Beutelsbacher Konsens

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Erklärvideo der Landeszentrale für Politische Bildung NRW zur Entstehung des Beutelsbacher Konsens

Der Beutelsbacher Konsens ist das Ergebnis einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg zusammen mit Politikdidaktikern unterschiedlicher parteipolitischer oder konfessioneller Herkunft im Herbst 1976 in Beutelsbach, einem Stadtteil der Großen Kreisstadt Weinstadt im Rems-Murr-Kreis in Baden-Württemberg. Der Konsens legt die Grundsätze für die politische Bildung fest.

Grundsätze[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Konsens legt drei Prinzipien für den Politikunterricht fest. Auch öffentliche Zuschussgeber für die außerschulische politische Bildung fordern teilweise von bezuschussten Institutionen ein Bekenntnis zu den Prinzipien des Beutelsbacher Konsenses.[1]

Überwältigungsverbot[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Gemäß dem Überwältigungsverbot (auch: Indoktrinationsverbot) dürfen Lehrkräfte Schülern nicht ihre Meinung aufzwingen, sondern sollen Schüler in die Lage versetzen, sich mit Hilfe des Unterrichts eine eigene Meinung bilden zu können. Dies ist der Zielsetzung der politischen Bildung geschuldet, die Schüler zu mündigen Bürgern heranzubilden.

Kontroversität[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Gebot der Kontroversität (auch: Gegensätzlichkeit) zielt ebenfalls darauf ab, den Schülern freie Meinungsbildung zu ermöglichen. Der Lehrende muss ein Thema kontrovers darstellen und diskutieren können, wenn es in der Wissenschaft oder Politik kontrovers erscheint.[2] Seine eigene Meinung und seine politischen wie theoretischen Standpunkte sind dabei für den Unterricht unerheblich und dürfen nicht zur Überwältigung der Schüler eingesetzt werden. Beim Kontroversitätsgebot handelt es sich allerdings nicht um ein Neutralitätsgebot für die Lehrkraft.[3]

Schülerorientierung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Prinzip Schülerorientierung soll den Schüler in die Lage versetzen, die politische Situation der Gesellschaft und seine eigene Position zu analysieren und sich aktiv am politischen Prozess zu beteiligen sowie „nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen.“[4]

Kritik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Sibylle Reinhardt bettet das Prinzip der Schülerinteressen ein: Es sei nicht – wie zu seiner Entstehungszeit interpretiert – „ausschließlich auf das einzelne Individuum hin ausgelegt“.[5] Seine mittlerweile konsensuelle Lesart meine nicht „die Möglichkeit rücksichtslosen Durchsetzens von Eigeninteressen“[5] und verhindere nicht den Gedanken des „längerfristigen Allgemeininteresses“.

Reinhardt konkretisiert ebenfalls die Kontroversität. Je nach Lerngruppe müsse die Lehrkraft ihre Rolle verändern: Eine „‚politische‘ Lerngruppe [braucht] den politischen Lehrer gar nicht […], während die ‚unpolitische‘ Lerngruppe ihn benötigt“. Würde der einseitig ‚politisch‘ Lehrende seine Rolle anschließend nicht aufklären, hätte er so noch keine weitere Sicht eröffnet, also wieder manipuliert. Besser wäre also, nach verschiedenen Blickwinkeln auf ‚Gegenstände‘ (Situationen, Regeln …) suchen zu lassen, den Forscherdrang zu wecken, auch skurrile und sogar unangenehme Fragen zu stellen, denen nachgehend immer mehrere Antworten zu suchen, Vor- und Nachteile abzuwägen und nach den gesamtgesellschaftlichen, globalen Auswirkungen – auch nach der Rückwirkung auf einen selbst und folgende Generationen – suchen zu lassen.[6]

Aus Sicht der kritischen politischen Bildung kritisiert Bettina Lösch, dass der Beutelsbacher Konsens normativ unbestimmt und damit in vielerlei Richtung instrumentalisierbar sei. Sie hebt hervor, dass der Konsens stets auch eine ideologische Funktion hatte, die es erlaubte, „Ansprüche nach Emanzipation oder Demokratisierung als Überwältigung von Schüler*innen zurückzuweisen, in dem der gesellschaftliche status quo (etwa der eingeschränkten bürgerlich-liberalen Demokratie) aufrechterhalten werden sollte“. Als Ergänzung aus Perspektive einer kritisch-emanzipatorischen politischen Bildung schließt die Frankfurter Erklärung zur Politischen Bildung aus dem Jahr 2015 an den Beutelsbacher Konsens an.[7]

In Untersuchungen unter Politiklehrkräften zeigt sich zudem, dass diese den Beutelsbacher Konsens vielfach als Neutralitätsgebot missverstehen und fälschlicherweise davon ausgehen, dass der Beutelsbacher Konsens sie zur gleichberechtigten Darstellung extremistischer Positionen im Unterricht verpflichte.[8]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Klaus Ahlheim: Die ‚weiße Flagge gehißt‘? Wirkung und Grenzen des Beutelsbacher Konsenses. In: Klaus Ahlheim, Johannes Schillo: Politische Bildung zwischen Formierung und Aufklärung (= Kritische Beiträge zur Bildungswissenschaft. Band 6). Offizin Verlag, Hannover 2012, ISBN 978-3-930345-96-0, S. 75–92.
  • Armin Scherb: Der Beutelsbacher Konsens. In: Dirk Lange, Volker Reinhardt (Hrsg.): Strategien der politischen Bildung. Handbuch für den sozialwissenschaftlichen Unterricht (= Basiswissen politische Bildung. Band 2). Schneider-Verl. Hohengehren, Baltmannsweiler 2007, ISBN 978-3-8340-0207-5, S. 31–39.
  • Sibylle Reinhardt: Politik-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 4., überarb. Neuauflage. Cornelsen, Berlin 2012, ISBN 978-3-589-23201-7.
  • Siegfried Schiele, Herbert Schneider (Hrsg.): Reicht der Beutelsbacher Konsens? (= Didaktische Reihe der Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg). Wochenschau-Verl., Schwalbach/Ts. 1996, ISBN 3-87920-384-9.
  • Benedikt Widmaier, Peter Zorn (Hrsg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung (= Bundeszentrale für Politische Bildung [Hrsg.]: Schriftenreihe. Band 1793). BpB, Bonn 2016, ISBN 978-3-8389-0793-2.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Fußnoten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Benedikt Widmaier: Eine Marke für alle? Der Beutelsbacher Konsens in der non-formalen politischen Bildung. In: Benedikt Widmaier, Peter Zorn (Hrsg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? eine Debatte der politischen Bildung. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2016, ISBN 978-3-8389-0793-2, S. 96–111.
  2. Hans-Georg Wehling. In: Siegfried Schiele, Herbert Schneider (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung (= Anmerkungen und Argumente zur historischen und politischen Bildung. Band 17). Klett, Stuttgart 1977, ISBN 3-12-927580-0, S. 179 f.
  3. Kerstin Pohl: Wie weit geht das Kontroversitätsgebot für die politische Bildung? In: Dossier Politische Bildung. Bundeszentrale für politische Bildung, 19. März 2015, abgerufen am 23. September 2018.
  4. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Beutelsbacher Konsens. In: lpb-bw.de, abgerufen am 12. Juni 2009.
  5. a b Sibylle Reinhardt: Politik-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 2012, S. 30.
  6. Sibylle Reinhardt: Politik-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 2012, S. 31.
  7. Bettina Lösch: Wie politisch darf und sollte Bildung sein? Die aktuelle Debatte um ‚politische Neutralität‘ aus Sicht einer kritisch-emanzipatorischen politischen Bildung. In: Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik. Springer Fachmedien Wiesbaden, Wiesbaden 2020, ISBN 978-3-658-28758-0, S. 383–402, doi:10.1007/978-3-658-28759-7_21 (springer.com [abgerufen am 12. Februar 2023]).
  8. Monika Oberle, Sven Ivens, Johanna Leunig: Grenzenlose Toleranz? Lehrervorstellungen zum Beutelsbacher Konsens und dem Umgang mit Extremismus im Unterricht. In: Laura Möllers, Sabine Manzel (Hrsg.): Populismus und politische Bildung (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Politikdidaktik und Politische Jugend- und Erwachsenenbildung). Wochenschau Verlag, Frankfurt am Main 2018, ISBN 978-3-7344-0680-5, S. 53–61.