Ersatzstimme (Wahlrecht)

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Die Ersatzstimme, auch Alternativstimme, Eventualstimme, Hilfsstimme, Nebenstimme oder Zweitpräferenz genannt, bezeichnet im Wahlrecht eine zusätzliche Stimme des Wählers, die nur dann zur Geltung kommt, wenn die vom Wähler eigentlich bevorzugte Partei (die sogenannte „Erstpräferenz“) an der Sperrklausel scheitert und somit den Einzug in das Parlament verfehlt.

Im deutschsprachigen Raum gibt es derzeit keine Wahlen, bei denen für den Wähler die Möglichkeit zur Vergabe einer Ersatzstimme besteht.

Begriffsabgrenzung

Nicht jedes Wahlsystem, bei dem der Wähler neben einer Erstpräferenz auch eine oder mehrere nachrangige Präferenzen vergeben kann, ist als Ersatzstimme zu bezeichnen. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von Rangfolgewahl-Verfahren, die alle nach demselben Prinzip arbeiten, sich jedoch hinsichtlich ihres Anwendungsfeldes unterscheiden (Wahl von Parteilisten vs. Wahl von Personen) und/oder hinsichtlich des Trenn-Kriteriums, dessen Erreichen den Stimmübertragungsvorgang beendet bzw. (im Falle der Droop-Quote) auslöst. Insbesondere sollten die folgenden Rangfolgewahl-Verfahren streng voneinander getrennt werden:

Hintergrund

Angesichts von Sperrklauseln neigen viele Wähler dazu, unter den Parteien mit einer sicheren Chance auf Einzug in das Parlament das „kleinste Übel“ zu wählen, anstatt ihre Stimme an eine inhaltlich zwar eher den persönlichen Vorstellungen entsprechende, aber vermutlich an der Sperrklausel scheiternde Partei zu „verschenken“. Durch die Sicherheit der Ersatzstimme soll der Wähler zu ehrlicherem Wahlverhalten ermuntert werden. Er erhält auf dem Wahlzettel die Möglichkeit, neben seiner eigentlich bevorzugten Partei noch eine weitere Partei zu bestimmen, die seine Stimme erhält, falls seine bevorzugte Partei tatsächlich an der Sperrklausel scheitert. Bei der Ersatzstimme in einfacher Ausführung ist es natürlich ratsam, diese an eine Partei zu vergeben, die mit großer Wahrscheinlichkeit die Sperrklausel überspringen wird.

Die Ersatzstimme wird seit den 1970er Jahren in der Politikwissenschaft als Instrument zur Vermeidung taktischen Wahlverhaltens diskutiert. Durch die Ersatzstimme könnten einerseits Sperrklauseln weiterhin eine Zersplitterung der Parlamente verhindern. Andererseits könnten die Wähler ohne Risiko entsprechend ihrer aufrichtigen politischen Überzeugung wählen und wären von taktischem Wahlverhalten bei der Vergabe der Parteienstimme entlastet, da sie das „kleinere Übel“ unter den etablierten Parteien immer noch mit der Ersatzstimme wählen könnten.

In Summe sind bei der Bundestagswahl im Jahr 2009 2,6 Millionen Stimmen (6,0 %) bei der Sitzverteilung unberücksichtigt geblieben, da sie auf Parteien entfielen, die die 5 %-Hürde nicht erreichen konnten. Bei der Bundestagswahl im Jahr 2013 waren es 6,8 Millionen Stimmen (15,7 %), da neben Anderen auch die FDP und die AFD an der Sperrklausel scheiterten.[3][4]

Mögliche Verfahren

Zwei Verfahren für die Auswertung der Ersatzstimmen liegen nahe:

  • Einstufiges Verfahren: Alle Stimmen für Parteien, die gemäß den Hauptstimmen unterhalb der Sperrklausel liegen, werden gestrichen; an ihrer Stelle werden die Ersatzstimmen der Wähler dieser Parteien gewertet.
  • Mehrstufiges Verfahren: Nur die Partei mit den wenigsten Hauptstimmen wird gestrichen, und von deren Wählern werden die Ersatzstimmen gewertet. Das wird so oft wiederholt, bis nur noch Parteien übrig sind, die die Sperrklausel übersprungen haben. Dann kann die Sperrklausel auch mit Hilfe der Ersatzstimmen übersprungen werden. Bei dieser Variante würde das Monotonie-Kriterium verletzt, d.h. eine Partei könnte die 5-Prozent-Hürde verfehlen, weil Wähler sie wählen, anstatt einer anderen Partei ihre Stimme zu geben (vgl. Monotonie-Verletzung).

Variante

Neben der Vergabe einer einzelnen Ersatzstimme ist auch denkbar, dass die Wähler mehrere Parteien entsprechend ihrer Vorlieben (Präferenzwahl) in eine Rangfolge bringen. In diesem Verfahren wird die Parteistimme eines Wählers so lange übertragen, bis sie entweder an eine Partei geht, die die Sperrklausel übersprungen hat, oder alle angegebenen Präferenzen des Wählers durchlaufen wurden.

Praxis

Seit 1998 gab es verschiedene Wahleinsprüche, in denen die Einspruchsführer die bisherige Nicht-Einführung einer Ersatzstimme als verfassungswidrig bezeichneten und argumentierten, dass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Sperrklausel nur ein sehr begrenzter Ermessensspielraum zustehe. Zuletzt erhob Björn Benken im November 2013 einen solchen Einspruch.[5]

In Berlin versuchte im August 2008 das u. a. von Mehr Demokratie e. V. initiierte Bündnis „Mehr Demokratie beim Wählen“ durch einen erfolgreichen Antrag auf ein Volksbegehren das Wahlrecht für die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen zu verändern. Der Vorschlag für ein neues Berliner Wahlrecht sah auch die für Deutschland erstmalige Einführung einer Ersatzstimme vor. Die Berliner Innenbehörde erklärte im Oktober 2008 die Ersatzstimme (sowie weitere Teile des Gesamtpakets) für rechtlich nicht zulässig, da sie „gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl“ verstoße. Die Initiative reichte hiergegen im November 2008 vor dem Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin Klage ein. Im Mai 2009 entschied sich das Bündnis, das eigentliche Volksbegehren, das letztlich zum Volksentscheid geführt hätte, nicht zu beantragen, da es „ungern mit einem unvollständigen Paket fortfahren“ wolle. Aufgrund der hohen Hürden des weiteren Verfahrens (ca. 170.000 benötigte Unterschriften sowie ein Zustimmungsquorum von 25 %), mangelnder personeller und finanzieller Ressourcen und der ihr vom Senat „faktisch unmöglich“ gemachten Koppelung mit den Bundestagswahlen, sehe man ohnehin kaum Erfolgschancen. Als Nächstes warte man die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts ab.[6] Als Folge des Urteils des Berliner Landesverfassungsgerichts über die Nichtzulassung des Volksbegehrens zur Offenlegung der Berliner Wasserverträge von Oktober 2009[7] entschied der Senat am 15. Dezember 2009, die im Volksbegehren „Mehr Demokratie beim Wählen“ für unzulässig befundenen Teile – darunter die Einführung der Ersatzstimme – nun doch zuzulassen.[8]

Tobias Wagner reichte beim Petitionsausschuss des Bundestages eine öffentliche Petition mit der Forderung nach Einführung einer Ersatzstimme für die Zweitstimme bei Bundestagswahlen ein, die mit einem entsprechenden Rangfolgewahlverfahren für die Erststimme kombiniert werden sollte.[9] Die Mitzeichnungsfrist begann am 28. September 2009 und endete am 2. Dezember 2009, die Petition fand 351 Mitzeichner. Am 14. April 2011 wurde die Petition im Bundestag abschließend beraten und beschlossen, dieser nicht zu entsprechen.[10]

In Österreich, der Schweiz und Liechtenstein gab es bislang noch keine Versuche, das Wahlrecht durch die Einführung einer Ersatzstimme zu ergänzen.

Einzelnachweise

  1. Jack Meitmann: Konsequente Demokratie, Buchbesprechung von Jörg Valeske
  2. Positionspapier zur Integrierten Stichwahl von Wilko Zicht (Mehr Demokratie e.V.)
  3. Ersatzlos gestrichen? Wie jede Stimme zählen könnte, von Nikola Schmidt, Perspective Daily, vom 29. Juni 2016
  4. Die Turbo-Stimme, von Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung, 3. Januar 2016
  5. Wahleinspruch von Björn Benken (PDF; 425 kB) vom 21. November 2013
  6. Website von „Mehr Demokratie e.V.“
  7. Urteil des Landesverfassungsgerichts Berlin, 6. Oktober 2009
  8. Pressemeldung der Landespressestelle, 15. Dezember 2009
  9. Detailseite der Petition beim Deutschen Bundestag
  10. Votum und Abschlussbegründung des Bundestages

Siehe auch

Literatur

  • Ernst Becht: Die 5 %-Klausel im Wahlrecht. Garant für ein funktionierendes parlamentarisches Regierungssystem? (= Marburger Schriften zum öffentlichen Recht. Band 2). Stuttgart 1990, ISBN 3-415-01542-4.
  • Eckhard Jesse: Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Eine Analyse der Wahlsystemdiskussion und der Wahlrechtsänderungen in der Bundesrepublik Deutschland (1949-1983). Droste, Düsseldorf 1985, ISBN 3-7700-5129-7.
  • Eckhard Jesse: Die Hürde der fünf Prozent. In: Die Zeit. Nr. 2. Zeitverlag Gerd Bucerius, Hamburg 1987 (zeit.de).
  • Eckhard Jesse: Reformvorschläge zur Änderung des Wahlrechts. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Band 52. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2003, DNB 021247129, S. 9 f.
  • Jan Köhler: Parteien im Wettbewerb. Zu den Wettbewerbschancen nicht-etablierter politischer Parteien im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland. Nomos, Baden-Baden 2006, ISBN 3-8329-1679-2, S. 140 ff.
  • Hans Meyer: Wahlsystem und Verfassungsordnung. Bedeutung und Grenzen wahlsystematischer Gestaltung nach dem Grundgesetz. Metzner, Frankfurt am Main 1973, ISBN 3-7875-5236-7.
  • Werner Speckmann: 5 %-Klausel und subsidiäre Wahl. In: Zeitschrift für Rechtspolitik. Nr. 3. Beck, München, Frankfurt am Main 1970, DNB 011134755, S. 198 f.
  • Ulrich Wenner: Sperrklauseln im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland. Lang, Frankfurt am Main, Bern, New York 1986, ISBN 3-8204-9141-4, S. 412–416.

Weblinks