Titus Livius

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Titus Livius mit dem Beinamen Patavinus (* wohl 59 v. Chr. in Patavium, dem heutigen Padua; † um 17 n. Chr. ebenda)[1] war ein römischer Geschichtsschreiber zur Zeit des Augustus. Bei Quellenangaben wird sein Geschichtswerk mit dem Kürzel Liv. zitiert.

Leben

Über Livius’ Leben ist wenig bekannt. Geboren wurde er wohl im Jahr 59 v. Chr. – vielleicht auch schon 64 v. Chr. – in Patavium, dem heutigen Padua, das erst 49 v. Chr. das römische Bürgerrecht erhielt. Über seine Eltern ist nichts bekannt, doch wahrscheinlich entstammte er einer urbanen bürgerlichen Familie, die einen konservativen Lebensstil pflegte.[2] Seiner Heimatstadt blieb er bis zu seinem Tod sehr verbunden, was sich sogar auf seinen Stil und seine Aussprache ausgewirkt haben soll. Dort erhielt er vielleicht auch seine grundlegende philosophische und rhetorische Ausbildung. Es ist nämlich unwahrscheinlich, dass Livius noch vor Ende der Bürgerkriege (30 v. Chr.) aus Patavium weggegangen wäre und sich den Gefahren eines Lebens in Rom ausgesetzt hätte. So kam er wohl erst als etwa 30-jähriger nach Augustus’ endgültigem Sieg und der damit etablierten Friedenszeit in Italien – der pax Augusta – nach Rom, ohne dass er dort ständig anwesend gewesen sein muss.[3]

In der Hauptstadt des Imperiums vervollständigte Livius seine wissenschaftliche Ausbildung und wurde mit Kaiser Augustus persönlich bekannt, der ihn unterstützte und förderte. Auch mit dem späteren Kaiser Claudius stand er auf gutem Fuß und ermutigte ihn, geschichtliche Darstellungen zu schreiben.[4] Eine Tochter war die Gattin des Rhetors Magius,[5] und einer seiner Söhne, der ebenfalls Titus Livius hieß, verfasste ein geographisches Werk und wird von Plinius dem Älteren als einer von dessen Quellenschriftstellern erwähnt.[6]

Livius verfasste wissenschaftliche philosophische Schriften und historisch-philosophische Dialoge[7] sowie einen Lehrbrief an seinen Sohn, in dem er stilistische Fragen erörterte und Demosthenes und Cicero als nachahmenswert hervorhob.[8] Diese kleineren Werke sind früh spurlos verschollen.

Bleibende Bedeutung erlangte Livius durch die Abfassung seines Anfang der 20er Jahre des 1. Jahrhunderts v. Chr. begonnenen umfangreichen Geschichtswerks, an dessen Ausarbeitung er bis zu seinem Lebensende arbeitete. Er war anders als die meisten römischen Historiker (zum Beispiel Sallust oder Tacitus) nicht selbst politisch aktiv und damit der erste bedeutende römische Historiker, der ohne politische Erfahrung Geschichte schrieb. Da er weder militärische noch öffentliche Ämter bekleidete, war es ihm möglich, sich ganz auf seine schriftstellerische Tätigkeit zu konzentrieren.[9] In seiner Jugend hatte er die in letzten Bürgerkriegen ausklingende Endphase der Republik erlebt und legte gegenüber Pompeius eine wertschätzende und gegenüber Caesar eine sehr kritische Haltung an den Tag. Deswegen nannte ihn Augustus scherzend „Pompeianer“, ohne dass sich dadurch Livius’ Beziehungen zum Princeps verschlechterten.[10]

Schon zu Lebzeiten erlangte Livius derartigen Ruhm, dass ein Bewunderer eigens von Gades anreiste, um ihn kennenzulernen.[11] In römischen Bibliotheken standen auch Bildnisse des Historikers.[12] 14 n. Chr. verschied Augustus, und gegen Ende seines Lebens kehrte Livius endgültig zurück nach Patavium, wo er wohl im Jahr 17 n. Chr. starb.

Geschichtswerk

Livius verfasste mit seinem Werk Ab urbe condita libri CXLII (lat. „Von der Gründung der Stadt (Rom) an – 142 Bücher“) eine umfassende römische Geschichte von den Anfängen mit der Gründung Roms (der Legende nach im Jahr 753 v. Chr.) bis zum Tode des Drusus im Jahre 9 v. Chr. Nur knapp ein Viertel des Werks, die Bücher 1–10 (Zeit von 753 v. Chr. bis 293 v. Chr.) und 21–45 (218 v. Chr. bis 167 v. Chr.; ab Buch 41 lückenhaft), blieb erhalten. Der Rest ist durch Inhaltsangaben (periochae), Auszüge (epitomae) und Fragmente (insbesondere ein Palimpsest-Fragment aus dem 91. Buch über die Kriege des Sertorius) teilweise bekannt. In den erhaltenen Partien enthält ein einzelnes Buch etwa 55 Seiten Teubner-Text, so dass der Gesamtumfang des Werks wohl gegen 7000 Seiten betrug.

Abfassungszeit

Für die Niederschrift seines Werks benötigte Livius mehr als 40 Jahre. Anscheinend verfasste und veröffentlichte er es abschnittsweise. Welche gigantische Arbeit hinter dem Werk steckt und mit welcher Geschwindigkeit Livius gearbeitet haben muss, beweist eine einfache Rechnung, die einen Durchschnitt von drei bis vier Büchern im Jahr ergibt.

Dieses hohe Arbeitstempo wird im Groben auch durch ein paar chronologische Indizien bestätigt. Da im 1. Buch die 29 v. Chr. erfolgte erste Schließung des Janustempels durch Augustus (Ab urbe condita 1, 19, 3), nicht aber die zweite (25 v. Chr.) erwähnt ist, ferner der Princeps als Augustus bezeichnet wird, welchen Titel er erst 27 v. Chr. verliehen bekam, dürfte es zwischen 27 und 25 v. Chr. entstanden sein. Im 9. Buch wird auf die Parther-Freundlichkeit eines zeitgenössischen Autors hingewiesen (Ab urbe condita 9, 18, 9), nicht aber die 20 v. Chr. erfolgte Rückgabe der erbeuteten Feldzeichen des Crassus erwähnt, so dass dieses Buch früher verfasst sein dürfte. Das 28. Buch ist nach 19 v. Chr. geschrieben, da eine darin gemachte Bemerkung (Ab urbe condita 28, 12, 12) den in diesem Jahr von Agrippa gegen die Kantabrer geführten Krieg voraussetzt.

Laut der Überschrift der periocha zum 121. Buch kamen die Bücher 121-142 erst nach dem Tod des Augustus (14 v. Chr.) heraus. Da Livius in diesem Fall in seinen letzten drei Lebensjahren 22 Bücher hätte verfassen müssen, ist davon auszugehen, dass jedenfalls ein Teil von ihnen schon vor dem Publikationsdatum fertiggestellt war.[13]

Aufbau

Die noch vorhandenen Partien des Geschichtswerkes gliedern sich in Gruppen zu je fünf Büchern (Pentaden), die sich wiederum zu übergeordneten Zehner- (Dekaden) oder Fünfzehnergruppen (Pentekaidekaden) zusammenschließen. Neue Abschnitte eröffnete Livius häufig mit eigenständigen Einleitungen, so etwa zu den Büchern 6, 21, und 31. Die ersten 45 Bücher teilen sich wie folgt auf:

  • 01–15: Frühgeschichte bis zum Vorabend des Ersten Punischen Krieges (265 v. Chr.), davon 1–5: Von der Gründung Roms bis zur Eroberung der Stadt durch die Gallier unter Brennus (389 v. Chr.)
  • 16–30: Das Zeitalter der ersten beiden Punischen Kriege (264–201 v. Chr.), davon 21–30: der Zweite Punische Krieg
  • 31–45: Die Ära der Kriege im Osten bis zum Ende des makedonischen Reiches (201–167 v. Chr.), dargestellt in dreimal fünf Büchern

Die Verteilung des Stoffs in den verlorenen Teilen des Werks ist im Großen und Ganzen durch die Inhaltsangaben der periochae bekannt. Diese Partien waren möglicherweise nach den Epochen dominierender Persönlichkeiten gegliedert, wobei fünfzehn Bücher jeweils eine Einheit bildeten. So könnten in den Büchern 46-60 die Taten des Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus im Mittelpunkt gestanden haben, ferner die Bücher 61-75 vornehmlich Marius, 76-90 Sulla, 91-105 Pompeius, 106-120 Caesar und 121-135 Octavians Aufstieg bis zur Erlangung der Alleinherrschaft und der Annahme des Augustus-Titels gewidmet gewesen sein. Die Darstellung der Regierung des Augustus von 27-9 v. Chr. in den Büchern 136-142 war verhältnismäßig knapp.

Es ist aber davon auszugehen, dass die angenommene Gliederung nicht allzu streng ausgeführt war. So wurde Marius’ Tod (86 v. Chr.) erst am Ende des 80. Buchs erzählt. Die Darstellung von Caesars Gallischem Krieg (58-51 v. Chr.) begann bereits ab Buch 103. Die Bücher 109-116 werden auch mit eigenständiger Nummerierung als die den Bürgerkrieg zwischen Caesar und den Pompeianern darstellenden Bücher 1-8 (Belli civilis libri I–VIII) zitiert, was eine spätere Sonderausgabe voraussetzt. Schon im 116. Buch war die Ermordung Caesars und im 117. die Ankunft Octavians in Rom im Frühjahr 44 v .Chr. geschildert. Überhaupt dürfte Livius nicht von Anfang an einen festen Plan zur Verteilung des Stoffs gehabt haben, wie sich aus seinen Ausführungen zu Anfang des 31. Buchs ergibt. Er hatte wohl zuerst nur eine ungefähre Vorstellung von dem Ausmaß seines Vorhabens, und das Werk wurde dann wesentlich umfangreicher als anfangs geplant.

Nicht geklärt werden kann, ob Livius sein Werk bewusst mit dem 142. Buch, das heißt mit dem Tod des Drusus, beendet hat (was vereinzelte Forscher für einen geeigneten Abschluss halten), oder ob er es bis zum 150. Buch und dem Tod des Augustus fortsetzen wollte. In letzterem Fall wurde er wohl durch sein eigenes Ableben an der Vollendung seines Werks gehindert.[14]

Überlieferungszustand

Livius, Ab urbe condita in einer Handschrift des 10. Jahrhunderts mit eigenhändigen Randbemerkungen Rathers von Verona. Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. 63.19, fol. 7r
Der Anfang von Ab urbe condita in der Handschrift Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vaticanus Palatinus lat. 875, fol. 1r (15. Jahrhundert)
Ab urbe condita, Ende von Buch 38 und Beginn von Buch 39 in einer von Poggio Bracciolini im Jahr 1453 geschriebenen Handschrift. Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vaticanus latinus 3331, fol. 156v

Erhaltene Teile

Als der Kodex seit dem 4. Jahrhundert allmählich die ältere Buchform der Schriftrolle verdrängte, ist auch das Werk des Livius in das neue Medium umgeschrieben worden. Dabei wurden meist je zehn Bücher zu einem Kodex vereint. Diese Einteilung in Dekaden ist erstmals in einem Brief des Papstes Gelasius I. Adversus Andromachum contra Lupercalia vom Jahr 496 bezeugt, wo die (heute verlorene) zweite Dekade des Werks erwähnt wird, sodann in einem Palimpsest des 5. oder 6. Jahrhunderts, das die angeblich von Ambrosius von Mailand stammenden Akten des Märtyrers Sebastianus enthält.

Die Überlieferung der ersten Dekade basiert auf zwei ins Mittelalter gelangten, voneinander unabhängigen Exemplaren. Von dem einen sind noch Fragmente der Bücher 3-6 auf Blättern eines aus dem Anfang des 5. Jahrhunderts stammenden Veroneser Palimpsests (V) erhalten. Das zweite Exemplar entstammte der von Angehörigen des Symmachus-Kreises um 400 n. Chr. unternommenen emendierten Neuedition des gesamten Geschichtswerks und lieferte einen wesentlich besser wiederhergestellten Livius-Text als das Veroneser Palimpsest. Zwar ist dieses Manuskript der Symmachi nicht erhalten, aber sein vollständiger Inhalt aus mehreren handschriftlichen Kopien ab dem 9. Jahrhundert rekonstruierbar. Auch die originalen Subskriptionen der drei an der Erstellung dieses Exemplars beteiligten Männer, nämlich jene von Victorianus, Nicomachus Dexter und Nicomachus Flavianus, blieben in Abschriften erhalten. Die wichtigste noch vorhandene Abschrift ist der aus dem 10. Jahrhundert stammende Mediceus Laurentianus, Plut. 63, 19 (M), daneben der schon aus dem 9. Jahrhundert stammende Floriacensis (Parisinus lat. 5724) u. a. Des Weiteren wurde ein vom Ende des 3. Jahrhunderts stammendes Blatt eines Oxyrhynchus-Papyrus (P. Oxy. XI 1379) gefunden, das einen kleinen Teil des 1. Buches (Fetzen von 1, 5, 6 – 1, 6, 1) enthält und keine Abweichungen von der späteren Überlieferung zeigt.

Von der dritten Dekade kamen drei Handschriften ins Mittelalter. Die wichtigste von ihnen ist der aus dem 5. Jahrhundert stammende Codex Puteaneus (P; jetzt als Parisinus lat. 5730 bezeichnet), der jetzt am Anfang und Ende verstümmelt ist. Es existieren von ihm aber mehrere den kompletten ursprünglichen Text enthaltende Abschriften, vor allem der im 9. Jahrhundert verfasste Vaticanus Reginensis 762 (R) und der etwa im 11. Jahrhundert entstandene Parisinus Colbertinus 5731 (C). Die beiden anderen, vom Puteaneus unabhängigen Codices umfassten nur die Bücher 26-30. Der eine befand sich im Besitz des Klosters Bobbio. Zu ihm gehörten acht zunächst erhalten gebliebene Blätter eines Turiner Palimpsests des 5. Jahrhunderts, von denen jedoch eines abhanden kam, ehe es Wilhelm Studemund 1869 analysieren konnte, während die sieben weiteren Blätter 1904 verbrannten. Der andere, ebenfalls verlorene Codex war eine aus Speyer stammende Handschrift, der Spirensis (S). Dieser Codex wurde von Sigismund Gelenius und Beatus Rhenanus in der Basler Livius-Ausgabe von 1535 verwendet und konnte aus deren Zeugnissen sowie jüngeren Handschriften vom deutschen klassischen Philologen August Luchs (T. Livi libri XXVI-XXX, 1879) rekonstruiert werden.

Auch von der vierten Dekade gelangten drei (voneinander unabhängige) Handschriften ins Mittelalter. Eine von ihnen (F; Bambergensis Class. 35 a) entstand im 5. Jahrhundert, befand sich ursprünglich in Piacenza, wurde von Kaiser Otto III. gekauft und kam schließlich nach Bamberg, wo sich Reste von ihr aus den Büchern 33, 35 und 39 fanden. Von diesem Manuskript blieb eine im 11. Jahrhundert verfasste, die vierte Dekade bis zum 46. Kapitel des 38. Buchs umfassende getreue Abschrift erhalten (B; Bambergensis M IV 9), die ein Hauptzeuge dieser Dekade ist. Eine weitere Abschrift von F, der das 33. Buch sowie das Ende des 40. Buchs fehlte, wurde wiederum ihrerseits kopiert; und so entstanden aus ihr ein verlorener Spirensis (S) und mehrere jüngere italienische Handschriften. Die zweite ins Mittelalter gekommene Handschrift des 4. oder 5. Jahrhunderts (R; Vaticanus Lat. 10 696) stammte aus dem Lateran, doch sind von ihr nur mehr Fragmente aus dem 34. Buch vorhanden. Schließlich bildete das verlorene dritte spätantike Manuskript die Vorlage der ebenfalls nicht mehr existierenden Mainzer Handschrift des 9. Jahrhunderts, deren vom 17. Kapitel des 33. Buchs bis zum Ende des 40. Buchs reichender Text durch zwei Druckausgaben (Mainz 1519 und Basel 1535) bekannt ist und den zweiten Hauptzeugen der vierten Dekade darstellt.

Von der fünften Dekade ist nur die erste Hälfte (Bücher 41-45) durch eine einzige erhaltene Handschrift des 5. Jahrhunderts, den Codex Vindobonensis Lat. 15 (V), bekannt. Durch Blattausfall besitzt dieses erst 1527 vom Humanisten Simon Grynaeus im Kloster Lorsch aufgefundene Manuskript mehrere, teilweise auch große Lücken, insbesondere in Buch 41 und 43. Ursprünglich waren auch die Bücher 46-50 in dem Codex niedergeschrieben.[15]

Fragmente und Epitomen

Paul Jakob Bruns spürte 1772 in einem Palimpsest-Doppelblatt des Vaticanus Palatinus Latinus 24 ein Textstück auf, das die 76 v. Chr. geführten Kämpfe des römischen Politikers und Feldherrn Quintus Sertorius in Spanien erörtert und aus dem 91. Buch von Livius’ Geschichtswerk stammt.

Aus den verlorenen Partien des livianischen Werks gibt es auch einige wenige wörtliche Fragmente bei anderen antiken Autoren, insbesondere die vom älteren Seneca aus dem 120. Buch des Livius ausgeschriebene Darstellung des Todes Ciceros und die Charakteristik dieses berühmten römischen Redners.[16]

Ferner informieren über den Inhalt des Verlorenen systematische Auszüge, insbesondere die wohl im 4. Jahrhundert verfassten periochae, die zu allen 142 Büchern außer zum 136. und 137. existieren und einen Umfang von wenigen Zeilen (z. B. periocha 138) bis zu mehreren Seiten (periochae 48 und 49) aufweisen. Der Epitomator gestaltet den Text literarisch in ganzen Sätzen, ordnet den Stoff nach sachlichen Prinzipien an, berichtet die ihm am bedeutendsten erscheinenden Fakten und gibt zudem, meist am Ende, eine Inhaltsangabe des jeweiligen Buchs. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde außerdem auf einem Oxyrhynchus-Papyrus (P. Oxy. IV 668) des 3./4. Jahrhunderts eine weitere Version von periochae entdeckt. Lückenhaft erhalten blieben durch diesen Fund Auszüge aus den Büchern 37-40, 48-55 und 87-88, die in der Form von der schon zuvor bekannten periochae-Version u. a. dadurch abweichen, dass sie den Stoff chronologisch darstellen.

Des Weiteren stellte Cassiodor laut seinem eigenen Zeugnis die Konsulliste seiner Chronik für die Zeit bis 31 n. Chr. aus den historischen Werken des Livius und Aufidius Bassus zusammen. Iulius Obsequens exzerpierte nur aus Livius systematisch die Prodigien, und jene für die Jahre 190-11 v. Chr. blieben erhalten. Auch manche Breviarien späterer, aus Livius schöpfender Autoren wie Florus tragen zur Rekonstruktion der nicht mehr existenten Teile des livianischen Werks bei.[17]

Quellen

Livius musste für seine umfassende Darstellung der römischen Geschichte viele Vorlagen auswerten, war aber an ihrer kritischen Prüfung nicht besonders interessiert. Für die Ereignisse auf Sizilien und im Osten des Reiches war der griechische Historiker Polybios ein hervorragender Gewährsmann, für jene in Rom, in Italien und für die Punischen Kriege folgte er römischen Geschichtsschreibern wie Quintus Claudius Quadrigarius und Valerius Antias, die sich zum Teil als unzuverlässig erwiesen. Wenn er auch oft anmerkte, wo seine Vorlagen voneinander abwichen, so darf man hieraus doch nicht schließen, er habe ein kritisches Quellenstudium betrieben (wie viele antike Historiker verstand sich Livius eher als Schriftsteller denn als Wissenschaftler). Oft begnügte er sich damit, bei verschiedenen Überlieferungen von Sachverhalten dem Leser die Entscheidung zu überlassen. Livius verwendete kaum Dokumente, sondern stützte sich vielmehr auf sekundäre Quellen. Diese nannte er nur ab und zu, besonders bei umstrittenen Tatsachen, und zwar an erster Stelle die Hauptvorlage, an zweiter den Gewährsmann der Variante.

Was die Art und Weise der Quellenbenutzung betrifft, so war sein vorrangiges Interesse nicht Wahrheit im Sinne von Historizität, obwohl er als Quellen die Annalistik (senatorische Geschichtsschreibung, nach Konsulatsjahren geordnet) hinzuzog. In erster Linie war er daran interessiert, die römische Selbsterneuerungsideologie, die Augustus offiziell in seine Politik aufgenommen hatte, zu propagieren. „Zusammenfassung des ideologischen Programms Livianischer Histografie: Römische Geschichte schreiben heißt, die bona exempla aufzuzeigen, die von echten Männern gegeben wurden, auf Grund von altüberkommener Lebensführung gegeben werden konnten...“ (Nachwort Robert Fege zu „ab urbe condita“, Bd. 1, Reclam-Verlag, Stuttgart 2003). Dies entspricht einem Konzept der Geschichtsschreibung, das schon Platon in seiner Politeia propagiert.

Die Forderungen des Polybios, das heißt ein kritisches Dokumentenstudium, Autopsie der Schauplätze und eigene politische Erfahrung, erfüllte Livius in den erhaltenen Teilen nicht. Wie er die Zeitgeschichte behandelte, ist nicht bekannt.

Sprache und Stil

Livius folgte im Aufbau seiner Werke dem annalistischen Schema, die Ereignisse Jahr für Jahr abzuhandeln; das resultiert aus der Abfassungszeit wie aus dem Vorbild der Quellen. Sein erkenntnisleitendes Interesse (siehe unten unter dem Punkt Historiographische Tendenz) lässt jedoch Mythisches, Sagenhaftes, Historisches und schlichte Geschichtsfälschung ohne Hinweis nebeneinander gelten. So wird der Eindruck erweckt, das Berichtete sei tatsächlich so geschehen. Aufgrund seiner Rhetorenausbildung gelingt es ihm geschickt, den Leser auch emotional zu führen. Ein wichtiges Ziel dieser schriftstellerischen Methode ist es, den Leser zu erschüttern und sein Mitgefühl zu erwecken. Weitere wichtige Ziele des Autors sind Anschaulichkeit (er hebt oft Gespräche und Einzelleistungen hervor), Klarheit und Kürze. Letztere dient, im Wechsel mit Ausführlichkeit, der Hervorhebung großer Augenblicke. Des Weiteren gilt Livius als Autor dreier Zeitstufen: Er fühlte sich verpflichtet, der seiner Ansicht nach sittenlosen Gesellschaft seiner Zeit die Werte und Tugenden der Vergangenheit zu vermitteln, damit diese alten römischen Werte in Zukunft wieder zur Geltung kämen.

Die direkte Rede spielt, wie generell in der antiken Historiographie, eine große Rolle. Allerdings wäre die moderne, an Quellenkritik geschulte Vorstellung falsch, es handele sich um wirklich wörtlich so gehaltene Reden. Dagegen waren verpflichtend für Livius, wie für den antiken Historiker überhaupt, sprachlich eine gewisse Umstilisierung und vor allem inhaltlich die Konzentration auf die vom Geschichtsschreiber als wesentlich erkannten Elemente des Sachverhalts.

Nach Livius ist Geschichtsschreibung eine Aufgabe für Redner. Daher betrachtete er den großen Redner Cicero auch als Vorbild. Der Stil unterliegt innerhalb des Werkes einem Wandel. Am Anfang weist der Stil von Livius starke Eigentümlichkeiten auf, im Laufe der Zeit nimmt sein Stil jedoch immer mehr einen klassischen Charakter an. Der Stil verläuft vom hellenistisch-modernen am Beginn zum klassischen am Ende. Allerdings verwendete der Schreiber auch innerhalb des Werkes verschiedene Stile. So bildete er je nach Abschnitt kurze oder lange Sätze, um entweder annalistisch oder narrativ zu schreiben.

Ebenso abwechslungsreich gestaltete er seine Geschichtserzählung. Um einzelne Episoden und Handlungsträger herauszuheben, entwarf er geradezu theatralische Szenen und malte sie mit dichterischer Freiheit, also fern allen Anforderungen moderner Quellenkritik, eindrucksvoll aus. Was er an weniger Wichtigem, aber immerhin der Vollständigkeit halber Mitteilungswertem, in seinen Quellen fand, berichtete er in einer Art Nachtrag am Ende der behandelten Jahre oder Dekaden.

Eine antike Kritik an Livius’ Stil überliefert Quintilian an zwei Stellen seiner Institutio oratoria: Gaius Asinius Pollio „tadelt an Livius die Patavinitas“[18] und „ist der Meinung, bei Titus Livius, einem bewundernswert sprachmächtigen Mann, finde sich eine gewisse Patavinitas“[19]. Es muss sich dabei um eine auf Patavium, Livius’ Heimatstadt, bezogene Sprachkritik gehandelt haben.[20] Es ist aber weder klar, worin diese Patavinismen bestanden, noch ob Quintilian selbst wusste, was Pollio damit meinte.

Historiographische Tendenz

Um Livius’ Werk zu beurteilen, muss man seine Rolle in der politischen Welt des frühen augusteischen Roms berücksichtigen. Ähnlich wie sein Zeitgenosse Vergil, der mit der Aeneis einen römischen Gründungsmythos erfand, war Livius bestrebt, für die römische Gegenwart einen geschichtsphilosophisch-ideologischen Gesamtrahmen zu schaffen. Für Livius lag es in der natürlichen Ordnung der Welt, dass die Römer zur Herrschaft über alle anderen Völker bestimmt sind. Alle römischen Kriege wurden von ihm als gerecht (bellum iustum) bezeichnet, selbst wenn Zweifel an dieser Einschätzung auf der Hand liegen. Moralische Tugenden, vor allem fides, sind für Livius ausschließlich den Römern vorbehalten, selbst die Griechen (von anderen Völkern ganz zu schweigen) wurden als minderwertige Menschen betrachtet. Die Hervorhebung einzelner römischer Helden wie auch das Lob der frühen Königszeit diente offenbar dazu, Augustus als Kulminationspunkt der römischen Geschichte erscheinen zu lassen.

Nachwirkung

Buchmalerei in einer mittelalterlichen Handschrift des Geschichtswerks des Livius in der französischen Übersetzung von Pierre Bersuire (Petrus Berchorius). Die Handschrift gehörte König Karl V. von Frankreich. Abgebildet sind Szenen der Gründung Roms und ihrer Vorgeschichte. Paris, Bibliothèque Sainte-Geneviève, Ms. 777, fol. 7r (um 1370)

Die literarisch aufbereitete Darstellung des Livius verdrängte fast völlig die Werke seiner Vorgänger, aber der große Umfang seines eigenen Werkes gefährdete auch dessen Überlieferung. Schon im 1. Jahrhundert fertigte man Auszüge und Zusammenfassungen an. In der späten römischen Kaiserzeit und der Spätantike war es ohnehin üblich, umfangreiche Werke durch stark gekürzte Zusammenfassungen (sogenannte Epitomen) zu ersetzen. Davon war auch das Geschichtswerk des Livius betroffen. Es ist daher auch anzunehmen, dass der Großteil des Werkes bereits in der Spätantike verloren gegangen war, auch wenn Livius immer noch gerne gelesen wurde und als Autorität anerkannt wurde. Ende des 4. Jahrhunderts gab der heidnische Senator Quintus Aurelius Symmachus eine Edition des Werkes von Livius heraus, von der die Textgeschichte ausgeht, wie an der kopierten Subskription zu sehen ist.

Im Mittelalter geriet er nicht in völlige Vergessenheit, sondern es setzte sich der Trend fort, ihn als Autorität zu preisen, aber kaum wirklich zu lesen. Sein Werk war bereits nur noch fragmentarisch erhalten. Im 12. Jahrhundert war Livius kaum noch bekannt, er wurde erst während des Humanismus wieder mehr gelesen und kommentiert.

In der Renaissance hat Livius mit seinen Schilderungen der großen Vergangenheit Roms in Europa immer wieder Bewunderer gefunden und zu verschiedenartigen künstlerischen Nachgestaltungen angeregt, weil er große Gestalten und Schicksale der römischen Geschichte menschlich nah und zugleich typisierend zeichnete. Niccolò Machiavelli verfasste auf Basis der Erzählungen des Livius in seinem Hauptwerk Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (1513–1517) die erste neuzeitliche politisch-philosophische Analyse des Staatswesens.[21]

Ab dem 19. Jahrhundert bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war die Lektüre ausgewählter Livius-Passagen ein fester Bestandteil des Lateinunterrichts in Deutschland. Gelesen wurde er in Sekunda (10. und 11. Klasse) vor allem unter dem Aspekt der als vorbildhaft dargestellten „römischen Tugenden“.[22] In den Lehrplänen für die Mittelstufe seit den 1970er Jahren spielt Livius nur noch eine untergeordnete Rolle.[23] In den letzten Jahren erschienene Textausgaben für die Oberstufenlektüre sind nicht mehr affirmativ angelegt, sondern sollen eine ideologiekritische Betrachtungsweise unterstützen.[24]

Textausgaben und Übersetzungen

  • Ernst Bednara (Übersetzer): Römische Geschichte (Ab urbe condita libri) (= Griechisch-römische Schriftenreihe in deutscher Sprache). 1. und 2. Buch. Verlag Gebr. Steffen, Limburg-Lahn 1951.
  • Ernst Bednara (Übersetzer): Römische Geschichte (Ab urbe condita) (= Griechisch-römische Schriftenreihe in deutscher Sprache). 3. u. 4. Buch. Verlag Gebr. Steffen, Limburg-Lahn 1952.
  • Römische Geschichte. Lateinisch–deutsch (= Sammlung Tusculum). Hrsg. von Hans Jürgen Hillen und Josef Feix. Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 1974–2000.
  • Römische Geschichte – Von der Gründung der Stadt an. Übersetzt von Otto Güthling, hrsg. von Lenelotte Möller. Marix Verlag, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-86539-194-0. (Übersetzung aller erhaltenen Bücher sowie Inhaltsangaben der nicht erhaltenen Bücher)

Literatur

Übersichtsdarstellung

Untersuchungen

Kommentare

Rezeption

  • Christian Raschle: Livius (Titus Livius). Ab urbe condita. In: Christine Walde (Hrsg.): Die Rezeption der antiken Literatur. Kulturhistorisches Werklexikon (= Der Neue Pauly. Supplemente. Band 7). Metzler, Stuttgart/Weimar 2010, ISBN 978-3-476-02034-5, Sp. 421–440.

Weblinks

Commons: Titus Livius – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien
Wikisource: Titus Livius – Quellen und Volltexte
Wikisource: Titus Livius – Quellen und Volltexte (Latein)

Anmerkungen

  1. Hieronymus überliefert in seiner Chronik als Livius’ Geburtsjahr 59 v. Chr., doch behauptet er fälschlich, dass im gleichen Jahr auch Marcus Valerius Messalla Corvinus geboren worden sei. Da Letzterer 64 v. Chr. zur Welt kam, wird dieses Datum bisweilen auch als Livius’ Geburtsjahr angenommen. Weiterhin gibt Hieronymus in seiner Chronik an, dass Livius 17 n. Chr. starb. Wenig wahrscheinlich ist, dass der Geschichtsschreiber im Fall der Annahme seiner Geburt 64 v. Chr. entsprechend auch schon 12 n. Chr. gestorben sei (Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur, Saur, 1994, Bd. 1, S. 659).
  2. Manfred Fuhrmann und Peter Lebrecht Schmidt: Livius III 2. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 7, Metzler, Stuttgart 1999, ISBN 3-476-01477-0, Sp. 377–382 (hier: 377).
  3. Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur, Saur, 1994, Bd. 1, S. 660.
  4. Sueton, Claudius 41, 1.
  5. Seneca der Ältere, Controversiae 10, praef. 2.
  6. Plinius, Naturalis historia, Index zu den Büchern 5 und 6.; vielleicht auch in den Büchern 2, 3, und 7 benutzt.
  7. Seneca, Epistulae ad Lucilium 100, 9.
  8. Quintilian, Institutio oratoria 10, 1, 39.
  9. W. Hoffmann: Livius, T.. In: Lexikon der Alten Welt, 1965, Neudruck 1990, ISBN 3-7608-1034-9, Bd. 2, Sp. 1753.
  10. Tacitus, Annalen 4, 34, 3.
  11. Plinius der Jüngere, Epistulae 2, 3, 8.
  12. Sueton, Caligula 34, 2.
  13. Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur, Saur, 1994, Bd. 1, S. 661; Carl Hosius: Geschichte der römischen Literatur, 4. Auflage, Bd. 2, 1935, S. 300; Alfred Klotz: Livius 9. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band XIII,1, Stuttgart 1926, Sp. 816–852 (hier:818).
  14. Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur, Saur, 1994, Bd. 1, S. 661; Alfred Klotz: Livius 9. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band XIII,1, Stuttgart 1926, Sp. 816–852 (hier:819 f.).
  15. Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur, Saur, 1994, Bd. 1, S. 681; Carl Hosius: Geschichte der römischen Literatur, 4. Auflage, Bd. 2, 1935, S. 301 ff.; Alfred Klotz: Livius 9. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band XIII,1, Stuttgart 1926, Sp. 816–852 (hier:820-823).
  16. Seneca der Ältere, Suasoriae 6, 17 und 6, 22.
  17. Carl Hosius: Geschichte der römischen Literatur, 4. Auflage, Bd. 2, 1935, S. 303 ff.; Alfred Klotz: Livius 9. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band XIII,1, Stuttgart 1926, Sp. 816–852 (hier:824).
  18. Quintilian, Institutio oratoria 1,5,56: „reprendit in Livio patavinitatem“
  19. Quintilian, Institutio oratoria 1,8,3: „in Tito Livio, mirae facundiae viro, putat Pollio Asinius inesse quandam patavinitatem.“
  20. Kurt Latte: Livy’s Patavinitas. In: Classical Philology. Bd. 35, 1940, Nr. 1, S. 56–60.
  21. Christoph Wurm: Die Römer nicht bewundern, sondern nachahmen – Machiavelli als Leser des Titus Livius. In: Forum Classicum 4/2011, S. 278–284 (online; PDF).
  22. Stefan Kipf: Altsprachlicher Unterricht in der Bundesrepublik Deutschland, Buchner, Bamberg 2006, S. 148–169.
  23. Kipf, Altsprachlicher Unterricht, S. 372–373.
  24. Kipf, Altsprachlicher Unterricht, S. 438–439.