Gynozentrismus

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Gynozentrismus[1] ist eine spezifische Variante des Differenzfeminismus.[2] Das Konzept wird der Zweiten Welle der Frauenbewegung seit den 1970er Jahren sowie der feministischen Philosophie zugeordnet. Diese frühe, gynozentrisch ausgerichtete Frauenforschung verstand sich als eine Gegenbewegung zu dem in der Wissenschaft vorherrschenden Androzentrismus.

Ansätze[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Am Anfang der Frauenforschung stand das Anliegen, Frauen „sichtbar“ zu machen, ihren Ausschluss aus dem Politikprozess zu kritisieren und die Folgen für die Lebensverhältnisse von Frauen zu analysieren. In den 1980er Jahren entwickelte sich eine Pluralität der feministischen Sichtweisen. Seitdem lassen sich verschiedene Strömungen der feministischen Debatte zuordnen.[3]

Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Iris Marion Young bezeichnet die in den 1970er Jahren dominierenden liberalen, radikalen und sozialistischen Feminismen als humanistischen Feminismus in der Tradition des modernen Humanismus, dessen Ziel schon in der Ersten Frauenbewegung die Gleichstellung der Frau in der Gesellschaft war. Dem humanistischen Feminismus oder auch feministischen Humanismus liege zugrunde, dass Frauen so wie Männer das „menschliche Potential“ zur Norm ihrer Identität machen.[4] Im Unterschied dazu betont der Gynozentrismus die naturbedingte Unterschiedlichkeit der Geschlechter und deren Gleichwertigkeit.[3] Er geht von der Kritik aus, dass die Betonung auf „menschliches Potential“ zur Abwertung bzw. Unterdrückung der weiblichen Erfahrungen führe. Der gynozentrische Feminismus versucht, die normative Identität der Frau als „feminin“ zu begründen.[5] Einige feministische Theorien der Zweiten Frauenbewegung sind Formen des Gynozentrismus. Susan Griffins Buch Woman and Nature (1978) gilt als eins der ersten Dokumente dieses Ansatzes. Young ordnet auch die Theorien von Carol Gilligan und der französischen Denkerinnen Luce Irigaray und Julia Kristeva dem Gynozentrismus zu. Sie kritisiert, dass die Konzentration des Gynozentrismus auf Sprache (Irigaray, Kristeva) und Werte (Gilligan, Griffin u. a.) „als Ziel der Kritik die politische Schlagkraft“ der Frauenbewegung schwäche.[6]

Die britische Soziologin Dorothy Smith vertrat in ihrer Soziologie von Frauen für Frauen (1987) einen weiblich zentrierten Feminismus, der auf den gemeinsamen Erfahrungen aller Frauen in einer männlich dominierten Welt fußt.[7]

Im Gegensatz zur klassisch patriarchalen Position von der natürlichen Überlegenheit des Mannes, die seinen gesellschaftlichen Herrschaftsanspruch begründet, basiere laut Barbara Holland-Cunz die radikal-gynozentrische Position auf der natürlichen Überlegenheit der Frau und werde realgeschichtlich antiken Amazonen­staaten und matriarchalen Clanstrukturen unterstellt,[8] die Mary Daly als „gynozentrische Zivilisationen“ bezeichnete.[9]

Einige Autorinnen feministischer Matriarchatstheorien, wie Cäcilia Rentmeister und Heide Göttner-Abendroth, lehnen das dem Gynozentrismus zu Grunde liegende essentialistische Geschlechterbild jedoch ab. Sie betonen die sozialen Vorzüge und die „sozialökologische Intelligenz“ matriarchaler bzw. matrilinearer Gesellschaften, die deshalb wieder anzustreben seien.[10][11]

In der deutschen feministischen Debatte existiert das Konzept Gynozentrismus nur in wenigen radikalfeministischen Äußerungen der 1970er und 1980er Jahre der Zweiten Frauenbewegung.[8]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Iris Marion Young: On Female Body Experience: "Throwing Like a Girl" and Other Essays (Studies in Feminist Philosophy). Oxford University Press, 2005, ISBN 0-19-516193-9.
  • Iris Marion Young: Humanismus, Gynozentrismus und feministische Politik. In: Herlinde Pauer-Studer u. a. (Hrsg.): Denkverhältnisse – Feminismus und Kritik. Edition Suhrkamp, 1989, ISBN 3-518-11407-7, S. 37–66.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Der Begriff ist abgeleitet aus dem Altgriechischen γυνη gyne = Frau und dem Lateinischen centrum = Mittelpunkt.
  2. Ina Kerner: Differenzen und Macht. Campus Verlag, 2009, ISBN 978-3-593-38595-2, S. 245 f.
  3. a b Eva Kreisky, Birgit Sauer: Feministische Standpunkte in der Politikwissenschaft: eine Einführung. Campus Verlag, 1995, ISBN 3-593-35304-0, S. 15.
  4. Iris Marion Young: Humanism, Gynocentrism and Feministic Politics. In: Women´s Studies International Forum. Vol. 8, No. 3, Great Britanian; Pergamon Press, 1985, S. 173.
  5. Hyun-Jae Lee: Identitätsbegriffe aus "Feministischer" Perspektive. (= Feministische Forschungen. Band 3). Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main u. a. 2003, ISBN 3-631-53579-1, S. 14.
  6. Iris Marion Young: Humanismus, Gynozentrismus und feministische Politik. In: Herlinde Pauer-Studer, Elisabeth List (Hrsg.): Denkverhältnisse - Feminismus und Kritik. Edition Suhrkamp, 1989, ISBN 3-518-11407-7, S. 51–63 f.
  7. Pamela Abbott, Melissa Tyler, Claire Wallace: An Introduction to Sociology: Feminist Perspectives. 3. Auflage. Routledge, 2003, ISBN 0-415-31259-0, S. 365.
  8. a b Barbara-Holland-Cunz: Die alte neue Frauenfrage. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-518-12335-1, S. 124.
  9. Ursula I. Meyer: Einführung in die feministische Philosophie. 3. überarb. Auflage. Ein-Fach-Verlag, Aachen 2004, ISBN 3-928089-37-4, S. 89.
  10. Vgl. Heide Göttner-Abendroth: Der Weg zu einer egalitären Gesellschaft. Klein Jasedow 2008.
  11. Vgl. bereits 1985 Cillie Rentmeister: Frauenwelten – Männerwelten. Opladen 1985. Buch und neuere Beiträge in Volltexten unter www.cillie-rentmeister.de (Memento des Originals vom 30. Oktober 2013 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.cillie-rentmeister.de