Psychohistorie

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Nicht zu verwechseln mit Psychohistorik (Fiktion bei Isaac Asimov)

Die Psychohistorie untersucht historische Vorgänge der ferneren und unmittelbaren Vergangenheit mit Mitteln der Psychologie und der Psychoanalyse. Ihre Position in der Systematik der Gesellschaftswissenschaften ist umstritten.

Während die herkömmliche Geschichtswissenschaft stark deskriptiv orientiert ist, befasst sich die Psychohistorie vor allem mit den motivationalen Aspekten historischer (und zeitgenössischer) Abläufe. Wichtig wird daher die Rekonstruktion bewusster und unbewusster Motive historischer Subjekte.

Ursprünge der Psychohistorie

Bereits Sigmund Freud hat psychohistorisch gedacht und entsprechende Arbeiten verfasst. Sein Schüler Ludwig Jekels veröffentlichte 1914 mit der Untersuchung Der Wendepunkt im Leben Napoleons I die erste psychohistorische Arbeit.[1] Unter Freuds eigenen Arbeiten enthalten z. B. Das Unbehagen in der Kultur (1930), Der Mann Moses (1939) und Die Zukunft einer Illusion (1927) psychohistorische Aspekte. Er arbeitete mit William C. Bullitt an einer psychobiographischen Studie zu dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson.

Die erste akademische Ausarbeitung der Psychohistorie nach Freud findet sich bei Erik Erikson's Buch Young Man Luther : A Study in Psychoanalysis and History (1958), in welchem der Verfasser nach einer Wissenschaft sucht, mit der man die Folgen des Lebens Einzelner auf die Geschichte untersuchen kann. Dem waren zahlreiche biographisch orientierte Studien von Freud selbst und anderen Psychoanalytikern (z.B. Marie Bonaparte) vorausgegangen. Während der 1960er, bildete Erikson zusammen mit Robert Lifton und Bruce Mazlish die Wellfleet Group, ein von der American Academy of Arts and Sciences gesponsertes Projekt, um Psychohistorie als Forschungsfeld zu definieren. Lifton hat später bedeutende Arbeiten zu den Ursachen und Auswirkungen von Kriegsverbrechen vorgelegt.

Lloyd deMause ist ein Pionier der Psychohistorie und hat auf diesem Gebiet immer noch großen Einfluss. Andere erwähnenswerte Psychohistoriker sind Alice Miller und Julian Jaynes, obwohl sie selten als solche bezeichnet werden.

In der deutschen Gesellschaft für Psychohistorie hat Uta Ottmüller wiederholt auf den wichtigen Aspekt des Geschlechterverhältnisses für die Gestaltung der Kindheit hingewiesen. In ihrem Ansatz für eine psychohistorische Friedensforschung spielt auch die transgenerationale Traumatisierung eine wesentliche Rolle.

Die Bücher von Klaus Theweleit werden zwar üblicherweise nicht zur Psychohistorie gezählt, setzen sich aber auch mit dem Verhältnis von Psychoanalyse und Geschichte auseinander.

Einen etwas anderen Ansatz der Psychohistorie hat August Nitschke unter der Bezeichnung Historische Verhaltensforschung ins Leben gerufen.

Bereiche der Psychohistorie

Psychohistorie wird von den verschiedenen Autoren unterschiedlich konzipiert. Lloyd deMause stellt drei zentrale Forschungsbereiche heraus, die miteinander verbunden sind:

  • Geschichte der Kindheit

Beschreibung und Erklärung des historischen Wandels von zentralen Kindheitsbedingungen und deren Auswirkungen auf die historisch konkreten Psychen der Kinder.

  • Psychobiographie

Untersuchung von Motivationen historischer (auch zeitgenössischer) Individuen, vor allem von politisch Handelnden, aber auch von Künstlern oder anderen quellenmäßig erfaßbaren Personen.

  • Gruppen-Psychohistorie

Untersuchung der Motivationen von Gruppen (bzw. von Gesellschaften), wobei insbesondere die emotionale Situation zum Gegenstand der Rekonstruktion wird.

Bei allen drei Gebieten geht es sowohl um das bewusste Erleben historischen Personen als auch um unbewußte Phantasien der historischen Subjekte bzw. um die latente Sinnstruktur historischer Gebilde (religiöser, politischer und künstlerischer Art).

Siehe auch

Literatur

  • Sigmund Freud: Einleitung zu: Freud, S., und Bullitt, W. C., Thomas Woodrow Wilson, Twenty-eighth President of the United States; A Psychological Study, Boston, Houghton Mifflin, 1967 in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Nachtragsband, S. 686-692
  • Lloyd deMause, Was ist Psychohistorie? Eine Grundlegung, Psychosozial-Verlag, 2000, ISBN 3932133641
  • Ralph Frenken; Martin Rheinheimer (Hg.), Die Psychohistorie des Erlebens. (= Psychohistorische Forschungen, Band 2), Kiel: Oetker-Voges. ISBN 9783980432283
  • Friedhelm Nyssen, Peter Jüngst, Kritik der Psychohistorie, Psychosozial-Verlag, 2003, ISBN 3898062228
  • Reihe Jahrbuch für psychohistorische Forschung
Psychohistorie, Gruppenphantasien und Krieg (Band 0), Mattes 2000, ISBN 393097844X
Gruppenfantasien und Gewalt (Band 1), Mattes 2001, ISBN 9783930978502
Psychohistorie und Persönlichkeitsstruktur (Band 2), Mattes 2002, ISBN 9783930978557
Trauma, gesellschaftliche Unbewußtheit und Friedenskompetenz (Band 3), Mattes 2003, ISBN 9783930978588
Psychohistorie und Politik (Band 4), Mattes 2004, ISBN 9783930978663
Symbolik, gesellschaftliche Irrationalität und Psychohistorie (Band 5), Mattes 2005, ISBN 9783930978731
Fundamentalismus und gesellschaftliche Destruktivität (Band 6), Mattes 2006, ISBN 9783930978892
Emotionale Strukturen, Nationen und Kriege (Band 7), Mattes 2007, ISBN 9783930978915
Kindheit, gesellschaftliche Entwicklung und kollektive Fantasien (Band 8), Mattes 2008, ISBN 9783868090024
Psychohistorie und Globalisierung (Band 9), Mattes 2009, ISBN 9783868090215
Psychologie der Finanzkrise (Band 10), Mattes 2009, ISBN 9783868090307

Weblinks

Einzelbelege

  1. Ludwig Jekels: Der Wendepunkt im Leben Napoleons I, in: Imago, 1914, 3, 313–381.