Welfare mix

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Der Begriff welfare mix bezeichnet ein analytisches Konzept der sozialwissenschaftlichen Wohlfahrtsstaatsforschung, das sich mit der Erbringung, Organisation und Regulierung von Wohlfahrtsgütern und -leistungen befasst. Er wird seit den 1980er Jahren in der internationalen vergleichenden Forschung zu Sozialstaat und Wohlfahrtsstaat verwendet und fand Eingang in Fachdiskussionen, etwa zu Bürgerschaftlichem Engagement und Pflegepolitik.[1][2][3]

Grundlage ist der Ansatz einer gemischten Wohlfahrtsproduktion, der aus einer Kritik an einseitig auf staatliche Wohlfahrtspolitik bezogenen Sicht entstand. Neben den Sektoren Staat und Markt werden Familie/Gemeinschaft und Zivilgesellschaft als wohlfahrtsschaffende Sektoren betrachtet. Im Mittelpunkt stehen die jeweils spezifischen Beiträge der einzelnen gesellschaftlichen Sektoren, Institutionen und Akteursgruppen, sowie deren Zusammenwirken und Governance.

Ähnliche Begriffe[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Neben „welfare mix“ werden verschiedene weitere Begriffe verwendet:

  • In der Pflege ist von einem „Pflege-Mix“ die Rede, der beispielsweise Angehörige, Freunde, Nachbarn, Pflege-Organisationen, Professionelle und Freiwillige einbezieht.
  • „Mixed economy of welfare“ und „gemischte Wohlfahrtsproduktion“ verweisen auf die ökonomischen Bezüge in der Erbringung und Finanzierung.
  • Stärker auf demokratie- und partizipationstheoretische Aspekte verweist der Begriff „Wohlfahrtspluralismus“. Hier steht der Pluralismus der Organisationsformen im Vordergrund, insbesondere deren gesellschaftliche Einbettung. Betrachtet werden z. B. Themen wie bürgerschaftliches Engagement und Partizipation, die Bedeutung von Koproduktion und die Rolle von Wohlfahrtsorganisationen.

Entstehungskontext[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Konzepte gemischter Wohlfahrtsproduktion werden in den Sozialwissenschaften seit etwa den 1970er Jahren angewendet. Sie sind verortet in wissenschaftlichen Diskussionen um Wohlfahrt, Sozialstaat, Sozialpolitik und Gemeinwohl. Diese sind häufig von Dualismen wie „Staat-Markt“ oder „öffentlich-privat“ geprägt (vgl. Staatsversagen und Marktversagen).

Die Perspektive des „welfare mix“ bezieht explizit informelle Bereiche – wie Haushalte, Familien, Nachbarschaften, freiwilliges Engagement – ein.

Mit dem Einbezug von Familie/Gemeinschaft als eigenständigem Sektor der Wohlfahrtsproduktion wird diese Dichotomie aufgelöst. In der Weiterentwicklung wurde das Modell um einen weiteren Sektor ergänzt: Mit der Betrachtung der formellen/organisierten Zivilgesellschaft und Non-Profit-Organisationen wird der besonderen Bedeutung von freiwilligen, nicht markt- oder staatsbezogenen Organisationen in der Erbringung und Gestaltung von Wohlfahrtsleistungen Rechnung getragen.

Grundlagen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Konzepte gemischter Wohlfahrtsproduktion bezeichnen nicht historisch neue Phänomene, sondern eine neue Perspektive auf Gesellschaften und Staaten, deren Wohlfahrtsorganisation und Steuerung. Im Mittelpunkt stehen die jeweils spezifischen Beiträge der einzelnen gesellschaftlichen Sektoren, Institutionen und Akteursgruppen, sowie deren Zusammenwirken und Governance. Dabei ist die Rolle des Dritten Sektors, das heißt der organisierten Zivilgesellschaft / des Nonprofit-Bereichs, von zentraler Bedeutung.

Das Konzept bietet einen analytischen Rahmen, der eine differenzierte Perspektive über die Dichotomien „Staat-Markt“ oder „Öffentlich-Privat“ hinaus ermöglicht. Dabei werden ökonomische, politische und gesellschaftliche Funktionen und Perspektiven in die Betrachtung einbezogen.

Konzepte gemischter Wohlfahrtsproduktion können sowohl in analytisch-deskriptiver wie auch normativ-politischer Dimension angewendet werden:

  • analytisch und deskriptiv: z. B. in der Beschreibung nationaler, regionaler oder lokaler welfare mixes, deren Ressourcen, Strukturen und Output/Wirkungen; in der Darstellung und Analyse des Zusammenwirkens verschiedener Handlungslogiken, Aushandlungsprozesse und deren Steuerung oder Governance
  • normativ-politisch: normative Aussagen über die Steuerung und Gestaltung des Welfare Mix, die jeweiligen Beiträge der einzelnen Sektoren und deren konkretes Zusammenwirken, sowie erwünschte Formen von Kooperationen und Aushandlungsprozessen.

Sektoren der Wohlfahrtsproduktion[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Mittelpunkt des Konzepts steht die Differenzierung verschiedener gesellschaftlicher Sektoren und deren spezifische Beiträge zur Wohlfahrtsproduktion. Eine einfache Darstellung zeigt das sogenannte „Wohlfahrtsdreieck“

                                    Staat
                                    /   \
                               Markt – Gemeinschaft

Häufig wird ein erweitertes Vier-Sektoren-Modell verwendet: Neben Staat und Markt wird in der Betrachtung der Wohlfahrtsproduktion zwischen einem informellen Sektor (Familie, Nachbarschaften) und dem formal organisierten Sektor der Zivilgesellschaft unterschieden. Evers/Olk arbeiteten 1996 auf Grundlage früherer Ansätze verschiedene wesentliche Merkmale der einzelnen Sektoren heraus:[4]

Institution Markt Staat Gemeinschaft Zivilgesellschaft
Sektor der Wohlfahrtsproduktion Markt-Sektor Staats-Sektor informeller Sektor/Sektor der Haushaltsproduktion Nonprofit-Sektor/intermediärer Bereich
Prinzip der Handlungskoordination Wettbewerb Hierarchie Persönliche Verpflichtung Freiwilligkeit
Zentraler kollektiver Akteur (Angebotsseite) Unternehmen Öffentliche Verwaltungen Familien (Nachbarschaften, erweiterte Verwandtschaftsnetze, Betriebskollegien, Freundschaftsbeziehungen) Assoziationen
Komplementärrolle auf der Nachfrageseite Konsument, Kunde Sozialbürger Mitglied der Gemeinschaft (z. B. Familie, Nation) Mitglied der Assoziation/ Mitbürger
Zugangsregel Zahlungsfähigkeit Legal verbürgte Anspruchsrechte Askription/Kooptation Bedürftigkeit
Austauschmedium Geld Recht Wertschätzung / Achtung Argumente/Kommunikation
Zentraler Bezugswert (Wahl-)Freiheit Gleichheit Reziprozität / Altruismus Solidarität
Gütekriterium Wohlstand Sicherheit Persönliche Teilhabe Soziale und politische Aktivierung
Zentrales Defizit Ungleichheit, Negierung nicht monetarisierbarer Folgelasten Vernachlässigung von Minderheitsbedürfnissen, Einschränkung von Dispositionsfreiheiten, Entmutigung von Selbsthilfemotiven Einschränkung der Wahlfreiheit durch moralische Verpflichtung, Ausschluss von Nichtmitgliedern Ungleiche Verteilung der Leistungen und Güter, Professionalisierungsdefizite, reduzierte Effektivität der Management- und Organisationsstrukturen

Auf Grundlage dieser idealtypischen Unterscheidung richtet sich das Augenmerk in der Forschung vor allem auf das Zusammenwirken dieser Institutionen und Handlungslogiken. Es geht dabei um die Beschreibung und Erklärung der Interdependenzen und „mixes“ der Wohlfahrtsproduktion. Diese können in verschiedenen Maßstabsebenen untersucht werden:

  • nationale, wohlfahrtsstaatliche Arrangements
  • regionale/lokale Ausgestaltungsprozesse
  • einzelne Organisationen, z. B. soziale Dienstleistungsorganisationen als „hybride Organisationen“
  • auf Ebene individueller/persönlicher Arrangements, z. B. der „Pflegemix“ in der kombinierten Versorgung durch professionelle und unbezahlte Pflegearbeit.

Forschungsfelder und Anwendungsbereiche[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik
  • Partizipation und Engagement, Zivilgesellschaft, Dritter Sektor
  • Pflege
  • Geographie: In der englischsprachigen Geographie nehmen verschiedene Autoren Bezug auf Ansätze des welfare mix. Diese arbeiten mehrheitlich zu sozialgeographischen Themen im Bereich geography of care/health und des voluntary sectors.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Ingo Bode: Die Infrastruktur des postindustriellen Wohlfahrtsstaats. Organisation – Wandel – gesellschaftliche Hintergründe. Springer, Wiesbaden 2013, ISBN 978-3-531-19427-1.
  • Adalbert Evers, Rolf Heinze, Thomas Olk (Hrsg.): Handbuch Soziale Dienste. Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-531-15504-3.
  • Adalbert Evers, Thomas Olk (Hrsg.): Wohlfahrtspluralismus. Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft. Opladen 1996, ISBN 3-531-12741-1.
  • Adalbert Evers, Helmut Wintersberger (Hrsg.): Shifts in the welfare mix. Their Impact on Work, Social Services and Welfare Policies. contributions from nine European countries in a comparative perspective. European Centre for Social Welfare Policy and Research. Wien 1988, ISBN 3-900376-30-1.
  • Kerstin Hämel: Öffnung und Engagement. Altenpflegeheime zwischen staatlicher Regulierung, Wettbewerb und zivilgesellschaftlicher Einbettung. Wiesbaden 2012, ISBN 978-3-531-19511-7.
  • Christine Milligan, David Conradson (Hrsg.): Landscapes of voluntarism. New spaces of health, welfare and governance. Bristol 2006, ISBN 1-86134-632-8.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Adalbert Evers, Helmut Wintersberger (Hrsg.): Shifts in the welfare mix. Their Impact on Work, Social Services and Welfare Policies. contributions from nine European countries in a comparative perspective. European Centre for Social Welfare Policy and Research. Wien 1988, ISBN 3-900376-30-1.
  2. Richard Rose, Rei Shiratori (Hrsg.): The Welfare State East and West. Oxford University Press. New York 1986, ISBN 0-19-503956-4.
  3. Deutscher Bundestag (Hrsg.): Unterrichtung durch die Bundesregierung. Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland Altersbilder in der Gesellschaft und Stellungnahme der Bundesregierung. Berlin 2010 (BT-Drs. 17/3815).
  4. Adalbert Evers, Thomas Olk (Hrsg.): Wohlfahrtspluralismus. Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft. Opladen 1996, S. 23.