Polenaktion

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Ausweisung jüdischer Polen aus Nürnberg am 28. Oktober 1938, Aufnahme aus dem Bundesarchiv
Gedenktafel am ehemaligen Polnischen Generalkonsulat in Leipzig, in dem 1938 etwa 1300 polnische Juden Schutz fanden (Musikviertel, Wächterstraße 32)

Polenaktion bezeichnet die Ende Oktober 1938 kurzfristig durchgeführte Abschiebung von bis zu 17.000 jüdischen Polen aus dem Deutschen Reich. Die Ausweisung erfolgte gewaltsam und kam für die Betroffenen völlig überraschend. Herschel Grynszpan, dessen Eltern betroffen waren, schoss deswegen am 7. November in Paris auf den deutschen Botschaftsmitarbeiter Ernst vom Rath, der am 9. November starb, was wiederum Anlass für die Novemberpogrome 1938 war.

Geschichte

Am 31. März 1938 wurde vom polnischen Parlament ein Gesetz verabschiedet, das die Möglichkeit vorsah, allen polnischen Staatsbürgern, die länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland lebten, die Staatsbürgerschaft zu entziehen.[1] Am 9. Oktober 1938 folgte eine Verfügung, nach der im Ausland ausgestellte Pässe ab 30. Oktober 1938 nur mit einem Prüfvermerk des polnischen Konsulats zur Einreise nach Polen berechtigten. Auf diese Weise wollte die polnische Regierung eine Massenausweisung nach Polen der im Deutschen Reich lebenden Juden polnischer Staatsangehörigkeit verhindern.[1][2]

Staatssekretär Ernst von Weizsäcker drückte gegenüber dem polnischen Botschafter Józef Lipski die Befürchtung der deutschen Führung aus, dass „uns im Wege der Ausbürgerung ein Klumpen von 40–50 000 staatenlosen ehemaligen polnischen Juden in den Schoß fiele“.[3] Die polnische Regierung wurde am 26. Oktober ultimativ aufgefordert, die Inhaber polnischer Pässe auch künftig ohne Sichtvermerk einreisen zu lassen; andernfalls werde man die polnischen Juden noch vor Inkrafttreten des Gesetzes abschieben.[4]

Reinhard Heydrich ließ zwischen dem 28. und 29. Oktober 1938 zahlreiche Juden verhaften. Obwohl diese Aktion überraschend kam, konnte die Polizei nur einen Teil der polnischen Juden festnehmen und abschieben; einige wurden nicht in der Wohnung angetroffen, mussten wegen Krankheit oder Gebrechlichkeit entlassen werden oder konnten sich versteckt halten.[5] 17.000 polnische Juden wurden mit Sonderzügen über die Grenze vor allem bei Zbąszyń (Bentschen), Chojnice (Konitz) in Pommern und Beuthen in Oberschlesien abgeschoben.[1][6]

Die Zwangsausweisung kam für die polnischen Grenzbehörden überraschend, so dass sie unter den gegebenen Umständen völlig überfordert waren und je nach Ort unterschiedlich agierten. An manchen Grenzorten konnten die Ausgewiesenen ungehindert weiterreisen, ohne namentlich erfasst zu werden. In Zbąszyń wurde der Versuch unternommen, die abgeschobenen Personen zu registrieren bzw. ihre Pässe zu kontrollieren. Viele von ihnen konnten innerhalb der ersten zwei Tage in das Landesinnere weiterreisen. Diejenigen allerdings, die in Polen keine Familienangehörigen bzw. Bekannten hatten, bei denen sie unterkommen konnten, und diejenigen, denen man die Einreise verweigerte, wurden in Zbąszyń interniert.[1]

Nach Protesten des polnischen Außenministeriums wurde die Polenaktion eingestellt. Diejenigen Juden, welche nicht über die polnische Grenze getrieben werden konnten, wurden von den deutschen Behörden zurück ins Landesinnere gebracht.

Der spätere Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki war von dieser Maßnahme betroffen. Des Weiteren befand sich Zindel (Sendel) Grynszpan, ein Schneidermeister aus Hannover, nebst Angehörigen bei den Deportierten. Dessen in Paris lebender 17-jähriger Sohn Herschel Grynszpan hörte vom Martyrium seiner Familie. Um auf die Situation der Juden aufmerksam zu machen, schoss er am 7. November 1938 auf den 3. Sekretär der deutschen Botschaft Ernst Eduard vom Rath, der am 9. November verstarb. Die Nationalsozialisten nahmen dies zum Anlass, in der folgenden Nacht die Novemberpogrome 1938 auszulösen.

Zindel (Sendel) Grynszpan sagte 1961 im Eichmann-Prozess über die Umstände seiner Deportation und die seiner Familie während der „Polenaktion“ als Zeuge aus.[7]

Literatur

  • Jerzy Tomaszewski: Auftakt zur Vernichtung. Die Vertreibung der polnischen Juden aus Deutschland 1938. Fibre, Osnabrück 2002, ISBN 3-929759-63-2. .Textauszug
  • Thomas Urban: Der Verlust. Die Vertreibung der Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert. München 2004.
  • Léon Noël: Der deutsche Angriff auf Polen. Verlag Arani, Berlin 1948 (Bericht des französischen Botschafters in Polen 1935–1939).
  • Emanuel Feinermann, Rita Thalmann: Die Kristallnacht. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-434-46211-2 (zuerst 1987).
  • Wojciech Olejniczak / Izabela Skórzyńska (Hg.): Do zobaczenia za rok w Jerozolimie. Deportacje polskich Żydów w 1938 roku z Niemiec do Zbąszynia / See You next Year in Jerusalem. Deportations of Polish Jews from Germany to Zbąszyń in 1938. Fundacja TRES, Zbąszyń 2012 (zweisprachige Publikation, polnisch u. englisch).

Weblinks

Commons: Polenaktion in Nürnberg – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b c d Die Abschiebung polnischer Juden aus dem Deutschen Reich 1938/1939 und ihre Überlieferung. Bundesarchiv, abgerufen am 28. April 2012.
  2. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Band 2: Deutsches Reich 1938–August 1939 (hrsg. von Susanne Heim), München 2009, ISBN 978-3-486-58523-0, S. 52
  3. Aufzeichnung des Staatssekretärs vom 8. November 1938, zitiert nach: Die Verfolgung und Ermordung …, Bd. 2, S. 52 mit Anm. 136.
  4. Hans-Jürgen Döscher: „Reichskristallnacht“ – Die Novemberpogrome 1938. München 2000, ISBN 3-612-26753-1, S. 57.
  5. Die Verfolgung und Ermordung …, Dokument 112, S. 322.
  6. 12.500 als Zahlenangabe bei Rita Thalmann, Emmanuel Feinermann: Die Kristallnacht. Hamburg 1993, ISBN 3-434-46211-2, S. 38
  7. The Eichmann Trial, Jerusalem 1961. Zeugenaussage des Zindel (Sendel) Grynszpan. Abgerufen am 28. Januar 2015.