Homosozialität

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Der Begriff Homosozialität (auch homosoziale Kooptation)[1][2] bezeichnet das Phänomen, dass Menschen sich in vielen Situationen mit Menschen umgeben, die ihnen geschlechtsbezogen ähnlich sind. Dieser Effekt ist vor allem bei Rekrutierungsprozessen am Arbeitsmarkt zu beobachten.

Homosozialität im Berufsleben

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Das Konzept der Homosozialität wird in der Organisationspsychologie aufgegriffen: Homosozialität ist ein Erklärungsansatz für die Benachteiligung von Frauen im Berufsleben,[3] da häufig Männer die Personalentscheidungen auf Führungsebene treffen und dabei aus homosozialen Gründen bevorzugt Männer auswählen.[4]

Der Wissenschaftsrat definiert homosoziale Kooptation für die Rekrutierung von Personal in der Wissenschaft[5] folgendermaßen: „Gemeint ist damit die Neigung, bei der Auswahl von Nachwuchs Angehörige der eigenen sozialen Gruppe zu bevorzugen, in denen sich die Entscheider selbst widerspiegeln. Bezogen auf die Auswahl des wissenschaftlichen Nachwuchses heißt das, es sind vor allem gleichgeschlechtliche Rekrutierungs- und Förderbeziehungen, die eine wissenschaftliche Laufbahn wahrscheinlicher machen.“[6] Diese Definition wurde in Gleichstellungsrichtlinien deutscher Universitäten übernommen.[7][8]

Sich mit Menschen zu umgeben, die einem tendenziell ähnlich sind, reduziert die Komplexität von Situationen und steigert das Vertrauen:[9][10] „Homosozialität, also die Gleichheit der Mitglieder, ist eine vertrauensbildende Maßnahme. Man hat Vertrauen in diejenigen, die einem gleich sind, weil man davon ausgeht, dass man mit denen ‚besser kann als mit den anderen‘; dass man mit ihnen die eigenen Ziele besser durchsetzen und die eigene Organisationskultur besser aufrechterhalten kann als mit anderen.“ (Michael Meuser: Gleichstellung auf dem Prüfstand).[11]

Homosozialität führt bei Personalentscheidungen – auf Grundlage des subjektiven Charakters der Entscheidung – zwangsläufig zu suboptimalen Lösungen für die Organisation. Da die Entscheidungsträger in Unternehmen überwiegend männlich sind, kann der Effekt zur Benachteiligung von weiblichem Personal führen.[12] Eine Möglichkeit, gegen die bewusste oder unbewusste Benachteiligung bestimmter Personengruppen vorzugehen, sind anonymisierte Bewerbungsverfahren.[13]

Homosozialität im sozialen Umfeld

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Homosoziales Verhalten findet sich beispielsweise im Freundeskreis. So haben Männer häufig mehr männliche Freunde, Frauen mehr Freundinnen.[14] Schon bei Kindern überwiegen freundschaftliche „Kontaktinitiativen zu gleichgeschlechtlichen Kindern“.[15]

Homosozialität als feministische Theorie

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Der Autorin Emilia Roig zufolge wird der Begriff der Homosozialität häufig auch als „soziale“ Liebesform innerhalb eines Geschlechtes verstanden, die sich von der romantischen und sexuellen Liebesform, der Homosexualität, abgrenzt. Dieser Auffassung nach lieben sich Männer untereinander, da sie sich zum Beispiel gegenseitig ehren, sich gegenseitig respektieren und sich untereinander solidarisieren.[4]

In nichtwissenschaftlichen Publikationen findet sich der auf Homosozialität zurückführende Begriff Mini-Me-Effekt:[16][17][18] „Der Recruiter erkennt im Bewerber sich selbst vor zehn oder mehr Jahren.“[17] Der Name geht auf eine Figur im Film Austin Powers – Spion in geheimer Missionarsstellung (1999) zurück, in dem ein Miniatur-Klon des Schurken dessen Charakterzüge und Gewohnheiten besitzt.

Einzelnachweise

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  1. Lisa-Marie Klinger: Sag mir wo die Mädchen sind: Über den Einstieg in den Wissenschaftsbetrieb in der sozialen Arbeit. In: Lotte Rose, Michael May (Hrsg.): Mehr Männer in die Soziale Arbeit? Budrich, Obladen 2014, S. 232.
  2. Michael Meuser: Organisationsveränderung durch Geschlechterpolitik. In: Lüdke, Dorothea, Runge, Anita, Koreuber, Mechthild (Hrsg.): Kompetenz und/oder Zuständigkeit. Zum Verhältnis von Geschlechtertheorie und Gleichstellungspraxis. VS Verlag, Wiesbaden 2005, S. 147–162.
  3. Nils Hammarén, Thomas Johansson: Homosociality: In between power and intimacy. In: Sage Open. Band 4, Nr. 1. SAGE, 2014, S. 1–11, doi:10.1177/2158244013518057.
  4. a b Emilia Roig: Unlearn Patriarchy. Unlearn Liebe. Hrsg.: Silvie Horch. Ullstein, Berlin 2022, ISBN 978-3-550-20219-3, S. 68,301.
  5. Ursula Müller: Geschlecht: Eine immer noch ungewohnte Kategorie in der Organisationssoziologie. In: Maja Apelt, Ingo Bode, Raimund Hasse, Uli Meyer, Victoria V. Groddeck, Maximiliane Wilkesmann, Arnold Windeler (Hrsg.): In: , et al. Handbuch Organisationssoziologie., Wiesbaden. Springer VS, Wiesbaden 2020, ISBN 978-3-658-15953-5.
  6. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Chancengleichheit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Berlin 13. Juli 2007.
  7. Information zur Chancengleichheit in Berufungsverfahren an der TU Dortmund. Abgerufen am 4. Juli 2023.
  8. Gleichstellungsrichtlinien für Berufungsverfahren an der FernUni Hagen. Abgerufen am 4. Juli 2023.
  9. Niklas Luhmann: Vertrauen : ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 4. Auflage. Lucius und Lucius, Stuttgart 2000, ISBN 978-3-8252-2185-0.
  10. Lutz Ohlendieck: Die Anatomie des Glashauses: Ein Beitrag zum Verständnis des Glass-Ceiling-Phänomens. In: Ursula Pasero (Hrsg.): Gender – from Costs to Benefits. Westdeutscher Verlag, Opladen 2003, S. 183–193.
  11. Michael Meuser: Gleichstellung auf dem Prüfstand. DJI, 1. Mai 2006, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 2. Januar 2018; abgerufen am 1. Januar 2018.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.dji.de
  12. U. Peters et al.: Diviersitätsförderliche Rekrutierungstoolbox für KMU. In: Anja Gerlmaier, Katrin Gül, Ulrike Hellert, Tobias Kämpf, Erich Latniak (Hrsg.): Praxishandbuch lebensphasenorientiertes Personalmanagement: Fachkräftepotenziale in technischen Entwicklungsbereichen erschließen und fördern. Springer, 2015, S. 224; eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche.
  13. Antidiskriminierungsstelle – Das Pilotprojekt. Abgerufen am 6. April 2018.
  14. Suzanna Rose: Same- and Cross-Sex Friendships and the Psychology of Homosociality. In: Sex Roles. Nr. 12, 1985, S. 63.
  15. Jürgen Wagner: Freundschaften und Freundschaftsverständnis bei drei- bis zwölfjährigen Kindern : sozial- und entwicklungspsychologische Aspekte. Springer-Verlag, Berlin 1991, ISBN 3-540-54804-1, S. 119.
  16. Der Mini-Me Effekt: Erfolgsprinzip Ähnlichkeit – Anti-Bias. In: Anti-Bias. 13. Dezember 2015 (anti-bias.eu [abgerufen am 19. Mai 2018]).
  17. a b Klaus Werle: Was glauben Sie eigentlich, wer ich bin? 2016, abgerufen am 31. Juli 2018.
  18. Netzwerk Integration durch Qualifizierung: Unconscious Bias : Unbewusste Fallstricke in der Personalarbeit verhindern. (PDF) Abgerufen am 31. Juli 2018.