Liste von politischen Strafprozessen in der DDR

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Diese Liste enthält Strafprozesse in der DDR, die einen politischen Hintergrund hatten.

Angeklagte beim RIAS-Prozess 1955

Übersicht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Begriff[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als „politische Strafverfahren“ werden Prozesse bezeichnet, deren Beschuldigte vor allem aus politischen Motiven handelten. Dieses kann in einzelnen Fällen unklar sein. Die DDR-Justiz verwendete den Begriff nur selten, erstmals bei der Amnestie 1972.

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Besonders in den ersten Jahren der DDR wurden zahlreiche politische Prozesse gegen Personen geführt, die tatsächlich oder angeblich versuchten, die Politik der SED zu behindern oder zu kritisieren. Allein 1950 gab es etwa 78.000 politische Strafprozesse.

Eine besondere Rolle spielten in den ersten Jahren Drehbuch-Prozesse (Schauprozesse), deren Ablauf und Urteil bereits vor Beginn festgelegt waren und die einen abschreckenden oder erzieherischen Wert auf die DDR-Bevölkerung haben sollten. Über diese wurde dann ausführlich in den Medien berichtet, auch mit Film- und Rundfunkaufnahmen von den Verhandlungen. Die wichtigsten Anklagepunkte waren dabei immer übertrieben oder sogar erfunden.[1]

Zu den wichtigsten Schauprozesse in dieser Zeit gehörten die Waldheimer Prozesse gegen tatsächliche und vermeintliche NS-Täter mit über 3000 Verurteilungen, die Prozesse gegen die Unternehmen Contigas und Solvay, sowie gegen führende Vertreter der Zeugen Jehovas (alle 1950), Prozesse gegen Sympathisanten der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (1952 und 1955), ein Prozess gegen Ostdeutsche, die dem Rundfunksender RIAS brisante Informationen übermittelten (1955), sowie gegen junge Christen, die angeblich versuchten, ein Schiff nach Dänemark zu entführen (1961). Einige der Beschuldigten wurden zum Tode verurteilt, was von den politischen Entscheidungsträgern Walter Ulbricht, Erich Mielke und anderen befürwortet oder sogar angeordnet wurde.

Die bekanntesten politischen Verurteilten in der DDR mit langjährigen Haftstrafen waren die Minister Karl Hamann (LDP, 1954), Georg Dertinger (CDU, 1955) und Max Fechner (SED, 1955), das Politbüromitglied Paul Merker (1955), der Verlagsleiter Walter Janka (1957), die Philosophen Wolfgang Harich (1957) und Rudolf Bahro (1978) und der Schriftsteller Erich Loest (1958). Die meisten Verurteilten waren aber unbekannte Bürger, die oft wegen geringer angeblicher Delikte wie das Anbringen von Parolen an öffentlichen Orten, Aufrufen oder einem politischen Witz zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Die meisten politischen Verurteilungen standen aber im Gegensatz zur Verfassung der DDR mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und wurden nach 1989 deshalb wieder aufgehoben.

Insgesamt gab es in der DDR etwa 200.000 politische Häftlinge zwischen 1949 und 1989. Dazu wurden auch Wehrdienstverweigerer, gescheiterte Fluchtversuche und weitere gezählt.

Strafprozesse (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Mehrjährige Haftstrafen und Todesurteile[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Urteile mit Haftstrafen von mindestens zwei Jahren für die Hauptangeklagten. Fast alle wurden vorzeitig entlassen, einige bereits 1956 in der Tauwetter-Periode oder durch Häftlingsfreikäufe in die Bundesrepublik. Abkürzungen: OG = Oberstes Gericht, OLG = Oberlandesgericht, LG = Landgericht, BG = Bezirksgericht.

= 1949–1954[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Datum Beschuldigte Anklage Gericht Urteil Bemerkungen
April 1950 Mitarbeiter der Firma Conti, Landesminister Leo Herwegen mehrere langjährige Zuchthausstrafen
3. und 4. Oktober 1950 9 führende Vertreter der Zeugen Jehovas langjährige Zuchthausstrafen nach dem Verbot der „Zeugen Jehovas“ in der DDR am 31. August 1950, danach wurden über 6.000 verhaftet
Dezember 1950 Mitarbeiter des Solvay-Konzerns mehrere langjährige Zuchthausstrafen
29. Januar 1951 Hermann Flade Boykotthetze und Mordversuch OLG Dresden 15 Jahre Zuchthaus, ursprünglich Todesstrafe klebte Flugblätter gegen die undemokratische Volkskammerwahl, stach mit einem Taschenmesser auf einen Zivilpolizisten ein, der ihn verhaften wollte, wurde zum Tode verurteilt, dann nach Protesten von Bundeskanzler Adenauer, dem Regierenden Bürgermeister Reuter und weiteren zu Zuchthausstrafe begnadigt
1. September 1951 Staatsanwalt Erhard Formann habe eine Reihe von Wirtschaftsstrafsachen nicht durchgeführt LG Bautzen 15 Jahre Zuchthaus war 1. Staatsanwalt beim Generalstaatsanwalt Sachsen und LDP-Mitglied, bei der Verhandlung mussten 89 Staatsanwälte und 75 Richter aus der ganzen DDR im Publikum zuschauen
3. Oktober 1951 19 Oberschüler aus Werdau LG Zwickau 2 bis 15 Jahre Zuchthaus hatten gegen die Volkskammerwahl Flugblätter verteilt
25. Mai 1952 Mitglieder der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit „Planung von Terror- und Diversionshandlungen“ OG Todesstrafe gegen Johann Burianek[2] Schauprozess, erstes Todesurteil des Obersten Gerichts der DDR
9. August 1952 Wolfgang Kaiser OG Todesstrafe[3] Schauprozess wegen angeblicher Herstellung von Sprengstoff für die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit
17. Mai 1952 Johann Muras und Ernst Wilhelm LG Mühlhausen[4] Todesstrafe [5]
26. Juli 1952 7 Männer OG 2 lebenslang, 5 12–15 Jahre Zuchthaus Schauprozess, wegen Informationsweitergabe an den Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen, Hauptangeklagte Fritz Krefeld und Fritz Schmelzer[6]
11. März 1953 Staatsanwalt Hans-Joachim Schiebel Spionage BG Dresden lebenslange Zuchthausstrafe hatte viele Gerichtsunterlagen an den West-Berliner Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen weitergegeben, LDP-Stadtbezirksvorsitzender
22. Juni 1953 Erna Dorn „faschistische und Kriegshetze“ gegen die DDR BG Halle angebliche Rädelsführerin der Unruhen in Halle/S. am 17. Juni 1953, was aber kein einziger Zeitzeuge mitbekommen hat
Herbst 1953 Kurt König Militärspionage BG Leipzig Todesstrafe [7]
3. März 1954 Paul Bruno Rebenstock OG Todesstrafe[8] Offizier des MfS (Leiter der Kreisdienststelle Prenzlau); wegen Flucht nach West-Berlin
6. Oktober 1953 Ernst Jennrich „Mord am Volkspolizisten Georg Gaidzik“ im Juni 1953 BG Magdeburg, OG Todesstrafe[9]
31. Oktober 1953 Christian Lange-Werner Spionage BG Cottbus Todesstrafe[10] Leutnant der Volkspolizei[11]
März 1954 Außenminister Georg Dertinger Verschwörung und Spionage langjährige Zuchthausstrafen auch für Frau und Sohn
9. November 1954 Gehlen-Prozess Spionage OG Todesstrafe gegen Karli Bandelow und Ewald Misera[12] Spionage für den westdeutschen Geheimdienst Gehlen

1955[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Datum Beschuldigte Anklage Gericht Urteil Bemerkungen
17. Mai 1955 Heinz Georg Ebeling BG Halle Todesstrafe[13] Ehemaliger Mitarbeiter des MfS; in den Westen geflohen.
14. März 1955 Paul Köppe BG Cottbus Todesstrafe[14] Kraftfahrer in der Hauptabteilung I des MfS; nach West-Berlin geflohen.
März 1955 Paul Merker langjährige Zuchthausstrafe ehemaliges Mitglied des SED-Politbüros
Mai 1955 Justizminister Max Fechner langjährige Zuchthausstrafe weil er beim Aufstand vom 17. Juni 1953 zu nachgiebig auftrat
13. Juni 1955 Wilhelm Lehmann und Hans-Joachim Koch Spionage OG Todesstrafe[15]
18. Juni 1955 Staatsanwalt Lothar Cetti und Ehefrau Spionage BG Leipzig langjährige Zuchthausstrafen wegen Beziehungen zu westlichem Befreiungskomitee für die Opfer totalitärer Willkür und zum Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen, LDP-Mitglied[16]
23. Juni 1955 Angehörige der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit Sabotage und Spionage OG Todesstrafe gegen Gerhard Benkowitz und Hans-Dietrich Kogel[17] Schauprozess wegen angeblicher Planung einer Sprengung
3. März 1955 Karl-Albrecht Tiemann Spionage BG Cottbus Todesstrafe[18] wegen Zusammenarbeit mit westlichen Geheimdiensten
27. Juni 1955 RIAS-Prozess, fünf DDR-Bürger Militärspionage OG Todesstrafe gegen Joachim Wiebach, langjährige Zuchthausstrafen für die anderen vier[19] die fünf Angeklagten hatten dem Rundfunksender RIAS viele Informationen aus der DDR geliefert, Todesurteil auf Anordnung von Walter Ulbricht
27. Juni 1955 Bruno Krüger und Susanne Krüger OG Todesstrafe[20] er war Vernehmungsoffizier beim Staatssekretariat für Staatssicherheit, sie war seine Sekretärin
23. September 1955 Elli Barczatis und Karl Laurenz Spionage OG Todesstrafe[21] sie war Sekretärin des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl, er nutzte sie ohne ihr Wissen für einen westlichen Geheimdienst; wegen „Boykotthetze“ nach Art. 6 der Verfassung
15. November 1955 Ulrich Koslowsky Spionage BG Halle[22] Todesurteil Polizeimeister der Volkspolizei; wegen Spionage für die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit

1956–1990[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Datum Beschuldigte Anklage Gericht Urteil Bemerkungen
7. Februar 1956 Werner Alfred Flach Spionage BG Neubrandenburg[23] Todesstrafe Oberfeldwebel der Volkspolizei
22. Februar 1956 Sylvester Murau Spionage BG Cottbus[24] Todesstrafe Major des MfS, wurde nach seiner Flucht in den Westen, wo er mit westlichen Geheimdiensten zusammenarbeitete, zurück in die DDR entführt,
März 1957 Wolfgang Harich, Bernhard Steinberger, Manfred Hertwig Konterrevolutionäre Gruppenbildung mehrjährige Gefängnisstrafe Schauprozess
Juli 1957 Walter Janka, Gustav Just, Richard Wolf, Heinz Zöger mehrjährige Gefängnisstrafen Schauprozess[25]
Dezember 1958 Erich Loest mehrjährige Gefängnisstrafe bekannter Schriftsteller
26. April 1960 Manfred Smolka Militärspionage BG Erfurt[26] Todesstrafe der Oberleutnant der DDR-Grenzpolizei flüchtete in den Westen, kehrte heimlich zurück, um seine Familie nachzuholen, wurde dabei verhaftet, Todesstrafe mit Genehmigung von ZK-Sekretär Honecker und MfS-Minister Mielke
22. September 1961 Fritz Fehrmann Spionage im schweren Fall BG Frankfurt/Oder[27] Todesurteil Oberleutnant der Volkspolizei, seine Frau Elisabeth wurde zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt
24. August 1961 10 Mitglieder der Jungen Gemeinde Berlin-Schmöckwitz BG Rostock 8 Jahre Haft für die beiden Hauptangeklagten bei einer Schiffsrundfahrt bei Rügen baten sie den Kapitän um Fortsetzung trotz schlechtem Wetter, was als gewaltsame Entführung ausgelegt wurde
30. Juni 1978 Rudolf Bahro landesverräterische Sammlung von Informationen und Geheimnisverrat 8 Jahre Haft für sein regimekritisches Buch Die Alternative, nach zahlreichen internationalen Protesten vorzeitige Entlassung im Oktober 1979

Weitere politische Strafprozesse[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Verurteilungen zu weniger als zwei Jahren Haft

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Roger Engelmann, Karl Wilhelm Fricke: „Gezielte Schläge“ 1953–1956. Ch. Links, Berlin 1998 Auszüge

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Roger Engelmann, Karl Wilhelm Fricke, "Gezielte Schläge", Berlin 1998 Auszüge, mit einigen Beispielen
  2. 25. Mai 1952, 1 Zst (I) 6/52, OGSt 2, 37
  3. 9. August 1952, 1 Zst (I) 11/52
  4. 17. Mai 1952, 1 KLs 15/52
  5. Hinrichtungen in der DDR. Abgerufen am 19. Mai 2023 (deutsch).
  6. Karl Wilhelm Fricke, Opposition und Widerstand in der DDR-Strafjustiz, in Aus Politik und Zeitgeschehen, 39/1996?? , Kapitel III, dort auch Lohrmann
  7. Video Dokumentation: Deckname Annett (21. September 2010, 20:15 Uhr, 43:29 Min.) in der ZDFmediathek, abgerufen am 3. Februar 2014.
  8. 3. März 1954, 1 Zst (I) 1/54; Stasi und DDR-Militärjustiz, 4.B.III.1. DDR: „Der Akt dauerte 5 Sekunden“. In: Der Spiegel. Nr. 50, 1997 (online).
  9. 6. Oktober 1953, I Ks 515/53; zuvor OG, 8. September 1953, 1b USt 476/53
  10. 31. Oktober 1953, 1/472/53; OG, 24. Oktober 1953, 1a USt 582/53; Stasi und DDR-Militärjustiz, 4.B.II.1
  11. Stefan Donth: Tödliche Spionage im Kalten Krieg. Hohenschönhausen: die „Gruppe Lange-Werner“ im Visier der DDR-Staatssicherheit. Metropol, Berlin 2023
  12. 9. November 1954, 1 Zst (I) 9/54, Neue Justiz 22/1954; Engelmann, Fricke, „Konzentrierte Schläge“, Kapitel 6.2
  13. 11. März 1955, 1 Ks 45/55; OG, 5. April 1955, 1b Ust 67/55; Stasi und DDR-Militärjustiz, 4.B.III.2
  14. 14. März 1955; OG, 15 April 1955, 1a Ust 50/55; Stasi und DDR-Militärjustiz, 4.B.III.3
  15. 13. Juni 1955, 1 Zst (I) 3/55; Engelmann, Fricke, „Konzentrierte Schläge“, Kapitel 6.3
  16. Karl Wilhelm Fricke, Opposition und Widerstand in der DDR-Strafjustiz, in Aus Politik und Zeitgeschichte, 39/1996, Kapitel 3; ausführlich in Engelmann, Fricke, Gezielte Schläge, 1998
  17. 23. Juni 1955, 1 Zst (I) 4/55; Engelmann, Fricke, „Konzentrierte Schläge“, Kapitel 6.5
  18. 3. März 1955, 1 Ks 23/55
  19. 27. Juni 1955, 1 Zst (I) 5/55; Engelmann, Fricke, „Konzentrierte Schläge“, Kapitel 6.6
  20. 27. Juni 1955, 1 Zst (I) 6/55; Stasi und DDR-Militärjustiz, 4.B.III.6 | Todesstrafe
  21. 23. September 1955, 1 Zst (I) 7/55; Engelmann, Fricke, „Konzentrierte Schläge“, Kapitel 6.7
  22. 15. November 1955; OG, 11. November 1955, 1b Ust 344/55; Stasi und DDR-Militärjustiz, 4.B.II.3a
  23. 7. Februar 1956, 1 Ks 13/56; keine Berufung; Stasi und DDR-Militärjustiz, 4.B.II.4; Gedenkrede zu Ehren von Werner Alfred Flach (2016)
  24. 22. Februar 1956; Stasi und DDR-Militärjustiz, 4.B.III.7
  25. Anklage Staatsverrat Deutschlandfunk
  26. 26. April 1960, 1 Bs 34/60; OG, 14. Juni 1960, 1b USt 62/60; Stasi und DDR-Militärjustiz, 4.B.II.5
  27. 22. September 1961, 1 Bs 158/61; Stasi und DDR-Militärjustiz, 4.B.II.6; Fachhochschule Polizei Brandenburg (Memento vom 28. August 2018 im Internet Archive)
  28. Sascha-Ilko Kowalczuk, Endspiel, 2009