Benutzer:Wibramuc/Wohlstandsverwahrlosung

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Der Begriff Wohlstandsverwahrlosung beschreibt die seelische Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen. Die Zusammenziehung der Begriffe Wohlstand und Verwahrlosung, gelegentlich auch „Verwöhn-Verwahrlosung“ oder „Luxusverwahrlosung“ genannt, bedeutet eine Erziehung ohne Grenzen bezüglich materieller Dinge bei gleichzeitigem Mangel an emotionaler Zuwendung und Liebe.[1] Kinder, die weitgehend sich selbst überlassen sind und an Stelle von Zuwendung materielle und/oder mediale Überversorgung erleben, fallen im Extremfall z.B. durch exzessiven Alkoholkonsum, Schulversagen und aggressive Ausfälle bis hin zur sexuellen Verrohung auf. Die Symptome ähneln damit solchen aus Verwahrlosung in sozialen Randgruppen.[2] Abzugrenzen ist die Wohlstandsverwahrlosung von der Affluenza.

Ursachen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als Ursache von Wohlstandsverwahrlosung werden generell verminderte emotionale Tiefe und Dauer bei gleichzeitiger leistungsmäßiger und emotionaler Überforderung beschrieben. Als fördernd werden beispielsweise häufige Abwesenheit der primären Bezugspersonen z. B. persönlich aus beruflichen Gründen oder emotional aufgrund von Rollen- und Beziehungsproblemen angesehen, insbesondere wenn die Bezugspersonen dazu neigen, bestehende Schuldgefühle materiell zu kompensieren.[2][3]

Tiefenpsychologisch kann die Entstehung von Wohlstandsverwahrlosung auch damit erklärt werden, dass die Verwöhnung als Abwehrmechanismus dient, wenn das Kind nicht so mitmacht wie geplant, wenn es den Erwartungen der Eltern nicht entspricht, um z.B. nach außen hin zu zeigen „Seht, wie ich mein Kind liebe.“

Symptome[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zu den typischen Symptomen von Wohlstandsverwahrlosung betroffener Kinder und Jugendlicher zählen unter anderem eine geringe Frustrationstoleranz, geringe Anstrengungsbereitschaft bei gleichzeitiger hoher Anspruchshaltung und eine erhöhte Gefährdung durch Suchterkrankungen und Sekten.[4] Wohlstandsverwahrlosung bei Kindern kann sich z.B. in Sprachentwicklungsstörungen (hautpsächlich kleinere Kinder), dem Kauf von teuren Konsumartikeln (stärker ausgeprägt bei Mädchen), Wut bei der Verweigerung der Erfüllung von Wünschen, Ängsten,[2] Aggressivität,[5] Bindungsunfähigkeit und Verlust von Gemeinschaftsgefühl bemerkbar machen.

Fritz Redl und David Wineman haben einen Merkmalskatalog zusammengestellt, gemäß dem sich die psychologische Struktur innerer Verwahrlosung als einen psychischen Defekt beschreiben lässt:[6]

Weil zu wenige Frustrationen gesetzt wurden, können auch keine Versagungen ertragen werden.
  • Niedrige Versuchstoleranz
Auch ein Kind, das gewöhnt ist, sich alles erlauben zu können, kennt keine tragfähige innere Gewissensinstanz, weil es glaubt, ihm stehe immer und weiterhin alles zu.
Entweder fehlen Schuld- und Gewissensgefühle ganz, weil sie nur auf der Basis von Beziehungen und Identifikationen zur Entwicklung kommen, oder sie treten übermächtig auf, können nicht adäquat verarbeitet werden und rufen Aggressionen hervor.
Es tritt ein starkes Überflutetsein von negativen Gefühlen auf, das zu Verweigerung, Flucht oder Angriff führt.
Regeln und Routinehandlungen können in ihrer sozialen und sachlichen Notwendigkeit nicht erkannt werden. Als erlebte Bedrohung eigener Wünsche und Handlungstendenzen rufen sie Aggressionen und Ablehnung hervor.
Zukunft wird entweder inadäquat erhöht gedacht als Projektionsebene für die Riesenwünsche und Selbsterhöhungen oder aber inadäquat angstauslösend, so dass jede Zukunftsorientierung verweigert wird.
Mit der gestörten Realitätsanpassung hängt zusammen, dass Erfahrungen im Rahmen des gestörten Beurteilungshorizonts gedeutet werden und damit eine Verstärkung der Fehleinschätzung verbunden ist.
Aufgrund der beeinträchtigten Beziehungs- und Übertragungsfähigkeit kann sich der Verwahrloste nur mangelhaft einfühlen. Er nimmt Gefühle und Motive anderer Menschen nur unzureichend wahr und ist deshalb auch nur beschränkt fähig, Gruppenprozesse zu verstehen und sich zu integrieren.
  • Hohe Ansprechbarkeit
Die Gefühlsauslösung gelingt leicht, die schwache Persönlichkeit kann sich nach außen nur unzureichend abgrenzen, eigene Willensentscheidungen treffen und durchsetzen. Die Beeinflussbarkeit durch äußere Reize ist beträchtlich. Weder dem Aufforderungscharakter von Objekten noch Gruppenprozessen oder Gruppendruck kann widerstanden werden.
Hier zeigt sich die Unfähigkeit zum Verlierenkönnen. Der Wettstreit wird vermieden oder artet in Kampf aus.

Wohlstandsverwahrloste Personen fallen in den meisten Fällen z.B. durch passive Verweigerung und ihre Antriebslosigkeit auf. Es fehlt ihnen an Motivation und sie haben nur sehr geringes Durchhaltevermögen, weshalb sie auch selten in der Lage sind etwas zu Ende zu bringen. Weiters sind sie stark drogengefährdet und werden oftmals Opfer sektenähnlicher Gruppierungen, da sie vom normalen, langweiligen Leben angewidert sind und immer nach dem nächsten Kick suchen. Bei Kindern ist Schulschwänzen eine sehr häufige Folge. Eltern wohlstandsverwahrloster Kinder reagieren auf das Schuleschwänzen häufig z.B. mit der Versetzung in ein Internat, Auslandsaufenthalten oder Studienreisen, die den angenehmen Nebeneffekt von gesellschaftlicher Akzeptanz haben und sogar prestigefördernd sind. Weiters führen die großen Defizite in den Antrieben und im Gefühlsbereich zu einer sehr geringen Leistungsmotivation und Leistungsfähigkeit.

Wohlstandsverwahrloste Menschen haben ein sehr labiles Selbstwertgefühl und Schwierigkeiten im Umgang mit der Realität, was zu Wunschfantasien führt. Kinder werden egozentrisch, entwickeln Bequemlichkeitshaltungen und stellen sehr hohe Ansprüche ohne eigene Anstrengungsfähigkeiten. Weiters sind sie nicht dazu bereit Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen. Soziale Beziehungen werden auf ihre Nützlichkeit bewertet und werden einfach abgebrochen oder ausgetauscht wenn sie als nicht mehr nützlich empfunden werden.

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Wortgeschichte des Begriffs Verwahrlosung verweist nicht auf milieubedingte Vernachlässigung, sondern auf mangelnde Aufmerksamkeit. Das mittelhochdeutsche Wort verwarlosen lässt sich mit „unachtsam behandeln“ übersetzen. Damit verbunden ist das althochdeutsche waralos oder „achtlos“.[7]

Das „Verwahrlosung“ die Folge mangelhafter oder fehlender Erziehung ist, wurde bereits am Ende des 19. Jahrhunderts durch den Pädagogen Johann Friedrich Gottlob Közle lexikalisch verbürgt: „Verwahrloste Kinder [sind] solche, die aus Mangel einer entsprechenden Erziehung (Aufsicht, Bewahrung, Unterweisung) in einen Zustand geraten, der sie selbst unglücklich und zur würdigen Teilnahme an der allgemeinen menschlichen Aufgabe und Gesellschaft untüchtig macht.“[7]

1925 veröffentlichte August Aichhorn sein Buch „Verwahrloste Jugend“, in welchem er Jugendliche beschreibt, die nur nach Erfüllung der eigenen Triebe und Wünsche handeln. Er kritisiert sowohl die mangelnde als auch die übermäßige Liebe, die zur mangelnder Beziehungsfähigkeit führen können.[8]

In den 1990er Jahren machte die Schweizer Psychologin Ulrike Zöllner das Wort Wohlstandsverwahrlosung mit dem Buch Die armen Kinder der Reichen populär.[2]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Markus Deggerich: (K)eine Frage des Geldes. In: Der Spiegel. 18. November 2008;.
  2. a b c d Simone Blaß: Emotional unterversorgt: Experten warnen vor Wohlstandsverwahrlosung
  3. Cathrin Kahlweit: Wenn Eltern (sich) aufgeben In: Süddeutsche Zeitung 17. Mai 2010
  4. Die Familie an der Wende zum 21. Jahrhundert Bundesminister für Wirtschaft, Familie und Jugend 2010, Seite 897-899
  5. Hans-Peter Waldrich: „Wohlstandsverwahrlosung“ Nach dem Amoklauf von Winnenden: Was treibt die Täter zum Morden? In: Neues Deutschland 13. März 2009
  6. Fritz Redl, David Wineman: Kinder, die hassen. Auflösung und Zusammenbruch der Selbstkontrolle. Piper, München 1979, ISBN 3-492-02452-1.
  7. a b Sabine Andresen, Isabell Diehm: Kinder, Kindheiten, Konstruktionen: Erziehungswissenschaftliche Perspektiven und sozialpädagogische Verortungen Springer-Verlag, 2006 ISBN 9783531152554, Seite 259-260 (eingeschränkte Vorschau)
  8. August Aichhorn: Verwahrloste Jugend: Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung Verlag Hans Huber, 11. Auflage 2005, ISBN 3456842600 (eingeschränkte Vorschau)

Kategorie:Kinder- und Jugendhilfe Kategorie:Elternhauserziehung