Benutzer:Dogbert66/Trägheitskraft und d'Alembertsches Prinzip

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Trägheitskraft und D’Alembertsches Prinzip[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ich möchte hier KeinEinsteins Anmerkung aufgreifen, dass wir anscheinend zwischen Physikern und Machinenbauern verschiedene Verwendungen des Begriffs der Trägheitskraft haben, die auch in den Artikeln Zentrifugalkraft und Corioliskraft zum Ausdruck kämen. In diesem Zusammenhang wird insbesondere das D'Alembertsche Prinzip genannt. Da ich als Physiker das D'Alembertsche Prinzip als das Prinzip der virtuellen Verschiebungen im Zusammenhang mit Zwangskräften (nicht Trägheitskräften!) kenne, verwundert mich das ziemlich. Nach einer Literaturrecherche ergibt sich folgendes Bild:

A) In der Tat führen etliche Mechanik-Bücher die Trägheitskraft in einem Kapitel mit der Überschrift "D'Alembertsches Prinzip" ein, das dann eine "Trägheitskraft nach d'Alembert" definiert, ohne jedoch das d'Alembertsches Prinzip zu erwähnen (Mahnken, S.110, Knappstein, S.68, ...)

Das Standardwerk der Ingenieure Dubbel, S.26 führt unter der Überschrift "Prinzip von d'Alembert und geführte Bewegungen" die Trägheitskraft u.a. als "d'Alembertsche Hilfskraft" ein und leitet dann auf das Prinzip der virtuellen Verschiebungen über.

In allen diesen Fällen handelt es sich um , also das negative der rechten Seite aus Newtons Zweitem Gesetz.

B) Jean-Baptiste le Rond D' Alembert: Traité de dynamique. chez David, 1758, S. 3 (französisch, google.de [abgerufen am 1. Mai 2012] Online-version entstammt der Bibliothek des bischöflichen Priesterseminars Barcelona, digitalisiert 4. Mai 2010). schreibt auf Seite 3: "J'appelle avec M. Newton force d'inertie, la propriété qu'ont les Corps de rester dans l'état où ils sont." (eigene Übersetzung: "Ich bezeichne mit Herrn Newton die Eigenschaft als Trägheitskraft, die Körper haben, in dem Zustand zu verbleiben, in dem sie sind.")

Hier wird zwar die Trägheit als Eigenschaft und die Kraft als Größe nicht im modernen Sprachgebrauch unterschieden, es ist aber eine berechtigte Begründung dafür, dass das Negative der rechten Seite von Newtons Zweitem Gesetz als "Trägheitskraft nach d'Alembert" bezeichnet wird. Im Physikersprachgebrauch ist dies gerade die Trägheitskraft, die ein im Inertialsystem beschleunigter Körper in seinem eigenen Ruhesystem erfährt.

C) Das d'Alembertsche Prinzip hat hiermit allerdings recht wenig zu tun (bis auf Autor und Werk!):

  • Eine Standardformulierung wäre zum Beispiel R.M. Dreizler, C.S. Lüdde: Theoretische Physik 1. Theoretische Mechanik. Gabler Wissenschaftsverlage, 2008, ISBN 978-3-540-70557-4, S. 206 (google.de [abgerufen am 1. Mai 2012]).: "Prinzip von d'Alembert: Die virtuelle Arbeit, die man an einem System im formalen Gleichgewicht bei einer virtuellen Verschiebung verrichtet, ist gleich Null."
  • Ein Blick in den Goldstein lässt auch erkennen, dass beim d'Alembertschen Prinzip von "Zwangsbedingungen" (die führen zu Zwangskräften, nicht zu Trägheitskräften!) oder "geführten Bewegungen" (wie Dubbel es nennt) die Rede ist.
  • Während die obige Definition der Trägheitskraft am Anfang des Werks steht, befasst sich erst das zweite Kapitel von Jean-Baptiste le Rond D' Alembert: Traité de dynamique. chez David, 1758, S. 72 (französisch, google.de [abgerufen am 1. Mai 2012] Online-version entstammt der Bibliothek des bischöflichen Priesterseminars Barcelona, digitalisiert 4. Mai 2010). mit dem was d'Alembert das "Allgemeine Prinzip miteinander wechselwirkender Körper" (eig. Übers.) nennt. Während sich Newton quasi nur um fernwirkende gegenseitige Wechselwirkungen gekümmert hat, so gilt sein Prinzip auch für Stöße und Zwangskräfte, die dadurch entstehen, dass Körper miteinander verbunden sind.

D) Historische Sicht: In Thomas L. Hankins: Jean D'Alembert: Science and the Enlightenment. Band 6 von Classics in the History and Philosophy of Science. Taylor & Francis, 1990, ISBN 2-88124-399-1, S. 30 (google.de [abgerufen am 1. Mai 2012]). wird erwähnt, wie d'Alembert und Clairaut miteinander um die Erstveröffentlichung eines allgemeinen Prinzips der Mechanik stritten.

Die wöchentlichen Sitzungen der französischen Académie Royale des Sciences wurden in Jahresbänden veröffentlicht. Nachdem Clairaut 1742 mit der Vorlesung seiner "Prinzipien, die eine große Zahl von dynamischen Systemen lösen" begann, fühlte sich d'Alembert unter Druck gesetzt und veröffentlichte zeitgleich seinen "Traité de dynamique", deren Erscheinen in der Akademie 1743 erwähnt wird. Er grenzt sein Prinzip auf Seite 72 seines Traité jedoch klar von Clairaut ab.

Bei der von Dubbel erwähnten Lagrangesche Formulierung des d'Alembertschen Prinzips handelt es sich vermutlich um Seite 232 ff. von Lagranges Mécanique analytique von 1815, wo d'Alembert explizit erwähnt wird.

Zu einer Formulierung aus dem Jahr 1870 siehe Schell, S.867: "Während der Bewegung des Systems halten jeden Augenblick mit Rücksicht auf die Bedingungen, denen das System unterworfen ist, die verlorenen Kräfte sich Gleichgewicht und ist mithin die virtuelle Arbeit derselben für jede mit der Natur des Systems vereinbare Verschiebung Null."

E) Weitere Literatur:

  • Eine englischsprachige Einführung in d'Alemberts "Traité de dynamique" gibt Craig Fraser, Institute for the History and Philosophy of Science and Technology, University of Toronto: Teil 1 und Teil 2
  • Leider an der spannenden Stelle (Seite 305ff.) online nicht sichtbar ist K. Simonyi: Kulturgeschichte der Physik, S.304 (Anmerkung: Das Buch liegt mir vor. Auf S. 305 wird zunächst D'Alemberts Traité de Dynamique zitiert über ein System zusammengesetzter Körper und nachfolgend das d'Alembertsche Prinzip auf ein physikalisches Pendel angewendet. Die Rechnung führt auf einen Ausdruck für den Geschwindigkeitszuwachs beim Durchlaufebn eines Bogenelements ds, der äquivalent zu dem ist, was heutzutage über "Drehmoment = Trägheitsmoment * Winkelbeschleunigung" gefunden wird. S. 306f behandelt Boskovics Gedanken zu Fernwirkung vs. kartesischer Nahwirkung, also ein ganz anderes Thema. Kein Einstein (Diskussion) 16:56, 1. Mai 2012 (CEST))

F) Und jetzt wird es haarsträubend:

  • Im Zuge der obigen Recherche stellt sich mir die Behauptung von Lanczos, S.88 "With a stroke of genius the eminent French mathematician and philosopher d'Alembert (1717–1783) succeeded in extending the applicability of the principle of virtual work from statics to dynamics." als schlichtweg falsch dar: weder gab es zu d'Alemberts Zeit bereits den Begriff der "virtuellen Arbeit", noch war es d'Alemberts Ansatz irgendeinen Übergang von der Statik in die Dynamik durchzuführen. Seine historische Bedeutung ist die Erweiterung der Newtonschen Prinzipien auf Systeme mit Zwangsbedingungen, die später zum Prinzip der virtuellen Verschiebungen ausformuliert werden kann.
  • Nicht sehr hilfreich sind zwei Erwähnungen in der Encyclopedia Britannica, in der der Beitrag zum d'Alembertschen Prinzip im Widerspruch zu dessen korrekter Erwähnung in d'Alembert steht. Die (imho falsche) Britannica-Definition des d'Alembertschen Prinzips kommt so auch in Harten, S.72 vor, der versucht, zwischen Ingenieuren und Physikern zu vermitteln.

Fazit: Meiner Meinung nach hat die "Maschinenbau"-Lesart der Trägheitskraft durchaus mit d'Alembert, nicht jedoch mit dem d'Alembertschen Prinzip zu tun.

Der jetzige zweiten Absatz in der Einleitung zu Trägheitskraft ("Daneben werden Trägheitskräfte[4] oder Scheinkräfte[5] auch im Sinne des D’Alembertschen Prinzips angewendet. Dabei wird jedem Körper eine Kraft zugeordnet, die gleich dem negativen Produkt aus seiner Masse und seiner Beschleunigung im Inertialsystem ist. Dadurch wird ein dynamisches Problem zu einem statischen Problem umformuliert. Das Prinzip spielt eine bedeutsame Rolle in der Technischen Mechanik, beispielsweise beim Motorenbau. Die Trägheitskräfte werden oft auch Massenkräfte genannt.") passt nicht zu dem Bild, das sich mir aus der obigen Recherche ergibt. Eine Verkürzung auf "In der Maschinenbauliteratur wird das negativen Produkt aus der Masse eines Körpers und seiner Beschleunigung im Inertialsystem als Trägheitskraft nach d'Alembert definiert, bei der es sich gerade um die Trägheitskraft im Ruhesystem des Körpers handelt." wäre imho angebracht (Dubbel als Referenz würde ausreichen).

Gerne kann im Artikel zum d'Alembertschen Prinzip erwähnt werden, dass in der Maschinenbauliteratur die Definition der Trägheitskraft nach d'Alembert (fälschlicherweise) als Prinzip von d'Alembert bezeichnet wird.

Diskussion[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Vielen Dank für die Fleißarbeit am Tag der Arbeit. Ich würde - immerhin ist das ja OR nicht so drastisch vorgehen und eine Formulierung versuchen, bei der die Darstellung der Ingenieure als solche genannt wird, ohne direkt zu werten. Wir solten dazu Jörn ins Boot holen, finde ich... Kein Einstein (Diskussion) 16:56, 1. Mai 2012 (CEST)

Danke für den Hinweis: natürlich hat d'Alembert sein Prinzip nicht d'Alemberts Prinzip genannt; und wenn außer Lagrange/Schell/Goldstein, die auf die virtuelle Arbeit abzielen, auch ein paar Ingenieure eine andere Quintessenz daraus gezogen haben, die mehr auf eine Vereinfachung von dynamischen Systemen abzielt, so war das deren gutes Recht. Also, neue Fleißarbeit: a) untersuchen, wann die beiden verschiedenen Verwendungen des Ausdruck "d'Alemberts Prinzip" wirklich entstanden sind. b) ggf. D'Alembertsches Prinzip (Maschinenbau) anlegen, wenn das wirklich ein aus d'Alemberts Traité herleitbares Prinzip ist; ein anderes Prinzip ist es allemal. --Dogbert66 (Diskussion) 23:53, 1. Mai 2012 (CEST)

Der Britannica-Artikel beschreibt korrekt, was heute unter dem d'Alembertschen Prinzip verstanden wird: Die Einführung der "d'Alembertschen" Trägheitskraft und das Prinzip, dass jeder Körper bei Berücksichtigung der d'Alembertschen Trägheitskraft im dynamischen Kräftegleichgewicht ist. Dieses Prinzip erlaubte es erstmals dynamische Kräfte wie statische zu behandeln. Zur Bedeutung von d'Alembert im Zusammenhang mit Euler, Lagrange, Hamilton, Jacobi und Helmholtz und zum d'Alembertschen Prinzip siehe Brassel, Seite 69-71: "D'Alembert fand dann die Lösung, die als d'Alambertsches Prinzip in die Literatur eingegangen ist. Ausgangspunkt ist der Kunstgriff, das zweite Newtonsche Axiom (1) als Gleichgewichtsbedingung zu schreiben..."

Dass bei mechanischen Konstruktionen Zwangsbedingungen berücksichtigt werden müssen, weil die Einzelteile einer Maschine sich nicht frei im Raum bewegen können, war sicher schon vor d'Alembert bekannt und ist unabhängig von den d'Alembertschen Trägheitskräften. "Haarsträubend" ist eigentlich nur, dass du die übliche Darstellung des d'Alembertschen Prinzips in der physikalischen und technischen Fachliteratur als haarsträubend bezeichnest. -- Pewa (Diskussion) 10:10, 2. Mai 2012 (CEST)