Gracchische Reform

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Die Gracchische Reform war der Versuch einer Gruppe römischer Politiker um die Brüder Tiberius Sempronius Gracchus und Gaius Sempronius Gracchus, im alten Rom im 2. Jahrhundert v. Chr. Land- und Sozialreformen durchzuführen.

Eine Krise der römischen Gesellschaft?

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Die traditionelle Sichtweise auf die Ereignisse, die insbesondere auf die Berichte der beiden kaiserzeitlichen griechischen Autoren Appian und Plutarch zurückgeht, ist die folgende: Infolge des Zweiten Punischen Krieges (218 bis 201 v. Chr.) geriet die römische Gesellschaft in eine Krise. Das römische Heer bestand damals aus Kleinbauern, die für den Kriegsdienst ausgehoben wurden und sich selbst ausrüsten mussten. Die lange Dauer des Zweiten Punischen Krieges führte demnach dazu, dass viele Felder lange nicht bearbeitet werden konnten und die Bauern dadurch ruiniert wurden. Dies wiederum führte zu Problemen bei neuerlichen Aushebungen. Viele Bauern flohen, so die ältere Forschung, in die Städte, wodurch dort die Zahl der Proletarier stark zunahm. Die Gewinner dieser Entwicklung waren die Eliten Roms, die durch den Handel und Investitionen in landwirtschaftliche Betriebe reich wurden. Diese größeren Ländereien oder Latifundien entstanden auf Kosten des ager publicus, des „öffentlichen Bodens“. Diese Entwicklung erzeugte, so meinte man, Aggressionen auf dem Land und gipfelte in einem politischen Kampf im Senat.

Der konstitutionelle Aufbau der Römischen Republik. Erläuterungen in englischer Sprache; Plebeian Tribune = Volkstribun

In jüngerer Zeit haben allerdings Althistoriker wie Klaus Bringmann und Jochen Bleicken vehement Zweifel an dieser Sichtweise geäußert: 20 Jahre nach dem Punischen Krieg und kaum 50 Jahre vor Tiberius Gracchus, um 180 v. Chr., gab es soviel ager publicus und so wenige landlose Interessenten, dass man damals die Möglichkeit, das Land einfach zu besetzen, überhaupt erst eingeräumt und zugleich die Gründung von Bürgerkolonien zunächst eingestellt hatte.[1] Auch seien, so Bringmann, in der Regel nicht Bauern, sondern nur deren jüngere Söhne eingezogen worden; die langen Kriege könnten also kaum zu einer Agrarkrise geführt haben, da im Gegenteil tendenziell gerade jene im Feld starben, die auf dem Hof überzählig waren.[2] Die Menschen hätten ihre Höfe daher meist freiwillig aufgegeben, weil sie in der rasant wachsenden Großstadt Rom auf ein besseres Leben hofften; dies war der Grund für den Soldatenmangel. Eine Landreform hätte daran wenig ändern können. Eine Gegenposition zu dieser unter anderem auch von Forschern wie Martin Jehne geteilten Interpretation vertritt Jürgen von Ungern-Sternberg.[3]

Insgesamt werden die Motive der Reformer heute vermehrt in Frage gestellt: Nach Ansicht einiger Forscher wie Ulrich Gotter wollten die prominenten Senatoren, die hinter den Gracchen standen, die Reform in Wahrheit dazu nutzen, jene Rivalen, die in den vergangenen Jahren viel vom ager publicus besetzt hatten, ökonomisch zu schwächen, da sie selbst offenbar über andere Formen von Besitz verfügten. Es ging, folgt man dieser Hypothese, also in Wahrheit nie um eine Entlastung der Armen, sondern um aristokratische Streitigkeiten innerhalb der Nobilität.[4] Dies könnte die zunächst überraschende Kompromisslosigkeit beider Seiten erklären. Nach Ansicht der modernen Forschung ging es also um einen Machtkampf innerhalb des Senats, nicht etwa um einen Konflikt zwischen Arm und Reich. Während Tiberius Gracchus dabei vor allem von dem Wunsch getrieben worden sei, seine nach einem schweren Rückschlag kurz zuvor lädierte Karriere zu retten, habe Gaius Gracchus dann in erster Linie nach Rache für seinen älteren Bruder gestrebt, wie sie das aristokratische Ideal forderte. Die Agrarreform war demnach nie der eigentliche Kern der Konflikte.

Tiberius Sempronius Gracchus

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Der Volkstribun Tiberius Sempronius Gracchus ließ um 133 v. Chr. zur Wiederherstellung des Kleinbauerntums Land aus dem Gemeindebesitz (Ager publicus) an Proletarier verteilen. Großgrundbesitz, der über eine per Gesetz festgelegte Grenze von 500 iugera (ca. 125 ha) hinausging, sollte von einer aus drei Männern bestehenden Kommission verteilt werden, wobei die einzelnen Bauern jeweils 30 iugera erhalten sollten.[5] Diese Maßnahmen dienten zumindest vordergründig zur Wiederherstellung der Wehrkraft und zur Beseitigung der Folgen der Proletarisierung. Daneben sollte das Projekt Gracchus dazu dienen, seine durch einen schweren Rückschlag einige Jahre zuvor lädierte Karriere zu retten; hinter Gracchus stand nach Ausweis der Quellen eine Gruppe der reichsten und mächtigsten Senatoren.

Die Opposition gegen diese Reformen war stark und kam vor allem aus den Reihen der weniger wohlhabenden Senatoren, die auf die Nutzung des ager publicus angewiesen waren. Auch der Vorschlag, den bisherigen Nutzern bis zu 1000 iugera zuzugestehen (jeweils 250 zusätzlich für die beiden ältesten Söhne), führte zu keiner Einigung. Unklar ist, ob Gracchus seinen Gesetzesvorschlag dem Senat gar nicht erst zur Beratung vorlegte oder die Ablehnung durch die meisten Senatoren ignorierte. Indem er das Gesetz ohne Zustimmung des Senats vor das Volk brachte, verstieß er zwar nicht gegen das Gesetz, wohl aber gegen die herrschende Praxis. Als einer der neun anderen Volkstribunen, Marcus Octavius, die Durchsetzung der Reform zunächst per Veto verhinderte,[6] ließ Gracchus diesen durch Abstimmung in der Volksversammlung abwählen und nach diesem Verfassungsbruch das Ackergesetz von der Volksversammlung beschließen.[7] Als er im Begriff war, sich durch einen weiteren Normenverstoß, nämlich einen Verstoß gegen das Iterationsverbot, erneut zum Volkstribun wählen zu lassen, witterten seine Gegner im Senat einen Umsturzversuch und erschlugen ihn, angeführt vom Pontifex Maximus.

Tiberius Gracchus war wahrscheinlich ein Revolutionär wider Willen, da seine Ziele konservativ, aber seine Methoden revolutionär waren. Moderne Historiker sind zu dem Schluss gelangt, dass der Niedergang der Römischen Republik mit ihm bzw. mit der durch sein Schicksal deutlich werdenden Unfähigkeit der römischen Aristokratie, ihre wachsende Rivalität friedlich beizulegen, ihren Anfang nahm. Mit Gracchus hielten Verfassungsbruch und Gewalt Einzug in die römische Innenpolitik. Die Reformbemühungen von Tiberius Gracchus endeten mit seiner Ermordung durch die römischen Eliten auf dem Marsfeld. Keiner seiner Mörder kam vor Gericht.

Gaius Sempronius Gracchus

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Der Volkstribun Gaius Sempronius Gracchus hatte ähnliche, aber weiterreichendere Ziele als sein Bruder Tiberius (Leges Semproniae). Es ging ihm darum, die Ehre seiner altadligen Familie wiederherzustellen; zudem galt es als Pflicht eines römischen Aristokraten, Rache für Verwandte zu nehmen. Zehn Jahre nach der Ermordung des Tiberius begann Gaius mit der Erneuerung des Ackergesetzes und der Versorgung der bedürftigen Stadtbevölkerung mit billigem Getreide. Wie bereits sein Bruder fand er keine Mehrheit im Senat. Er ließ bestimmte Richterstellen von Mitgliedern der Ritter besetzen (Lex iudiciaria), um diesen Stand für seine Pläne zu gewinnen. Außerdem führte er eine geregelte Besteuerung der Provinz Asien ein, scheiterte aber wegen des Widerstandes der Senatsmehrheit und der niederen Volksschichten mit seinem Antrag auf Verleihung des Vollbürgerrechtes an die Latiner und des römischen Bürgerrechtes an die anderen Bundesgenossen.

Der Senatsmehrheit, die Gracchus’ Popularität fürchtete, gelang es, ihm auf dem Wege der Demagogie seine Anhänger abspenstig zu machen und 121 v. Chr. seine Wiederwahl als Volkstribun zu verhindern. Nun drohte ihm eine Anklage wegen Verfassungsbruchs. Es kam zu Straßenkämpfen; Gaius Gracchus und seine Anhänger besetzten den Aventin, woraufhin der Senat erstmals den Staatsnotstand erklärte (SCU = Senatus consultum ultimum). Gracchus’ Gefolgsleute wurden zu Hunderten erschlagen, er selbst ließ sich von einem Sklaven töten. Die Ackerkommission stellte einige Jahre später die Arbeit ein.

Die Gracchen wurden bereits in der Antike von popularen Politikern zu Vorkämpfern des einfachen Volkes verklärt, und diese Sichtweise wirkt bis heute intensiv nach. Sie hat aber nach fast einhelliger Meinung der heutigen Althistoriker wenig mit der historischen Realität zu tun.

  • Jochen Bleicken: Überlegungen zum Volkstribunat des Tiberius Sempronius Gracchus. In: Historische Zeitschrift. Bd. 247, 1988, S. 265–293.
  • Klaus Bringmann: Die Agrarreform des Tiberius Gracchus. Legende und Wirklichkeit (= Frankfurter historische Vorträge. Bd. 10). Stuttgart 1985, ISBN 3-515-04418-3.
  • Karl Christ: Krise und Untergang der römischen Republik. 5., unveränderte Auflage, Darmstadt 2007, ISBN 978-3-534-20041-2, S. 117–150.
  • Bernhard Linke: Die römische Republik von den Gracchen bis Sulla. Darmstadt 2005, ISBN 3-534-15498-3.
  • Joachim Molthagen: Die Durchführung der gracchischen Agrarreform. In: Historia. Bd. 22, Heft 3, 1973, S. 423–458.
  • Francisco Pina Polo: The “tyranny” of the Gracchi and the concordia of the optimates: an ideological construct. In: Roberto Cristofoli, Alessandro Galimberti, Francesca Rohr Vio (Hrsg.): Costruire la memoria, Rom 2016, S. 5–33.
  • Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune. Leben und Sterben des Tiberius und Caius Gracchus. München 2024.
  • Jürgen von Ungern-Sternberg: Überlegungen zum Sozialprogramm der Gracchen, in: Ders., Römische Studien. Geschichtsbewusstsein – Zeitalter der Gracchen – Krise der Republik (= Beiträge zur Altertumskunde. Bd. 232). München/Leipzig 2006, ISBN 3-598-77844-9, S. 245–263.
  1. Klaus Bringmann: Die Agrarreform des Tiberius Gracchus. Legende und Wirklichkeit (= Frankfurter historische Vorträge. Bd. 10). Stuttgart 1985, S. 11–12, 24; Jochen Bleicken: Überlegungen zum Volkstribunat des Tiberius Sempronius Gracchus. In: Historische Zeitschrift. Bd. 247, 1988, S. 265–293.
  2. Klaus Bringmann: Die Agrarreform des Tiberius Gracchus. Legende und Wirklichkeit (= Frankfurter historische Vorträge. Bd. 10). Stuttgart 1985, S. 18–19.
  3. Jürgen von Ungern-Sternberg: Überlegungen zum Sozialprogramm der Gracchen, in: Ders., Römische Studien. Geschichtsbewusstsein – Zeitalter der Gracchen – Krise der Republik (= Beiträge zur Altertumskunde. Bd. 232). München/Leipzig 2006, S. 245–263.
  4. Ulrich Gotter: Konkurrenz und Konflikt. Die Krise der römischen Aristokratie im 2. Jahrhundert v. Chr. In: Josef Matzerath, Claudia Tiersch (Hrsg.): Aristoi – Nobiles – Adelige. Europäische Adelsformationen und ihre Reaktionen auf gesellschaftliche Umbrüche, Berlin 2020, S. 65–90.
  5. Appian, Bellum Civile I 8, 11, Plutarch, Tiberius Gracchus 8-9, 13.1.
  6. Appian, Bellum Civile I 12, Plutarch, Tiberius Gracchus 10.2-10.6.
  7. Appian, Bellum Civile I 12, Plutarch, Tiberius Gracchus 10.7-13.1.