Unsichtbare Hand

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Die unsichtbare Hand ist eine Metapher, die die Selbstregulierung eines Systems (v.a. Wirtschaft oder Sprache) beschreibt.

Geschichte

Die Metapher der unsichtbaren Hand wurde durch den schottischen Ökonomen und Moralphilosophen Adam Smith bekannt. Adam Smith verwendet die Metapher der unsichtbaren Hand in seinen gesamten Werken allerdings insgesamt nur dreimal.[1] Zuerst taucht die Formulierung von der unsichtbaren Hand Jupiters in einem Aufsatz zur Geschichte der Astronomie auf. Ein zweites Mal verwendet Adam Smith die Metapher im vierten Kapitel seines Buchs Theorie der ethischen Gefühle. Dort beschreibt er, wie die Wohlhabenden, ohne dies zu beabsichtigen, von einer unsichtbaren Hand dazu geleitet werden, ihren Reichtum mit den Armen zu teilen. Am bekanntesten ist heute ohne Zweifel die Verwendung der Metapher im 1776 erschienenen Werk Der Wohlstand der Nationen. Smith verwendet sie dort im zweiten Kapitel des vierten Buchs, in dem er sich kritisch mit Einfuhrbeschränkungen für ausländische Güter auseinandersetzt.[2]

Adam Smith war freilich nicht der Erfinder der Metapher von der unsichtbaren Hand, sondern sie war zu seiner Zeit eine durchaus übliche Redensart. Als im Jahr 1703 das Kriegsschiff Prince George einen gewaltigen Sturm überstand, dem etliche andere Schiffe zum Opfer fielen, schrieb der Kommandant Martin ins Schiffstagebuch: Die unsichtbare Hand der Vorsehung hat uns errettet.[3] Es ist umstritten, ob die Metapher der unsichtbaren Hand von Adam Smith religiös verstanden wurde. Jedenfalls hielt er die Metapher für ein zweckmäßiges Mittel, um seinen Zeitgenossen bestimmte Zusammenhänge zu verdeutlichen.

Tomáš Sedláček verfolgt die Ideengeschichte der „unsichtbaren Hand“ – ein böses Unterfangen eines Einzelnen führt in der Gesellschaft zu einem gemeinsamen Guten – weiter zurück und verweist vor Smith noch auf Bernard Mandeville und dessen Bienenfabel (siehe Mandeville-Paradox), auf Thomas von Aquin und schließlich auf den Dichter Aristophanes: „Laut einer Legende aus alter Zeit werden all unsere törichten Pläne und eitlen Dünkel auf das Gemeinwohl hingeordnet.[4]

Ökonomie

Kaufleute, so erklärt Smith in seinem Buch Der Wohlstand der Nationen, investieren oft im eigenen Interesse ihr Kapital eher im eigenen Land als in der Ferne. Er folgert dann weiter unten im gleichen Kapitel:

As every individual, therefore, endeavours as much as he can, both to employ his capital in the support of domestic industry, and so to direct that industry that its produce may be of the greatest value; every individual necessarily labours to render the annual revenue of the society as great as he can. He generally, indeed, neither intends to promote the public interest, nor knows how much he is promoting it. By preferring the support of domestic to that of foreign industry, he intends only his own security ; and by directing that industry in such a manner as its produce may be of the greatest value, he intends only his own gain; and he is in this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention. Nor is it always the worse for the society that it was not part of it. By pursuing his own interest, he frequently promotes that of the society more effectually than when he really intends to promote it.

Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations[5]

„Wenn daher jeder einzelne soviel wie nur möglich danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einheimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und dadurch dieses so lenkt, daß ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten läßt, dann bemüht sich auch jeder einzelne ganz zwangsläufig, daß das Volkseinkommen im Jahr so groß wie möglich werden wird. Tatsächlich fördert er in der Regel nicht bewußt das Allgemeinwohl, noch weiß er wie hoch der eigene Beitrag ist. Wenn er es vorzieht, die eigene nationale Wirtschaft anstatt die ausländische zu unterstützen, denkt er nur an die eigene Sicherheit, und wenn er dadurch die Erwerbstätigkeit so fördert, daß ihr Ertrag den höchsten Wert erzielen kann, strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, der keineswegs in seiner Absicht lag. Es ist auch nicht immer das Schlechteste für die Gesellschaft, dass dieser nicht beabsichtigt gewesen ist. Indem er seine eigenen Interessen verfolgt, fördert er oft diejenigen der Gesellschaft auf wirksamere Weise, als wenn er tatsächlich beabsichtigt, sie zu fördern.“

viertes Buch, Kapitel 2

Kein einzelner Marktteilnehmer strebt direkt danach das Volkseinkommen zu maximieren; jeder will nur seinen Güterbedarf decken. Und doch führe der Marktmechanismus durch seine unsichtbare Hand zum volkswirtschaftlichen Optimum. Das eigennützige Streben der wirtschaftenden Menschen oder Unternehmen trage im „System der natürlichen Freiheit“ zum Wohl der gesamten Gesellschaft bei. Mit natürlicher Freiheit meinte Smith ein System, welches frei von Monopolen, also einseitiger Möglichkeit der Beherrschung eines Marktes, ist. Nur mit dieser Einschränkung kann das Prinzip der unsichtbaren Hand wirksam werden. Es fällt auf, dass diese Voraussetzung zu Smiths Zeiten nicht gegeben war. Vielmehr thematisiert Smith in seinem Werk die Rolle der politischen Ökonomie seiner Zeit (Merkantilismus). In der modernen Wirtschaftswissenschaft werden Fälle, in denen der Marktmechanismus nicht die gesamtwirtschaftlich effiziente Güterallokation hervorbringt, als Marktversagen bezeichnet.

Das Konzept der Unsichtbaren Hand wurde unter anderem durch Paul A. Samuelsons millionenfach gedrucktes Standardwerk „Economics“ bekannt. Dort wird dargestellt, wie der Mechanismus der unsichtbaren Hand zu einer effizienten Allokation von Ressourcen führt, sowie die einschränkenden Bedingungen, die dazu erfüllt sein müssen.[6]

Nach Niklas Luhmann diente die unsichtbare Hand seit dem 17. Jahrhundert der Entparadoxierung des Knappheitsparadoxons und der Symbolisierung einer Fortschrittsgarantie.

„Nachdem sie zunehmend unter Arthrose zu leiden begann, übernahm das Desiderat des wirtschaftlichen Wachstums selbst diese Funktion.“

Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft[7]

Der nordamerikanische Unternehmenshistoriker Alfred D. Chandler junior stellt der invisible hand in den ungeplanten Marktvorgängen die visible hand des planenden Managements in den Unternehmen gegenüber.[8]

Linguistik

Nach Rudi Keller (durch Analogie zu Adam Smith) entstehen und wandeln sich die jeweils gültigen Normen des Sprachgebrauchs in einem evolutionären Prozess der unsichtbaren Hand: Sprache wird von Keller erklärt als Phänomen dritter Ordnung; das bedeutet, dass Sprachhandlungen auf individueller Ebene zwar zielgerichtet nach bestimmten Bedingungen ausgewählt werden, der sich daraus ergebende häufige Gebrauch bestimmter Sprachformen verschiedener Sprecher mit teils ähnlichen Intentionen jedoch übergeordneten natürlichen Gesetzmäßigkeiten folgt, denen selbst keinerlei Absicht zugrunde liegt.[9]

Keller grenzt Phänomene wie den Sprachwandel somit von intendierten Produkten (Artefakten) menschlicher Machart und natürlichen Phänomenen ab. Auch ein Autostau sei demnach ein Phänomen dritter Art, bremsten die Fahrer doch nicht deswegen ab, um eine Verstopfung der Straße herbeizuführen. Jeder bremste aus Sicherheitsgründen etwas stärker als der Vorausfahrende ab, bis schließlich ein Auto komplett stoppen muss. Niemand hat den Stau geplant (erst recht nicht der zuerst bremsende) und doch herrscht Stillstand.

Soziokulturell

Nach Robert Nozick kann man die Erklärung mittels der unsichtbaren Hand benutzen, um soziokulturelle Ordnungen zu beschreiben, die den Eindruck erwecken, sie seien von einer zentralen Planungsinstanz erschaffen worden.

Als Beispiel hierfür führt Rudi Keller die Trampelpfadtheorie an: Über den Universitätscampus zieht sich ein Netz von Trampelpfaden, welche die kürzesten Verbindungen zwischen den wichtigsten Gebäuden und Einrichtungen darstellen. Dieses Netz ist sehr viel logischer und ökonomischer angelegt als die vom Architekten geplanten Pflasterwege. Obwohl zur Erzeugung dieser Trampelpfade weitaus weniger Verstand benutzt wurde als zum Anlegen der Pflasterwege, ist das System doch sehr viel rationeller als die künstlichen Wege. Die Invisible-hand-Theorie zu diesem System ist also folgende: Zu Beginn steht die Hypothese, dass die meisten Menschen kürzere Wege längeren vorziehen. Es lässt sich allerdings beobachten, dass die gepflasterten Wege dieser Tendenz nicht entsprechen, da sie oft nicht die kürzesten Verbindungen zwischen den häufigsten Anlaufstellen der Studenten darstellen. Es ist allgemein bekannt, dass der Rasen an Stellen, an denen er häufig begangen wird, verkümmert. Keller schließt daraus, dass das System der Trampelpfade die nicht-intendierte kausale Konsequenz derjenigen (intentionalen, finalen) Handlungen ist, die darin bestehen, bestimmte Ziele zu Fuß zu erreichen unter der Maxime der Energieersparnis.

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. E. Rothschild "Adam Smith and the Invisible Hand" in: The American Economic Review, Vol. 84, No. 2, Papers and Proceedings of the Hundred and Sixth Annual Meeting of the American Economic Association (May, 1994), pp. 319-322
  2. Eine freie Einfuhr ausländischer Waren, solange sie auf britischen Schiffen importiert werden. Siehe Smiths zustimmende Besprechung des Navigation Acts einige Seiten nach dem Invisible-Hand-Zitat. Und auch im Zitat selbst betont Smith zweimal den domestic Vorteil.
  3. D.D. Raphael, 1991, Adam Smith, Frankfurt (Main), Seite 86
  4. Tomáš Sedláček: Die Ökonomie von Gut und Böse. Carl Hanser Verlag GmbH & CO. KG (6. Februar 2012). ISBN 3446428232
  5. Smith, Adam, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, NewYork, Modern Library, 1937, Seite 423
  6. Samuelson, Paul A./Nordhaus, William D., 1998, Economics, 16th edition, N.Y. et al.: McGraw-Hill, Chapter 16, Seite 285;
  7. 1988, S. 99–100
  8. Alfred D. Chandler: The Visible Hand: The Managerial Revolution in American Business. Cambridge/Mass. 1977.
  9. http://www.linguistik-online.de/18_04/ladstaetter.html
  10. In Englisch. Lesbar: Online. Referat ihrer Thesen in Die Tageszeitung, 24. Juli 2012, S. 17, von Isolde Charim. Tellmann hat sich in weiteren Publikationen damit befasst, auch in Deutsch