum Aufbau didaktischer Teilkompetenzen beim Schüler. Fremdsprachenunterricht auf der lerntheoretischen Basis des Informationsverarbeitungsansatzes. Dissertation. Narr. Tübingen 1985.
  • Jean-Pol Martin: Vorschlag eines anthropologisch begründeten Curriculums für den Fremdsprachenunterricht. G. Narr, Tübingen 1994.
  • Jean-Pol Martin: Lernen durch Lehren: ein modernes Unterrichtskonzept. In: Schulverwaltung Bayern. 23. Jahrgang. Carl Link / Deutscher Kommunal-Verlag, 2000.
  • Jean-Pol Martin: Weltverbesserungskompetenz als Lernziel? In: Pädagogisches Handeln – Wissenschaft und Praxis im Dialog. 6. Jahrgang, 2002.
  • Abraham H. Maslow: Motivation and Personality. Harper and Row, New York 1954.
  1. Jean-Pol Martin:Zum Aufbau didaktischer Teilkompetenzen beim Schüler. Fremdsprachenunterricht auf der lerntheoretischen Basis des Informationsverarbeitungsansatzes. Dissertation. Tübingen: Narr. 1985 Jean-Pol Martin: Für eine Übernahme von Lehrfunktionen durch Schüler. In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts. 4/1986. S. 395-403 (PDF). Jean-Pol Martin: Schüler in komplexen Lernumwelten. Vorschlag eines kognitionspsychologisch fundierten Curriculums für den Fremdsprachenunterricht. In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts. 3/88. S.294-302 PDF. Jean-Pol Martin: Vorschlag eines anthropologisch begründeten Curriculums für den Fremdsprachenunterricht. Habilitation. Tübingen: Narr 1994. Jean-Pol Martin: Das Projekt „Lernen durch Lehren“ - eine vorläufige Bilanz. In: Henrici/Zöfgen (Hrsg.): Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL). Themenschwerpunkt: Innovativ-alternative Methoden. 25. Jahrgang (1996). Tübingen: Narr, S. 70-86 (PDF; 0,2 MB), Jean-Pol Martin (2002a): Weltverbesserungskompetenz als Lernziel? In: Pädagogisches Handeln – Wissenschaft und Praxis im Dialog, 6. Jahrgang, 2002, Heft 1, S. 71-76 (PDF), Jean-Pol Martin (2002b): Lernen durch Lehren (LdL). In: Die Schulleitung - Zeitschrift für pädagogische Führung und Fortbildung in Bayern, 4/2002, S. 3-9 (PDF; 70 KB)
  2. Dörner D. et al., Lohausen - Vom Umgang mit Unbestimmtheit und Komplexität, Bern: Hans Huber, 1983.
  3. vgl. Martin (2000) S. 107f.
  4. Dörner u.a. (1983), S. 400f.
  5. vgl. Csikszentmihalyi (2001)
  6. Csikszentmihalyi (1985), S.58ff

Kategorie:Pädagogische Methode/Lehre Kategorie:Reformpädagogik Kategorie:Lernpsychologie Kategorie:Didaktik