Heinrich Wölfflin

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Heinrich Wölfflin (Foto von Rudolf Dührkoop)

Heinrich Wölfflin (* 21. Juni 1864 in Winterthur; † 19. Juli 1945 in Zürich) war ein Schweizer Kunsthistoriker.

Leben

Wölfflin war Sohn des klassischen Philologen Eduard Wölfflin. Heinrich Wölfflin studierte Philosophie an der Universität Basel und an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, später auch Kunstgeschichte in München. 1886 schrieb er dort seine Dissertation Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur bei dem Archäologen Heinrich Brunn. Ein daran anschliessender zweijähriger Aufenthalt am Deutschen Archäologischen Institut in Rom führte zu seiner Habilitationsschrift Renaissance und Barock. 1893 wurde er als Nachfolger seines Lehrers Jacob Burckhardt Professor für Kunstgeschichte an der Universität Basel. Es folgten Berufungen an die Universitäten Berlin 1901, München 1912 und Zürich 1924. Zu seinen Schülern zählen August Grisebach, Erwin Anton Gutkind, Ernst Gombrich, Kurt Gerstenberg, Carl Einstein, Hermann Beenken, Ernst Gall, Max Sauerlandt, Paul Frankl, Walther Rehm, Erwin Panofsky, Kurt Martin, Justus Bier und Hans Rose, sowie der Künstler Alf Bayrle.

Wölfflin wurde 1941 mit dem Dr. med. h. c. der Universität Zürich und 1944 dem Dr. h. c. der Universität Berlin geehrt.

Wöfflins Grabstätte befindet sich auf dem Basler Wolfgottesacker. Seine Bibliothek und seine Photosammlung vermachte er der Universität Zürich.

Systematik

Wöfflins kunsthistorischer Ansatz wird als Formalismus bezeichnet, da er Kunstwerke vor allem nach ihrer äusseren Form, also ihrem Stil, betrachtete. Er war einer der ersten Kunsthistoriker, der in seinen Vorlesungen konsequent zwei Diaprojektoren verwendete, die es ihm erlaubten, zwei Kunstwerke direkt miteinander zu vergleichen.[1] Hauptsächlich über den Vergleich von Werken der Renaissance mit Werken des Barock entwickelte er in seinem Hauptwerk Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (1915) fünf begriffliche Gegensatzpaare, mit denen formale Unterschiede zwischen Kunstwerken der Renaissance und des Barock beschrieben werden können:[2]

Linear Malerisch
Fläche Tiefe
Geschlossen Offen
Vielheit Einheit
Klarheit Unklarheit und Bewegtheit

Mit seiner Systematik hat Wölfflin auch die Periodizität und Übertragbarkeit der Begriffe archaisch, klassisch, barock etc. begründet. Wölfflin selbst bezeichnete seinen Ansatz als Kunstgeschichte ohne Namen, da weniger der einzelne Künstler im Zentrum seiner Betrachtungen stand als vielmehr die Entwicklung einer Stilgeschichte, in welcher er Gemeinsamkeiten der Kunst bestimmter Epochen oder Länder aufdecken und benennen wollte.

Obwohl seine Begriffspaare immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt waren, gilt seine Arbeit als eine der wichtigsten Grundlagen der formalen Kunstbetrachtung. Vor allem seine Termini linear und malerisch sind auch heute noch gängige Kategorien zur Beschreibung des künstlerischen Stils. Seine Stiltypologie wurde in den 1920er Jahren von Fritz Strich auf die Literaturwissenschaft übertragen und wirkte dort weiter.[3] Wölfflins Theorie eines regelmässigen Wandels zwischen linearen und malerischen Perioden wird in der Kunst- und Literaturgeschichte als Wellentheorie bezeichnet.

Motive

In einer Zeit, als sich die Geisteswissenschaften gegen die Konkurrenz der Naturwissenschaften behaupten mussten, suchte Wölfflin objektive Kriterien für die Kunstbetrachtung und strebte dabei nach einem Brückenschlag zwischen Sinnesphysiologie und Wahrnehmungspsychologie. Seine Dissertation bemühte sich um «ein grundlegendes Verständnis der Bedingungen, die für unsere Wahrnehmung zu allen Zeiten ihre unumstössliche Gültigkeit behalten».[4]

Werke

  • Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur. München 1886 (online). Neuausgabe: Mann, Berlin 1999, ISBN 3-7861-1775-6.
  • Die Jugendwerke des Michelangelo. München 1891 (online).
  • Renaissance und Barock: eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien. München 1888 (online).
  • Die klassische Kunst: Eine Einführung in die italienische Renaissance. München 1899.
  • Die Kunst Albrecht Dürers. München 1905.
  • Kunstgeschichtliche Grundbegriffe: Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst. Bruckmann, München 1915, DNB 364051590, OCLC 8405625 (2. Auflage 1917 online).
  • Das Erklären von Kunstwerken. E. A. Seemann, Leipzig 1921 (Bibliothek der Kunstgeschichte 1).
  • Die Bamberger Apokalypse. um 1930 (online).

Literatur

  • Hanna Levy: Henri Wölfflin. Sa théorie. Ses prédécesseurs. Dissertation, Univ. Paris, M. Rothschild, Rottweil a. N. 1936.
  • Wolfgang Müller: Die Grundbegriffe Heinrich Wölfflins im Französischen. Dissertation, Univ. Tübingen 1969. Tübingen 1969, DNB 482602961.
  • Meinhold Lurz: Heinrich Wölfflin, Biographie einer Kunsttheorie (= Heidelberger kunstgeschichtliche Abhandlungen, N.F., Band 14). Werner, Worms 1981, ISBN 3-88462-003-7.
  • Andreas Eckl: Kategorien der Anschauung. Zur transzendentalphilosophischen Bedeutung von Heinrich Wölfflins «Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen». Dissertation, Univ. Bonn 1994. Fink, München 1996, ISBN 3-7705-3072-1.
  • Lambert Wiesing: Die Logik der Sichtweisen. Heinrich Wölfflin (1864–1945). In: Ders.: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. Campus, Frankfurt am Main 2008, S. 95–141.
  • Andreas Ay: Nachts: Göthe gelesen – Heinrich Wölfflin und seine Goethe-Rezeption. V&R unipress, Göttingen 2010, ISBN 978-3-89971-581-1.
  • Hans Christian Hönes: Wölfflins Bild-Körper. Ideal und Scheitern kunsthistorischer Anschauung. Diaphanes, Zürich 2011, ISBN 978-3-03734-167-4.
  • Matteo Burioni, Burcu Dogramaci und Ulrich Pfisterer (Hrsg.): Kunstgeschichten 1915. 100 Jahre Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Dietmar Klinger Verlag, Passau 2015, ISBN 978-3-86328-136-6.
  • Elisabeth Eggimann Gerber: Wölfflin, Heinrich. In: Historisches Lexikon der Schweiz. (2015).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Ernst H. Gombrich: Die Kunst der Renaissance I. Norm und Form. Nachdruck Klett, Stuttgart 1985, S. 119, ISBN 3608761462.
  2. Tristan Weddigen: Morphologie einer Wissenschaft. Vor hundert Jahren erschienen Heinrich Wölfflins «Kunstgeschichtliche Grundbegriffe». In: Neue Zürcher Zeitung, 12. Dezember 2015, S. 48.
  3. Vgl. etwa Volker Klotz: «Geschlossene und offene Form im Drama» (1960).
  4. Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur. München 1886, S. ?.