Benutzer:Shikeishu/Imperialer Bumerang-Effekt

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Backfire-Effekt

Deutschsprachige Literatur

Der imperiale Bumerang-Effekt ist die Theorie, dass Regierungen jene Unterdrückungsmechanismen, die sie in ihren Kolonialgebieten einsetzen, letztendlich auch auf die eigene Bevölkerung anwenden. Das Konzept wurde erstmals von Aimé Césaire in Über den Kolonialismus (1950) benannt, der es den „gewaltigen Bumerang“ nannte, um die Ursprünge des europäischen Faschismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erklären.[1][2] Hannah Arendt stimmte dem in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) zu. Gemäß den beiden, seien die Methoden Adolf Hitlers und der NSDAP aus globaler Sicht keine Ausnahme, da europäische Kolonialmächte bereits seit Jahrhunderten im Rahmen der Kolonisierung Millionen von Menschen umgebracht hätten. Die Ausnahme sei, dass diese Mechanismen innerhalb Europas gegenüber Europäern angewandt würden anstatt gegenüber kolonisierten Menschen im Globalen Süden.[3] Manchmal wird die Theorie Foucaults Bumerang genannt, auch wenn Michel Foucault den Begriff nicht selbst geschaffen hat.

Césaires ursprüngliche Verwendung (1950)

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Aimé Césaire im Jahr 2003

Im Jahr 1950 schuf und beschrieb Aimé Césaire den Begriff in seiner Analyse der Entwicklung von gewaltvollen, faschistischen und brutalen Tendenzen innerhalb Europas und wie diese mit dem europäischen Kolonialismus zusammenhängt. Césaire schrieb in Über den Kolonialismus:

„Und dann, eines schönen Tages, wird die Bourgeoisie durch einen gewaltigen Bumerangeinschlag aus dem Schlaf gerissen: Die Gestapo treibt ihr Unwesen, die Gefängnisse füllen sich, rings um die Folterbänke erfinden, verfeinern, debattieren die Folterlmechte. Man wundert sich, man ist empört. Man sagt: »Das ist aber seltsam! Aber was soll's: Das ist der Nazismus, der vergeht auch wieder!« Und man wartet, und man hofft; und verschweigt sich selbst dieWahrheit, nämlich dass dies eine Barbarei ist, aber die äußerste Barbarei, diejenige, die der Alltäglichkeit der Barbareien die Krone aufsetzt und sie alle in sich einschließt; dass das der Nazismus ist, ja, aber dass man, bevor man sein Opfer wurde, sein Komplize gewesen ist; dass man diesen Nazismus geduldet hat, bevor man ihn am eigenen Leib zu spüren bekam, dass man ihm die Absolution erteilt, dass man die Augen vor ihm verschlossen, dass man ihn legitimiert hat, weil er bis dahin nur nichteuropäischen Völkern verabreicht wurde; dass man diesen Nazismus gehegt und gepflegt hat, dass man für ihn verantwortlich ist und dass er aus sämtlichen Spalten und Ritzen der westlichen und christlichen Zivilisation herausquillt, herausdringt, heraustropft, bevor er diese in seine geröteten Wasser hineinreißt.“

Aimé Césaire: Über den Kolonialismus (1950)[2]

In der deutschen Übersetzung wird das Konzept als „gewaltiger Bumerangeinschlag“ benannt;[2] im französischen Original verwendet Césaire nicht den Begriff „Bumerang“, sondern schreibt von „un formidable choc en retour“ („einem gewaltigen Schock zurück“).[4]

Arendts Verwendung (1951)

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Hannah Arendt im Jahr 1933

In ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft argumentiert Hannah Arendt, sowohl die Sowjetunion als auch der Nationalsozialismus seien eine spätere und grausame Ausformung von Gewalt in den europäischen Kolonien in Afrika und Asien. Sie meint, der russische Panslawismmus sei eine Entwicklungsstufe des Rassismus and Totalitarismus. Alexander Etkind führte ihre Analyse im Buch Internal Colonization: Russia's Imperial Experience fort.

Foucaults Verwendung (1976)

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In seiner Vorlesungsreihe In Verteidigung der Gesellschaft im Jahr 1976 griff der französische Philosoph Michel Foucault diese Ideen auf.[5] Foucault schrieb:

Man sollte nicht vergessen, daß die Kolonisation mit ihren Techniken und ihren politischen und rechtlichen Waffen europäische Modelle auf andere Kontinente übertragen, daß sie aber auch zahlreiche Rückwirkungen auf die Machtmechanismen, die Apparate, die Institutionen und Machttechniken im Abendland gehabt hat. Es gab eine ganze Sene von kolonialen Modellen. die ins Abendland zurückgebracht wurden und bewirkt haben, daß das Abendland an sich selbst so etwas wie eine Kolonisierung, einen internen Kolonialismus, durchgeführt hat.[6]

Spätere Verwendung

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Der imperiale Bumerang-Effekt wurde in den Kontext von Militarisierung der Polizei und Polizeigewalt gegenüber politischem Protest in städtischen Zentren gesetzt. Diese Entwicklung sei weltweit weiter forangeschritten,[7] weil die Globalisierung von militarisierter Polizei ein wichtiger Aspekt der Außenpolitik von westlichen imperialistischen Staaten wie der Vereinigten Staaten sei. Die frühen Experimente in der Entwicklung von Zwangsmaßnahmen durch Staatsorgane und Niederschlagung von Aufständen seitens der Vereinigten Staaten hätten währen der US-amerikanischen Kolonisierung der Philippinen begonnen.[3][8]

Der Soziologe Julian Go schreibt, britische und US-amerikanische Kolonialstreitkräfte hätten Methoden zur Niederschlagung von Aufständen in die heimische Polizei rückübertragen:

We can better see how the history of policing is entangled with imperialism and recognize that what is typically called “the militarization of policing” is in an effect of the imperial boomerang—a result of imperial-military feedback.[9]

Der Politikwissenschaftler Stuart Schrader argumentiert, der imperiale Bumerang-Effekt sei kein linearer Prozess. In den Vereinigten Staaten habe imperialistische und rassistische Gewalt schon weit vor dem Höhepunkt des US-amerikanischen Kolonialismus stattgefunden.[10]

  1. Tanzil Chowdhury: The "Terrific Boomerang". In: Goethe-Institut. Juni 2022, abgerufen am 23. Juli 2024.
  2. a b c Aimé Césaire: Über den Kolonialismus. 3. Auflage. Alexander Verlag, 2021, S. 33 f.
  3. a b Connor Woodman: The Imperial Boomerang: How colonial methods of repression migrate back to the metropolis. In: Verso Books. 9. Juni 2020, abgerufen am 23. Juli 2024 (englisch). Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag. Der Name „Woodman“ wurde mehrere Male mit einem unterschiedlichen Inhalt definiert.
  4. Aimé Césaire: Discours sur le colonialisme. Présence Africaine, Paris 1950, S. 7 (französisch).
  5. Stephen Graham: Foucault's boomerang: the new military urbanism. In: openDemocracy. 14. Februar 2013, abgerufen am 23. Juli 2024 (englisch).
  6. Michel Foucault: Vorlesung vom 4. Februar 1976. In: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-1976). Suhrkamp, 1999, S. 120.
  7. Jeanne Morefield: Beyond Boomerang. In: International Politics Reviews. 8. Jahrgang, Nr. 1, Juni 2020, S. 3–10, doi:10.1057/s41312-020-00078-7.
  8. Policing America's Empire: The United States, the Philippines, and the Rise of the Surveillance State, Alfred W. McCoy. (McCoy is also the author of The Politics of Heroin and A Question of Torture.). In: University of Wisconsin Press. Abgerufen am 23. Juli 2024.
  9. Julian Go: Policing Empires: Militarization, Race, and the Imperial Boomerang in Britain and the US. Oxford University Press, 2023.
  10. Stuart Schrader: Schrader, S. (2019). Badges without borders: How global counterinsurgency transformed American policing. University of California Press, 2019.


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