Technisches Fachwerk

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Konstruktions- und Gestaltungsprinzipien des Technischen Fachwerks: abgefaste Hölzer, vollkantige Knotenpunkte, zurückliegende Ziegelgefache (Beispiel: Göttingen, Rosdorfer Weg 33, erbaut um 1898, Aufnahme 2021)

Technisches Fachwerk (auch Technizistisches Fachwerk) ist eine weit verbreitete Variante der Holzfachwerk-Architektur im 19. Jahrhundert, die sich durch Rasterfachwerk, gefaste Hölzer und zurückliegende Sichtziegelgefache auszeichnet.

Merkmale[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Technisches Fachwerk weist folgende strukturelle, konstruktive und gestalterische Besonderheiten auf:

  • Verwendung von Rasterfachwerk, das durch fenster- oder geschoßhohe Andreaskreuze in Reihung gegliedert ist. Alle Hölzer sind relativ dünn und in gleicher Breite zugeschnitten wie bei industriell vorfertigten Produkten. Es gibt keine geschweiften Streben und fast nie gebogene Hölzer.
  • Die Kanten aller Hölzer sind an den sichtbaren Seiten abgefast. Jede Fase läuft einige Zentimeter vor den Verbindungsstellen aus, so dass die konstruktiv besonders belasteten Knotenpunkte des Fachwerks breiter wirken und also optisch betont werden. Die Art und Ausbildung der Fasen ist bei allen Hölzern gleich.
  • Die Gefache treten gegenüber der Holzkonstruktion um ein bis zwei Zentimeter zurück, sie liegen also nicht wie beim traditionellen Fachwerkbau bündig mit den Hölzern.
  • Durch das Zusammenspiel von Abfasungen und vertieften Gefachen entsteht eine Reliefwirkung und gestaltwirksame Differenzierung des Fachwerks zwischen tragenden Bauteilen (Hölzern) und Füllmaterial (Gefachen).
  • Technisches Fachwerk in einem Lehrbuch von 1904[1]
    Die Gefache sind üblicherweise mit Sichtziegelmauerwerk ausgemauert und sind nicht verputzt, oftmals aber nachträglich geschlämmt. Teilweise wurde eine Dekoration mit farbigen Zierziegelverbänden ausgeführt.

Begriff und Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Technisches Fachwerk mit Zierausfachungen in den Fensterbrüstungen (Beispiel: Göttingen, Geismar Landstraße 24, erbaut um 1885, Aufnahme 2021)

Technisches Fachwerk kennt keine historischen Vorbilder, sein Aussehen wird durch eine gewollt neuartige „technizistische Wirkung“[2] bestimmt. Dabei „erfuhr die Holzkonstruktion eine ästhetische Aufwertung, die sich zur reinen Dekoration verselbständigen“[2] konnte. Es ist nicht bekannt, dass bereits die zeitgenössischen Architekten und Zimmerleute des 19. Jahrhunderts eine Bezeichnung für diese auffällige Gestaltungs- und Konstruktionsweise des Fachwerks verwendeten. Den Begriff Technisches Fachwerk führte erst 1981 die Marburger Arbeitsgruppe für Dokumentation in die Disziplinen der Baugeschichte und Hausforschung ein.[2] Gelegentlich ist seitdem auch der Begriff Technizistisches Fachwerk verwendet worden.[2][3]

Fassadenrelief beim Technischen Fachwerk (Beispiel: Göttingen, Geismar Landstraße 50, erbaut um 1885, Aufnahme 2021)

Das älteste bekannte Gebäude in Technischem Fachwerk ist die von Architekt Hugo Ritgen entworfene und 1833–34 erbaute Leichenhalle auf dem Gießener Friedhof.[4] Weitere frühe Bauten entstanden ab den 1830er Jahren als Villen und Nebengebäude in Darmstadt und Berlin, teilweise auch im Schweizerhausstil.[5] Die Bauweise ist ab den 1840er Jahren auch durch musterhafte Entwurfsveröffentlichungen[6] verbreitet worden.

Den zahlenmäßigen Höhepunkt erfuhr die Verwendung des Technischen Fachwerks in den 1880er und 1890er Jahren für Bauaufgaben der verschiedensten Art – von der repräsentativen Villa bis zum Gartenhaus, von der Kirche bis zum Bahnhofs-Empfangsgebäude[7]. Die Verwendung endete bald nach der Jahrhundertwende um 1900, gleichzeitig mit dem allgemeinen Rückgang des Fachwerkbaus.

Denkmalpflege[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das feine gestalterische Zusammenspiel des Fassadenreliefs von Technischem Fachwerk wird bei Fassadensanierungen oft beeinträchtigt. Verbreitet ist ein Weglassen der charakteristischen Fasen bei Ersatzhölzern, ein Überstreichen, Schlämmen oder Überputzen der Sichtziegelgefache oder bei Neuausfachungen ein bündiges Einbauen der Ersatzgefache.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Michael Imhof: Historistisches Fachwerk. Zur Architekturgeschichte im 19. Jahrhundert in Deutschland, Großbritannien (Old English Style), Frankreich, Österreich, der Schweiz und den USA. Bayerische Verlagsanstalt, Bamberg 1996, ISBN 3-87052-796-X, S. 210–212. (Kapitel „Technisches“ Fachwerk)

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Franz Stade: Die Holzkonstruktionen. Lehrbuch für Selbstunterrichtende. Verlag von Moritz Schäfer, Leipzig 1904, S. 81, Fig. 158. - Der Begriff Technisches Fachwerk wird von Stade noch nicht verwendet.
  2. a b c d Marburger Arbeitsgruppe für Dokumentation (Eckehard Deichsel, Gabi Dolff, Dieter Mayr-Gürr, Ulla Merle, Loeto Moritz, Angela Schumacher, Christiane Spengler): Stadt Marburg, Gesamtdokumentatuon, II. Bürgerhäuser der Altstadt: Katalog. Studien zur baulichen Entwicklung Marburgs im 19. Jahrhundert. Jonas Verlag, Marburg 1981, S. 52 f.
  3. Jochen Georg Güntzel: Zur Wiederbelebung des Holzbaus um 1900 in Lippe. In: Historismus in Lippe. Jonas Verlag, Marburg 1994 (= Materialien zur Kunst- und Kulturgeschichte in Nord- und Westdeutschland, Bd. 9), ISBN 3-89445-165-3, S. 185–210, hier S. 189 ff.
  4. Michael Imhof: Historistisches Fachwerk. Zur Architekturgeschichte im 19. Jahrhundert in Deutschland, Großbritannien (Old English Style), Frankreich, Österreich, der Schweiz und den USA. Bayerische Verlagsanstalt, Bamberg 1996, ISBN 3-87052-796-X, S. 211.
  5. Michael Imhof: Historistisches Fachwerk. Zur Architekturgeschichte im 19. Jahrhundert in Deutschland, Großbritannien (Old English Style), Frankreich, Österreich, der Schweiz und den USA. Bayerische Verlagsanstalt, Bamberg 1996, ISBN 3-87052-796-X, S. 211 f.
  6. Vgl. die Beispiele bei Michael Imhof: Historistisches Fachwerk. Zur Architekturgeschichte im 19. Jahrhundert in Deutschland, Großbritannien (Old English Style), Frankreich, Österreich, der Schweiz und den USA. Bayerische Verlagsanstalt, Bamberg 1996, ISBN 3-87052-796-X, S. 210–214.
  7. Vgl. die Empfangsgebäude in Hildesheim (1846) und Harburg (1847): Harold Hammer-Schenk: Frühe Eisenbahnempfangsgebäude im Königreich Hannover. In: Eisenbahn und Denkmalpflege, ICOMOS – Hefte des Deutschen Nationalkomitees, Bd. 4, 1992, S. 35 ff., hier S. 39 und 40, mit Abbildungen von Planzeichnungen. (Digitalisat auf journals.ub.uni-heidelberg.de, abgerufen am 29. August 2022.)