Islamo-Gauchisme

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Islamo-Gauchisme oder Islamogauchisme (deutsch Islam-Linke) ist ein politisches Schlagwort, das konzeptionell auf eine von Kritikern wahrgenommene ideologische Verbindung zwischen der politischen Linken und dem Islamismus Bezug nimmt.

Geschichte des Begriffs[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Begriff „Islamo-Gauchisme“ erscheint als Neologismus erstmals 2002 in dem Buch New Judeophobia des Ideenhistorikers Pierre-André Taguieff, der darin die Islamo-Gauchisme als eine Art Antizionismus beschreibt, der innerhalb „des neuen, die dritte Welt betreffenden, neokommunistischen Komplexes, besser bekannt als „Antiglobalisierungsbewegung“, populär sei.[1][2] Taguieff hat sich inzwischen vom Begriff distanziert.[3]

Laut Alain Badiou und Eric Hazan wurde der Begriff von der französischen Polizei der einfachen Verwendbarkeit wegen geprägt.[4] Der katarische Nachrichtensender Al Jazeera behauptet, dass der Begriff Islamogauchisme von Marine Le Pen geprägt wurde, die ihn „zur Beschreibung dessen verwendet, was sie für eine ungesunde Allianz zwischen „islamistischen Fanatikern“ und der französischen Linken hält.“[5]

Dem Islamwissenschaftler Gilles Kepel zufolge habe der Islamo-Gauchisme Einfluss auf Parteien wie La France insoumise gehabt.[6] Der Philosoph Michel Onfray schrieb 2013, er teile „nicht den Islamo-Gauchisme einer Neuen Antikapitalistischen Partei, deren intellektueller Herold Tariq Ramadan“ sei.[7]

Hingegen wurde von vielen Seiten kritisiert, dass der Begriff mehrdeutig, unscharf, sogar polemisch sei. So verwies 2021 die Konferenz der französischen Universitätspräsidenten (Conférence des présidents d’université, CPU) darauf, dass es sich bei dem Begriff um ein unscharfes Konzept und nicht um einen streng wissenschaftlichen Begriff handele.[8]

Kritik am Islamo-Gauchisme[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Eine Allianz zwischen islamischen Fundamentalismus und der extremen Linken zeigte sich nach Ansicht Tanguieffs erstmals offen während der UN-Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban im Jahre 2001, als beide Bewegungen im Zuge der zweiten Intifada gemeinsam gegen die Politik Israels in Palästina protestierten. In der Folge hätten laut Caroline Fourest auch vermeintlich progressive Bewegungen gemeinsame Sache mit militanten Islamisten gemacht.[9] Der französische Philosoph Pascal Bruckner versteht die Islamo-Linke als „die Verschmelzung zwischen der atheistischen extremen Linken und dem religiösen Radikalismus.“[10] Laut Bruckner wurde das Konzept von britischen Trotzkisten der Socialist Workers Party konzipiert. Da deren Kreise im Islam ein Potenzial zum Schüren gesellschaftlicher Unruhen sähen, förderten sie taktische, temporäre Allianzen mit reaktionären muslimischen Parteien. Laut Bruckner hoffen linke Anhänger des „Third-Worldism“, den Islamismus als „Rammbock“ zu benutzen, um den Untergang des marktwirtschaftlichen Kapitalismus herbeizuführen. Sie sähen in der Opferung individueller Rechte – insbesondere der Frauenrechte – ein hinnehmbaren Kompromiss im Dienste des größeren Ziels der Zerstörung des Kapitalismus. Bruckner behauptet, dass Islamisten ihrerseits vorgeben, sich der Linken in ihrer Opposition gegen Rassismus, Neokolonialismus und Globalisierung als taktisches und temporäres Mittel anzuschließen, um ihr wahres Ziel zu erreichen, nämlich die „totalitäre Theokratie“ der islamistischen Regierung durchzusetzen.[10][11]

Der Politologe Maurice Fraser betrachtet den Islamischen Linkismus als Teil eines „markanten und jüngsten Verzichts auf das Aufklärungsprojekt der Menschenrechte, Freiheit, Säkularismus, Wissenschaft und Fortschritt“ seitens der politischen Linken, insbesondere der Globalisierungsgegner der Neuen Linken.[12]

Laut Mark Silinsky vom United States Army War College ist der Islam-Linksismus ein Bündnis von Islamisten und Linken im Gegensatz zu westlichen Werten, das auch als „rot-grüne Achse“ bezeichnet werden kann."[13]

Islamo-Gauchisme im französischen politischen Diskurs[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In Frankreich wurde der Begriff Islamo-Gauchisme in den letzten Jahren verstärkt von konservativen und rechten Politikern verwendet. Dass auch Präsident Emmanuel Macron und diversen Minister gegen den Islamo-Gauchisme argumentieren, wurde als Versuch eingeordnet, vor der Präsidentschaftswahl in Frankreich 2022 rechte Wähler anzusprechen.[14][15] Die Hochschulministerin Frédérique Vidal beauftragte das staatliche Forschungszentrum CNRS, das Ausmaß des Islamo-Gauchisme im akademischen Bereich zu untersuchen und Forschungsarbeiten daraufhin abzuklopfen, ob sie wissenschaftlichen Standards genügen oder Züge von Militantismus aufwiesen.[16] Daraufhin veröffentlichten 600 überwiegend linke Forscher und Hochschullehrer einen offenen Brief, in dem sie Vidals Rücktritt forderten. Die französische Hochschulrektorenkonferenz zeigte sich ob der Ankündigung „verblüfft“ und das Forschungszentrum CNRS wies darauf hin, dass es sich nicht um einen wissenschaftlichen Begriff handle und warnte vor Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit.[3] Vidal verteidigte ihren Vorstoß: Es gebe zwar keine wissenschaftliche Definition des Begriffs, er entspräche aber einem weit verbreiteten Gefühl und „einer gewissen Anzahl an Fakten“.[17]

Begriffskritik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Soziologin Sarah Mazouz sieht im Begriff den Versuch der Delegitimierung von Gender Studies und ähnlichen jungen Disziplinen mit dem Ziel, eine Debatte zu unterdrücken.[14] Andere Kritiker verglichen den Ausdruck mit dem antisemitischen Begriff Jüdischer Bolschewismus.[15][18][19] In der Süddeutschen Zeitung kritisierte Nadia Pantel den Begriff als unpräzise, da er nicht klar zwischen Muslimen und Islamisten unterscheide.[3] Eine ähnliche Kritik bringt der französische Soziologe Samuel Hayat gegen den Ausdruck vor. Dessen Zweideutigkeit erlaube „es reaktionären Kreisen, Islamspezialisten, Rassismusforscher:innen und engagierte Intellektuelle mit aktivistischen Vereinigungen, die gegen Islamophobie kämpfen, in einen Topf zu werfen und eine vermeintliche Nähe zu dschihadistischen Gruppen und den mörderischen Attentaten zu suggerieren.“[20] Adrian Daub hält den Begriff für untauglich, weil er die Unterscheidung zwischen Kritik (etwa an als islamophob wahrgenommenen Äußerungen) und Terror nicht mehr zulasse.[21]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Sonya Faure: Islamo-gauchisme, aux origines d’une expression médiatique, Liberation, 14. April 2016. Abgerufen am 19. März 2017 (französisch). 
  2. Qu’est ce que cet “islamo-gauchisme” dont le camp Valls accuse Hamon ?, France 24, 25. Januar 2017. Abgerufen am 28. März 2017 (französisch). 
  3. a b c Nadia Pantel: Frankreich debattiert über „Islamo-Linke“. In: Süddeutsche Zeitung. 22. Februar 2021, abgerufen am 2. Mai 2021.
  4. Alain Badiou, Eric Hazan: “Anti-Semitism is Everywhere” in France Today. In: Reflections On Anti-Semitism. Verso Books, 2013, S. 41.
  5. Yasmine Ryan: French right focuses on “radical” Muslims, Al Jazeera, 6. April 2012. Abgerufen am 3. November 2015 (englisch). 
  6. Gilles Kepel : « Le salafisme français étend des réseaux de pouvoir et d’influence ». In: lefigaro.fr. 23. Februar 2018, abgerufen am 28. November 2023 (französisch).
  7. Michel Onfray: Le Magnétisme des solstices, Journal hédoniste, tome V. Flammarion, Paris 2013, ISBN 978-2-08-129075-4 (französisch).
  8. « Islamo-gauchisme » : stopper la confusion et les polémiques stériles. In: franceuniversites.fr. 16. Februar 2021, abgerufen am 28. November 2023 (französisch, Pressemeldung der CPU).
  9. Caroline Fourest: Populismus und Islamismus: Sagten Sie „Islam-Linke“? In: taz.de. 15. März 2021, abgerufen am 28. November 2023.
  10. a b Pascal Bruckner: The Tyranny of Guilt: An Essay on Western Masochism. Princeton University Press, 2010, ISBN 978-1-4008-3431-0, S. 25 (englisch).
  11. Julia Pascal: The Tyranny Of Guilt: An Essay On Western Masochism, By Pascal Bruckner, translated by Steven Rendall. In: independent.co.uk. 22. April 2010, abgerufen am 28. November 2023 (englisch, Buchrezension).
  12. Is the Decline of the West Reversible? In: =European View. Band 2, Nr. 2, 11. November 2010 (englisch).
  13. Mark Silinsky: Jihad and the West: Black Flag over Babylon. Indiana University Press, 2016 (englisch).
  14. a b Norimitsu Onishi, Constant Méheut: Heating Up Culture Wars, France to Scour Universities for Ideas That ‘Corrupt Society’. In: nytimes.com. 21. Februar 2021, abgerufen am 2. Mai 2021 (englisch).
  15. a b Ishaan Tharoor: France and the spectral menace of ‘Islamo-leftism’. In: washingtonpost.com. 22. Februar 2021, abgerufen am 2. Mai 2021 (englisch).
  16. Andrea Nüsse: Kulturkampf an französischen Hochschulen: So schnell wird man zum „islamophoben Faschisten“. In: tagesspiegel.de. 16. März 2021, abgerufen am 28. November 2023.
  17. French minister defends ‘Islamo-leftism’ inquiry. In: politico.eu. 21. Februar 2021, abgerufen am 2. Mai 2021 (amerikanisches Englisch).
  18. Didier Fassin: Are “woke” academics a threat to the French republic? Ask Macron’s ministers. In: theguardian.com. 12. März 2021, abgerufen am 2. Mai 2021 (englisch).
  19. Eric Fassin: Free Speech und Rechtspopulismus II. Wer ist hier wessen Komplize? Die Freiheit der Wissenschaft ist in Gefahr. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft. Band 13, Nr. 25-2, 1. Oktober 2021, ISSN 2296-4126, S. 142–148, doi:10.14361/zfmw-2021-130214 (degruyter.com [abgerufen am 7. Mai 2023]).
  20. Rudolf Balmer: Debatte über „Islamo-Gauchismo“ in Frankreich: Der Feind steht in der Uni. In: taz.de. 27. Februar 2021, abgerufen am 2. Mai 2021.
  21. Adrian Daub: Cancel Culture Transfer: Wie eine moralische Panik die Welt erfasst. Suhrkamp, Berlin 2022, ISBN 978-3-518-12794-0, S. 244.