KATRIN

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Vakuumtank am Schwerlastkran unmittelbar nach dem Absetzen auf die zwei gekoppelten Tieflader
Transport durch den Ort Leopoldshafen

Das Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment (KATRIN) hat die direkte Bestimmung der Masse des Elektron-Antineutrinos zum Ziel. Die Komponenten für das Experiment wurden seit dem Herbst 2015 im Karlsruher Institut für Technologie zusammengebaut und der Messbetrieb wurde im Oktober 2016 aufgenommen.[1] Das Budget beträgt 60 Millionen Euro. Die Messzeit ist auf 5 Jahre angesetzt. Rund 200 Wissenschaftler aus fünf Ländern und zwei Kontinenten sind beteiligt.[2][3]

KATRIN soll das Betaspektrum des Zerfalls von Tritium im Bereich seiner Höchstenergie mit einer Empfindlichkeit von 0,2 eV vermessen. Damit wird KATRIN die früheren gleichartigen Experimente in Mainz und Troizk um eine Größenordnung übertreffen; diese hatten für die Masse eine Obergrenze von 2,1 eV geliefert.

Motivation

Im Standardmodell der Elementarteilchenphysik wurden die bekannten Neutrinoarten νe, νμ und ντ zunächst als masselos angenommen. Verschiedene Experimente mit atmosphärischen (Super-Kamiokande), solaren (GALLEX, Homestake, SNO) und Reaktor-Neutrinos (Double-Chooz) weisen aber darauf hin, dass die Neutrino-Ruhemasse von Null verschieden ist. Alle diese Experimente weisen Neutrinooszillationen nach und messen daher Massenquadrats-Abstände wie , nicht aber die absoluten Neutrinomassen. Experimente wie KATRIN und seine Vorgängerexperimente ermöglichen dagegen die Bestimmung der absoluten Massen der sogenannten Massen-Eigenzustände, die mit den messbaren Massen von e-, µ- und τ-Neutrino über die Maki-Nakagawa-Sakata-Mischungsmatrix zusammenhängen.

Die genaue Kenntnis der Neutrinomasse ist erforderlich, um zwischen den vielen unterschiedlichen Modellen zu entscheiden, mit denen versucht wird, den Neutrinos über das bisherige Standardmodell hinausgehend eine Masse zu verleihen. Das Ergebnis kann auch Aufschluss darüber geben, in welchem Ausmaß Neutrinos als „heiße dunkle Materie“ (HDM) zur Entstehung großskaliger Strukturen im Universum beigetragen haben.

Die Kenntnis der Masse eines der drei Massen-Eigenzustände wird es auch ermöglichen, drei mögliche Varianten des Neutrinomassenspektrums zu unterscheiden:

  • Normale Hierarchie:
  • Invertierte Hierarchie:
  • Quasi-degenerierte Hierarchie:

KATRIN stößt damit als erstes Experiment in den Bereich der quasi-degenerierten Hierarchie vor.

Durchführung

Tritium-Betazerfallsspektrum

Energiespektrum der beim Tritium-Betazerfall emittierten Elektronen. Es sind drei Graphen für verschiedene Neutrinomassen dargestellt. Nur im Bereich des hochenergetischen Endpunktes laufen die Kurven auseinander; der Schnittpunkt mit der waagerechten Achse hängt von der Neutrinomasse ab. Bei KATRIN wird der Energiebereich um diesen Endpunkt vermessen, um die Neutrinomasse zu bestimmen. Das Diagramm verdeutlicht außerdem die äußerst geringe Zählrate im vermessenen Energiebereich, die lange Messzeiten erfordert, um aussagekräftige Ergebnisse zu erreichen.

Ausgangspunkt des Experiments ist der Betazerfall von Tritium, bei dem ein Elektron und ein Elektron-Antineutrino emittiert werden. Die Zerfallsenergie von 18,6 keV wird dabei zwischen dem Tochterkern und den beiden emittierten Teilchen aufgeteilt (siehe Kinematik (Teilchenprozesse)); allerdings erhält der Tochterkern wegen seiner vergleichsweise großen Masse immer nur einen verschwindend kleinen Anteil. Falls das Neutrino masselos ist, ist die untere Grenze für die Neutrinoenergie gleich Null, und das Energiespektrum der emittierten Elektronen reicht bis zur vollen Zerfallsenergie von 18,6 keV. Bei von Null verschiedener Masse und damit Ruheenergie des Neutrinos muss dagegen dem Elektron zumindest diese Energie "fehlen". Durch genaue Vermessung des Spektrums nahe der Maximalenergie lässt sich durch Vergleich der für theoretisch berechneten mit der gemessenen Kurve die Neutrinomasse bestimmen.

Spektrometer

Für das Experiment sind ausschließlich Elektronen nützlich, die das Tritium mit fast der vollen Zerfallsenergie verlassen. Ihre Energie von etwa 18,6 keV muss auf etwa 1 eV genau gemessen werden, also mit einer Energieauflösung von etwa 1/20000 oder 5×10−5. Dies kann mit einfachen Teilchendetektoren nicht erreicht werden. Deshalb werden vor dem eigentlichen Detektor zwei hintereinander angeordnete Spektrometer verwendet, sogenannte MAC-E-Filter (Magnetic Adiabatic Collimation combined with an Electrostatic Filter). Sie filtern durch eine einstellbare Gegenspannung alle Elektronen unterhalb der entsprechenden Energie heraus und weisen gegenüber anderen Typen von Betaspektrometern eine genügende Luminosität auf.

Im kleineren Vorspektrometer wird durch eine Spannung im Bereich von −18 kV der Elektronenfluss bereits stark reduziert. Das so von „uninteressanten“ Elektronen entlastete Hauptspektrometer muss dann das genannte extreme Auflösungsvermögen erreichen.

Im MAC-E-Spektrometer erzeugen zwei axial hintereinander in einigem Abstand angeordnete Spulen ein Magnetfeld. Die Feldlinien laufen im Raum zwischen den Spulen auseinander und erfüllen eine große Querschnittsfläche, so dass dort die magnetische Flussdichte entsprechend verringert ist. Das Auflösungsvermögen des Spektrometers für die Elektronenenergie ist dabei gleich dem Verhältnis der minimalen zur maximalen magnetischen Flussdichte:[4]

.

Um die Verringerung von auf 1/20000 zu erreichen, muss der freie Querschnitt zwischen den Spulen auf das 20000-fache des Spulenquerschnitts anwachsen; dies erklärt die großen Ausmaße des Hauptspektrometer-Vakuumtanks (Durchmesser 10 m).

Die Spannung im Hauptspektrometer wird für die Vermessung des Spektrums im Bereich von −18,6 kV variiert und die Zählrate als Funktion der Spannung aufgezeichnet. Das Hauptspektrometer nutzt supraleitende Magnetspulen, die eine magnetische Flussdichte von mindestens 6 Tesla erreichen.[4][5]

Detektor

Der zum Nachweis der Elektronen eingesetzte Silizium-Halbleiterdetektor erreicht nur eine Energieauflösung von 200 eV. Wegen der vorherigen Energieselektion ist hier keine besonders hohe Auflösung notwendig, und die geringere Auflösung hilft bei der Unterdrückung von Untergrundsignalen.

Der Elektronenfluss reduziert sich durch die beiden Filter von 1010 e/s an der Tritiumquelle auf etwa 1 e/s am Detektor. Um aussagekräftige Ergebnisse zu erreichen, werden daher mehrere Messperioden von jeweils drei Monaten nötig sein, in denen vor allem die Gegenspannung im Spektrometer ständig auf wenige ppm genau aufgezeichnet werden muss.

Ausschluss von Untergrund-Elektronen

Nicht aus dem Tritium-Betazerfall stammende Elektronen, die etwa durch Stöße der sekundären kosmischen Strahlung aus der Tankwand freigesetzt werden, können die Messung verfälschen. Um sie zu unterdrücken, ist das gesamte Hauptspektrometer innen mit einer doppelten Abschirmelektrode ausgekleidet. Die an diesen Elektroden anliegende Spannung ist etwas kleiner als die an der Tankwand anliegende, das heißt etwa −18,6 kV gegenüber −18,4 kV an der Wand. Durch diese Gegenspannung werden aus der Wand herausgelöste Elektronen abgebremst und dringen nicht bis zum Detektor vor.

Sonstiges

Der 200 t schwere, 24 m lange Vakuumtank mit einem Durchmesser von 10 m für das KATRIN-Hauptspektrometer wurde von der MAN DWE GmbH in Deggendorf bei Regensburg hergestellt. Das Experiment wird jedoch im Karlsruher Institut für Technologie aufgebaut und durchgeführt, da sich dort mit dem Tritium-Labor im KIT Campus Nord (ehemals Forschungszentrum Karlsruhe) die europaweit einzige für das Experiment geeignete Tritiumquelle befindet. Der Tank war zu groß, um über Autobahnen transportiert werden zu können. Er wurde über die Donau, durch das Schwarze Meer, das Mittelmeer, den Atlantik, den Ärmelkanal, die Nordsee und über den Rhein nach Leopoldshafen bei Karlsruhe per Schiff und schließlich am 25. November 2006 auf den letzten 6,8 km per Tieflader-Schwertransport in viereinhalb Stunden durch Leopoldshafen zum Forschungszentrum gebracht. Dieser Umweg betrug ca. 8600 km gegenüber der kürzeren Route mit 350 km auf dem Landweg.[6]

Literatur

  • KATRIN Collaboration: KATRIN Design Report 2004. Forschungszentrum Karlsruhe, Bericht FZKA-7090 (2005), ISSN 0947-8620 (online PDF, kostenfrei, 249 Seiten, 9,3 MB).
  • Joachim Wolf: The KATRIN neutrino mass experiment. In: Nuclear Instruments and Methods in Physics Research Volume 623, Issue 1, S. 442–444 1. November 2010 (1st International Conference on Technology and Instrumentation in Particle Physics online kostenpflichtig).

Einzelnachweise

  1. 60-Millionen-Euro-Projekt am KIT gestartet: Neutrinos kommen auf die Waage. In: SWR Online. (swr.de [abgerufen am 19. Oktober 2016]).
  2. Bericht bei Welt der Physik vom 26.01.2016: Neutrinos wiegen mit KATRIN Abruf am 5. August 2016
  3. Bericht bei Elektronikpraxis vom 07.10.2015: Neutrinos haben eine Masse, die messbar ist Abruf am 5. August 2016
  4. a b KATRIN Collaboration: KATRIN Design Report 2004. Bericht FZKA 7090, Forschungszentrum Karlsruhe 2005, pdf, 9,5 MB
  5. M. Zacher und Ch. Hahn: Die Neutrino-Waage kalibrieren. Physik Journal, Sonderheft "Best of", Okt. 2013, S. 24–26
  6. Kurzreportage: Transport eines 200 t Spektrometertanks Video auf Youtube 6 Minuten

Siehe auch

Weblinks

Commons: KATRIN – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Koordinaten: 49° 5′ 44,6″ N, 8° 26′ 10″ O