Valenz (Linguistik)

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Der Fachausdruck Valenz (Wertigkeit) bedeutet in der Sprachwissenschaft (Linguistik) die Eigenschaft eines Wortes, andere Wörter „an sich zu binden“[1][2], Ergänzungen zu „fordern“[3] oder „Leerstellen zu eröffnen und die Besetzung dieser Leerstellen zu regeln“[4]. Im Vordergrund der Valenztheorie steht das Verb (Verbvalenz). Eine Valenz haben aber nicht nur Verben, sondern auch andere Wortarten wie Substantive (Substantivvalenz), Adjektive (Adjektivvalenz) und Präpositionen.[5][6]

Allgemeine Valenztheorie und ihre Terminologie

Als Ausgangspunkt gilt Tesnières 1959 postum erschienenes Werk Elements de syntaxe structurale. Darin heißt es, dass ein Verb im Satz bestimmte Worte erfordere und deren Form bestimmt. Dabei prägte Tesnière auch den Begriff der Verb-Valenz.[7] Der Ausdruck Valenz ist dem Valenzbegriff der Chemie entlehnt, der dort die Anzahl von Bindungen bezeichnet, die ein bestimmtes Atomen in einem Molekül zu anderen Atomen eingeht. Die Einführung in die Sprachwissenschaft wird üblicherweise Tesnière zugeschrieben.[8][9] Tesniers Idee war nicht völlig neu, sie stammt aus dem Rektions- und Konnotationsbegriff mittelalterlicher Grammatiken.[10]

Als Synonyme werden (zum Teil) verwendet:

  • Fügungspotenz.[11]
  • Transitivität (in der traditionellen Grammatik).[12]
  • Selektion.[13]
  • Subkategorisierung.[13] Das Wort, das die Eigenschaft der Valenz hat (Valenzträger), wird auch Regens genannt. Die von ihm abhängigen sprachlichen Elemente Dependentien.[14]

Der sprachliche Ausdruck, der den Valenzträger ergänzt, ihn sättigt, von ihm regiert und bestimmt wird, wird auch Ergänzung (oder Komplement) genannt, die von der bloßen zusätzlichen Angabe unterschieden wird.

Man unterscheidet quantitative und qualitative Valenz und meint damit zum einen die Anzahl der geforderten/ermöglichten Leerstellen und zum anderen die Art der Ergänzung.

Die Anzahl der Stellen ist Teil der semantischen Bedeutung eines Wortes. Die Art der Leerstellenbesetzung gehört zur syntaktischen Charakterisierung eines Wortes.[15] Die Argumente und die Kategorien, die diese Argumente syntaktisch realisieren, sind im Lexikoneintrag zu erfassen und können z. B. in einem Rektionsmodell dargestellt werden. Beides charakterisiert ein Wort und wird dessen Argumentstruktur[16] oder Valenzrahmen[17] genannt.

Das regierende Wort bestimmt in der Regel nicht nur die Anzahl und die Art der Ergänzung, sondern auch die ihrer grammatischen Eigenschaften (Rektion).[18]

Die Valenz des Verbs (Verbvalenz)

Die Struktur eines Satzes bestimmt sich durch das Verb oder präziser durch das Prädikat. Welche Satzglieder ein Verb einfordert, ist abhängig von der Valenz oder Wertigkeit des Verbs. Damit beschreibt die „Valenz“ das Potential eines Verbs, bestimmte Ergänzungen einzufordern und in ihrer Form festzulegen.[19]

Im Vordergrund der Valenztheorie steht die Valenz des Verbs. Die Verbvalenz wird zum Ausgangspunkt der Dependenzgrammatik gemacht. Sogenannte Valenzwörterbücher listen Verben mit ihrer jeweiligen Valenz auf.

Von der semantischen Bedeutung eines Verbs hängt seine Valenz ab (bzw. umgekehrt). Zugleich hängt von der Valenz des Verbs entscheidend die Syntax des Satzes ab.[20] Vergleicht man die Anzahl und Art der Wertigkeit aller Verben, ergibt sich eine begrenzte Anzahl an Satzbauplänen. Neben der syntaktischen Valenz eines Verbs wird auch von der semantischen Valenz eines Verbs gesprochen, zusammenfassend auch von syntaktisch-semantische[r] Valenz[21]

Mit semantischer Valenz wird auch die semantische Verträglichkeit von Wörtern im Kontext bezeichnet (auch: Kompatibilität).[22] (Beispiel eines bewussten Verstoßes dagegen:[22] *Katzen würden Whiskas kaufen.)

Valenzträger muss nicht immer ein Verb allein sein. Auch zusammengesetzte Prädikate können Valenzträger sein (Beispiel: Der neue Trainer bringt die Nationalmannschaft für die WM auf Trab. Valenzträger = .. bringt ... auf Trab)..[22] Modal-, Modalitäts- und Hilfsverben können hingegen keine Valenzträger sein. (Beispiel: Kahn muss zu Hause bleiben. Prädikat = muss bleiben. Valenzträger = bleibenKahn bleibt zu Hause.).[22]

Unter dem Gesichtspunkt ihrer Valenz werden Verben unterschiedlich eingeteilt:

Ein- bis n-stellige Verben

Übersicht

Nach der Anzahl der Leerstellen eines Verbs unterscheidet man

  • nullwertige (avalente) Verben
    • Beispiel: <Es> schneit. Es regnet.
    • Das Verb hat hier zwar ein grammatisches Subjekt, aber dieses stellt kein Argument dar. Es ist ein sogenanntes Scheinsubjekt.
  • einwertige (monovalente) Verben (ein Subjekt fordernd)
    • Beispiel: <Das Kind> läuft.
  • zweiwertige (bivalente) Verben (ein Subjekt und ein Objekt, i.d.R. ein Akkusativobjekt fordernd)
    • Beispiel: <Ich> liebe <dich>
  • dreiwertige (trivalente) Verben (ein Subjekt und zwei Objekte fordernd)
    • Beispiel: <Ich> gebe <Klaus> <ein Buch>.
    • Das Verb geben braucht das Subjekt, eine Akkusativ-Ergänzung und eine Dativ-Ergänzung; es ist dreiwertig.
  • vierwertige Verben
    • Beispiel: <Emil> schreibt <seiner Mutter> <einen Brief> <über seine Geldnot>.

Variabilität der Stelligkeit (Wertigkeit) eines Verbs

Je nach Zusammenhang und Bedeutung des Verbs kann seine Stelligkeit verschieden sein.

  • Beispiel 1 (schreiben):
    • (1) <Ernst> schreibt <seiner Mutter> <einen Brief> <über seine Geldnot>. (schreibt ist vierwertig);
    • (2) <Ernst> schreibt <seiner Mutter> <einen Brief> (.. ist dreiwertig);
    • (3) <Ernst> schreibt <seiner Mutter> (.. ist zweiwertig);
    • (4) <Ernst> schreibt. (.. ist einwertig).
  • Beispiel 2 (gratulieren):
    • (1) <Ich> gratuliere <Dir> (zweiwertig)
    • (2) <Ich> gratuliere <Dir> <zum Geburtstag> (dreiwertig)
  • Beispiel 3 (antworten):
    • (1) <Ich> antworte. (einwertig);
    • (2) <Ich> antworte <ihm>. (zweiwertig)
    • (3) <Ich> antworte <ihm> <auf den Brief>. (dreiwertig)
    • (4) <Ich> antworte <ihm> <auf den Brief>, <dass ich gerne käme>. (vierwertig)

Verben mit notwendiger (obligatorischer) und mit freier (fakultativer) Ergänzung

Es wird unterschieden zwischen Verben mit notwendiger und mit freier Ergänzung. Diese Unterscheidung wird für das Deutsche jedoch als problematisch angesehen.[23] Teilweise wird eine strenge Zweiteilung durch die Dreiteilung in (1) obligatorische Ergänzungen, (2) kontextuell fakultative Ergänzungen und (3) fakultative Ergänzungen vermieden.[24]

Siehe auch das obige Beispiel Ernst schreibt (seiner Mutter (einen Brief (über seine Geldnot))).

Obligatorische Ergänzungen sind notwendig, damit ein Satz grammatisch ist, optionale Ergänzungen können weggelassen werden, gelten aber trotzdem als spezifische Konstruktion des Verbs. Bei den optionalen Ergänzungen unterscheidet man noch 2 Arten: kontextabhängige, die man weglassen kann, weil der Kontext klar ist, oder unbegrenzte Ergänzungen, wie z. B. „sie raucht (eine Zigarette)“. Es gibt aber auch Angaben, wie Zeitangaben, Ortsangaben usw., die völlig frei kombinierbar sind und nicht von dem Verb abhängen müssen.

Potentielle und realisierte Valenz als Alternative

Im „Metzler Lexikon Sprache“ wird vorgeschlagen, stattdessen zwischen einer potentiellen und einer realisierten Valenz zu unterscheiden.[25] Die potentielle Valenz gibt dann an, wie viele Ergänzungen von einem Verb abhängen können; dieser steht die konkret realisierte Valenz gegenüber.

Siehe auch

Literatur

  • Vilmos Ágel: Valenztheorie. Tübingen 2000.
  • Angelika Ballweg-Schramm und Helmut Schumacher: Verbvalenz-Wörterbuch auf semantischer Basis. In: Praxis der Lexikographie: Berichte aus der Werkstatt. Hrsg. von Helmut Henne, Tübingen 1979 (= Germanistische Linguistik, 22), S. 92–123.
  • Ludwig M. Eichinger, Hans Werner Eroms (Hrsg.): Dependenz und Valenz. Hamburg 1995.
  • R. Emons: Valenzgrammatik für das Englische. Tübingen 1978.
  • U. Engel, H. Schumacher: Kleines Valenzlexikon deutscher Verben. 2. Auflage. Tübingen 1978.
  • Lucien Tesnière: Elements de syntaxe structurale. 1959. (Dt.: Grundzüge der strukturalen Syntax. Begründung der Valenzgrammatik)
  • Armin Gatterer: Über die Valenz von Substantiven, die Beziehungen zwischen Personen zum Ausdruck bringen. Innsbruck 1984.
  • Gerhard Helbig: Probleme der Valenz- und Kasustheorie. Tübingen 1992.
  • Gerhard Helbig, Wolfgang Schenkel: Wörterbuch zur Valenz und Distribution deutscher Verben. 8., durchges. Auflage. Tübingen 1991.
  • Thomas Herbst, David Heath, Ian Roe, Dieter Götz: A Valency Dictionary of English. Mouton de Gruyter, Berlin/ New York 2004.
  • Peter Koch, Thomas Krefeld: Dependenz und Valenz in romanischen Sprachen. In: Peter Koch, Thomas Krefeld (Hrsg.): Connexiones Romanicae Dependenz und Valenz in romanischen Sprachen. Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1991, ISBN 3-484-30268-2, S 5–38.

Weblinks

Wiktionary: Valenz – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Katja Kessel, Sandra Reimann: Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache. Fink, Tübingen 2005, ISBN 3-8252-2704-9, S. 14
  2. Detlef Langemann, Simone Felgentreu (Hrsg.): Duden, Basiswissen Schule: Deutsch. 2. Auflage. 2006, ISBN 3-411-71592-8, S. 123: "semantisch-syntaktisch an sich zu binden"
  3. Duden, Die Grammatik. 7. Auflage. 2005, ISBN 3-411-04047-5, Rn. 1180.
  4. Michael Dürr, Peter Schlobinski: Deskriptive Linguistik. Vandenhoeck & Ruprecht, 2006, ISBN 3-525-26518-2, S. 116.
  5. Lohnstein: Formale Logik. 1996, S. 51
  6. Katja Kessel, Sandra Reimann: Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache. Fink, Tübingen 2005, ISBN 3-8252-2704-9, S. 14.
  7. Andreas Blombach, Valenztheorie und Konstruktionsgrammatik, Seite 6 f. (PDF)
  8. Duden, Die Grammatik. 7. Auflage. 2005, ISBN 3-411-04047-5, Rn. 521 Fn. 1
  9. Valenz. In: Hadumod Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft. 3. Auflage. 2002, ISBN 3-520-45203-0; vgl. hier auch Dependenzgrammatik
  10. Vilmos Ágel, Valenztheorie. Tübingen 2000, Seite 16
  11. Valenz. In: Hadumod Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft. 3. Auflage. 2002, ISBN 3-520-45203-0.
  12. Christoph Gabriel, Trudel Meisenburg: Romanische Sprachwissenschaft. Fink, 2007, ISBN 978-3-7705-4325-0, S. 185.
  13. a b Duden, Die Grammatik. 7. Auflage. 2005, ISBN 3-411-04047-5, Rn. 1180: so z.T.
  14. Katja Kessel, Sandra Reimann: Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache. Fink, Tübingen 2005, ISBN 3-8252-2704-9, S. 14.
  15. Vgl. Jörg Meibauer: Einführung in die germanistische Linguistik. 2. Auflage. 2007, ISBN 978-3-476-02141-0, S. 149.
  16. Jörg Meibauer: Einführung in die germanistische Linguistik. 2. Auflage. 2007, S. 149.
  17. Duden, Die Grammatik. 7. Auflage. 2005, ISBN 3-411-04047-5, Rn. 521 (dort fürs Verb)
  18. Vgl. Wilfried Kürschner: Grammatisches Kompendium. 4. Auflage. 2003, ISBN 3-8252-1526-1, S. 81: Valenz als „Rektion eines Verbs, eines Adjektivs oder eines Substantivs, d. h seine Fähigkeit, seine syntaktischen Umgebungen vorzustrukturieren, indem es Satzgliedern bzw. Attributen Bedingungen bezüglich ihres Vorkommens und ihrer grammatischer Eigenschaften auferlegt“.
  19. Vervalenz. Online bei uni-heidelberg.de
  20. Heidrun Pelz: Linguistik. Hoffmann und Campe, 1996, ISBN 3-455-10331-6, zu 8.4, S. 167.
  21. Duden, Die Grammatik. 7. Auflage. 2005, ISBN 3-411-04047-5, Rn. 521.
  22. a b c d Vgl. Katja Kessel, Sandra Reimann: Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache. Fink, Tübingen 2005, ISBN 3-8252-2704-9, S. 17.
  23. U. Pospiech: Syntax. In: Johannes Volmert (Hrsg.): Grundkurs Sprachwissenschaft. 5. Auflage. 2005, ISBN 3-8252-1879-1, S. 140.
  24. So Thomas Herbst, Michael Klotz: Lexikografie. Schöningh, 2003, ISBN 3-8252-8263-5, S. 77.
  25. Syntax. In: Glück (Hrsg.): Metzler Lexikon Sprache. 4. Auflage. 2010.