Westraum

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Der Begriff Westraum bezeichnete im völkischen und nationalsozialistischen Kontext eine Reihe von Regionen unterschiedlicher staatlicher und ethnischer Zugehörigkeit zwischen der Nordsee- und Kanalküste und den Alpen. Diese Regionen wurden als deutscherVolks- und Kulturboden“ oder als ein deutscher „Grenzraum“ begriffen. Als politisch motiviertes, jedoch wissenschaftlich legitimiertes Raumkonzept bildete der „Westraum“ ein Paradigma der so genannten Westforschung. In seiner strategischen Funktion zielte er auf eine kulturelle Durchdringung, politische Infiltration bzw. militärische Aneignung dieser Gebiete. Abweichend von älteren Raumkonzepten beschränkte sich der „Westraum“ weder auf die im Friedensvertrag von Versailles abgetretenen deutschen Grenzgebiete, noch auf das Gebiet zwischen der Staats- und der Sprachgrenze.[1] Er gehörte vielmehr einer Gruppe von Raumkonzepten an, die sämtliche Abschnitte der deutschen Reichsgrenze als Räume begriffen, die weit in die benachbarten Staaten übergriffen (z. B. „Ostraum“, „Südostraum“, „Nordmark“).

Geographische Dimension[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Mehrzahl der Autoren und Akteure begriff als Westraum: die innerdeutschen rheinischen Grenzgebiete, die im Versailler Vertrag abgetretenen Gebiete Elsaß-Lothringen und Eupen-Malmedy, das internationalisierte Saargebiet, das Großherzogtum Luxemburg, die Niederlande, Belgien, den Nordosten und Osten Frankreichs und die deutschsprachige Schweiz. In Variationen kamen das Ruhrgebiet, die übrige Schweiz sowie die Gebiete des historischen Burgund und Savoyens hinzu, wodurch der „Westraum“ bis zur Rhone oder gar bis zum Mittelmeer ausgeweitet werden konnte.[2]

Im geographischen und geopolitischen, aber auch im historiographischen Diskurs wurde der „Westraum“ annähernd mit dem Stromgebiet des Rheins gleichgesetzt, dem Maas und Schelde als Nebenströme zugeordnet wurden.[3] Bei einer Einbeziehung Burgunds zielen geographische Argumentationen auf die Wechselbeziehungen zwischen Rhein und Rhone sowie die verbindende Funktion der Burgundischen Pforte als gebirgsfreie Verbindungslandschaft zwischen der oberrheinischen Ebene und dem südöstlichen Frankreich.[4] Die Homogenität der Stromsysteme wurde zuweilen in eine Homogenität der Verkehrssysteme, der Kultur- oder der Wirtschaftsräume übertragen. Alternative geographische und geopolitische Argumentationen deuteten die Mittelgebirge (Artois, Ardennen, Eifel, Hunsrück, Vogesen, Jura) als natürliche Sperrlandschaften und hoben ihre strategische Funktion im Kriegsfall hervor.[5]

Historische Dimension[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Aus historischer Perspektive erschien der „Westraum“ als Austragungsraum eines epochenübergreifenden deutsch-französischen Kampfes (vgl. Deutsch-französische Erbfeindschaft). Die mittelalterliche und neuzeitliche Geschichte wurde hierbei als die schrittweise Zerstörung und Aneignung des deutschen „Westraumes“ durch Frankreich begriffen. Damit verbunden waren Vorstellungen einer Festungsfunktion dieses Raumes, die von Frankreich systematisch außer Kraft gesetzt worden sei.[6] Hierbei konnte der Fokus auf dem Verhältnis romanischer und germanischer Kultur, den germanischen Siedlungsbewegungen der Spätantike bzw. des frühen Mittelalters, den fränkischen Reichsteilungen (merowingisches Austrasien, karolingisches Lotharingien) oder aus der Vereinigung Lotharingiens mit dem ottonischen Ostreich gebildet habe. Aus imperialistischer Sicht forderte Ernst Hasse schon um die Jahrhundertwende eine kräftige Ausdehnung deutscher Herrschaft und Grenzen nach Westen (und auch nach Osten), wenn dem Reich überseeische Kolonien verwehrt blieben. Hannah Arendt hat seine Gedanken dazu ausführlich dargestellt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.

Unter den mit dem NS gleichzeitigen Wurzeln des „Westraums“ spielte Franz Petris These einer germanischen Besiedlung der Wallonie und Nordostfrankreichs eine herausragende Rolle;[7] weitere Kernthesen beschrieben die Herausbildung der Sprachgrenze als Rückzugsbewegung des Germanischen (Franz Steinbach)[8] oder stellten die Zugehörigkeit romanischer Bevölkerungen, der so genannten Reichsromanen, zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation in den Mittelpunkt.[9] Diese Argumentation erlaubte während des Zweiten Weltkrieges auch die Anwerbung frankophoner Kollaborateure als Angehörige des „Westraumes“. Das Petri-Steinbach-„Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande“ in Bonn, den Gründer Hermann Aubin eingeschlossen, bestand über das Kriegsende 1945 hinaus, es wurde 2005 aufgelöst und seine Arbeitsfelder wurden auf verschiedene andere Universitäts-Einrichtungen verteilt (siehe Abteilung für Rheinische Landesgeschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn).

Begriffsgeschichte und Synonyme[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ein Deutschvölkischer Schutz- und Trutzbund war der Nährboden für den Begriff „Westraum“ in der 2. Hälfte der 1920er Jahre.[10] Er wurde rasch von radikalen jungkonservativen Grenzlandaktivisten aufgegriffen.[2] Synonym existierte seit Beginn der 1920er Jahre der Terminus „Westland“, der später als Name einer Standarte der Waffen-SS verwendet wurde. Auch eine SS-nahe, vom deutschen „Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete“ Seyß-Inquart herausgegebene Zeitschrift trug diesen Namen.[11]

Als weiteres Synonym kann der Terminus „Westmark“ gelten, der 1870 erstmals von Heinrich von Treitschke für das besetzte Elsaß-Lothringen vorgeschlagen worden war.[12] Vom Alldeutschen Verband und radikalen völkischen Kreisen der Jahrhundertwende aufgegriffen, war er bis zum Ersten Weltkrieg auf die oben genannten Gebiete erweitert und mit Vorstellungen einer diktatorialen Verwaltung sowie einer germanisierenden Bevölkerungspolitik verknüpft worden.[13] In der Kriegszielbewegung stand der Begriff „Westmark“ schließlich für die okkupierten frankophonen Territorien, in denen nach einer „Annexion frei von Menschen“ systematisch deutsche Wehrbauern angesiedelt werden sollten.[14] Diese aggressive Ausweitung des Begriffs zu einem Eroberungs- und Vertreibungskonzept war ein Grund dafür, dass jüngere völkische Aktivisten ihn nach der Niederlage 1918 durch neue Begriff ersetzten und als Westforschung wissenschaftlich zu untermauern versuchten.

Verhältnis zur deutschen Besatzungspolitik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach dem Beginn des Westfeldzugs am 10. Mai 1940 legte der Staatssekretär im Reichsministerium des Innern, Wilhelm Stuckart, eine im Auftrag Adolf Hitlers erstellte Denkschrift zur künftigen deutschen Westgrenze vor. Sie enthielt die wesentlichen Argumentationsschemata des „Westraum“-Diskurses und enthielt genaue Pläne zur „Aussiedlung“ der frankophonen Bevölkerung aus dem Nordosten und Osten Frankreichs. Die vorgeschlagene neue Westgrenze entsprach im Wesentlichen der im alldeutschen und völkischen Diskurs angenommenen Ausdehnung des „Westraumes“. Weitere Denkschriften etwa der Reichsstelle für Raumforschung zielten in eine ähnliche Richtung. Allerdings wurde die Neufestlegung der Grenze nicht unmittelbar, sondern in Form einer teilweisen Abriegelung des künftigen Okkupationsgebietes realisiert.[15] Konkret wurde ein deutscher Gau Westmark imaginiert und erste Schritte dahin wurden unternommen.

Primärliteratur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Paul Ritterbusch, Carl Krauch, Hermann Roloff[AM 1] u. a. Hrsg.: Raumforschung und Raumordnung. Monatsschrift der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung. 6. Jg. Heft 6/7, Vowinckel-Verlag, Heidelberg 1942. Darin: Hermann Roloff: Planung in den Niederlanden (20 S.) und Werner Schürmann: Belgien. Land und Landesplanung (10 S.)
  • Arthur Seyß-Inquart (Hrsg.): Westland. Blätter für Landschaft, Geschichte und Kultur an Rhein, Mosel, Maas und Schelde. 2. Folge. Volk und Reich, Amsterdam z. B. 1943. Beiträge von Franz Petri, Wilhelm Lotz, Max Hildebert Boehm u. a.
  • Friedrich Heiß (Hrsg.): Deutschland und der Westraum. In Zusammenarbeit mit Günter Lohse und Waldemar Wucher. Volk und Reich, Berlin 1941. Mit Bildern.[AM 2]
  • „Westland-Serie“, 10 Folgen. Westland Verlag, Amsterdam 1942–1943 (in Niederländisch):
    1. De oorsprong van ons volk. 5000 jaar Noordsch-Germaansche kultuurontwikkeling
    2. Joodsche wereld-politiek
    3. Volksche cultureele opbouw
    4. Wachten achter Roosevelt
    5. De tegenstanders der rassenidee en hun strijdmethode
    6. De poort van Rusland opengebroken! 25 jaar Sovjet- en Jodenheerschappij. 25 jaar verschrikking en ellende
    7. De uitlezing in den erfstroom van het volk Gedachten over opvoeden en leiden
    8. Finlands heldenstrijd. De titanenstrijd van een klein land voor het groote Europa
    9. Kort overzicht der rassenkunde steunende op de „Rassenkunde des Deutschen Volkes“

Anmerkungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Roloff war einer der aktivsten „Westforscher“ im Nationalsozialismus. In einem Aufsatz von 1943 in der Zeitschrift Westland (Nr. 1, Jg. 1, S. 32–37) stellte er die Trockenlegung der Zuidersee und die daraus entstehenden Polder als ein Modell für deutsche Siedlungs-Vorhaben im Ostraum, dem eroberten Osten Europas, dar. Er arbeitete als Besatzer in den Niederlanden an Plänen der Reichsstelle für Raumordnung für dieses Land, insbesondere zur Gründung von Kolonien aus Niederländern, die ja als Arier galten, in den deutsch eroberten Gebieten im Osten.Siehe Faludi, S. 248. Nach einer wissenschaftlichen Nachkriegs-Karriere an der TH Aachen schuf Roloff sich ab 1953 eine Machtbasis im Bundesministerium für Wohnungsbau
  2. Inhalt: Hans Schäfer: Der Westen und seine Landschaften; Adolf Helbok: Probleme der deutschen und französischen Vorgeschichte; Friedrich Grimm: Das Dogma der französischen Expansionspolitik; Ernst Anrich: Frankreichs Vormarsch nach Osten; Karl Mehrmann: Burgund; Franz Pauser: Die Schweiz; Robert Ernst: Elsass und Lothringen; Franz Steinbach: Luxemburg; Martin Spahn: Das Reich, der Maas-Mosel-Rhein-Raum und die Niederlande; Kurt von Raumer: Englands Rheinpolitik; Rudolf Craemer: Deutschland und die Westgrenze seit 1648; Hermann Raschhofer: Grundlage und Ende des französischen Primats; Karl von Loesch: Frankreichs volkliche Schwäche; Max Clauss: Der Festlandsdegen zerbrach. Betrug und Selbstbetrug der Entente cordiale; Wolfgang Treue: Deutscher und französischer Geist; Wilhelm Lotz: Germanische Baukunst im Westen; Hans Müller: Die niederländische Malerei; Josef Nadler: Dichtung und Geistesleben in der Schweiz; Emil Kohl: Geologie und Bodenschätze; Walter Geißler: Die Wirtschaftsräume des mitteleuropäischen Westens; derselbe: Verkehrsrichtungen und Verkehrsbeziehungen. Im Bild: Farbige französische Besatzungstruppen am Rhein; Adolf Hitler am Westwall, Zitat: „Der Führer, der den Plan des Westwalls in genialer Voraussicht der kommenden Ereignisse selbst entwarf, hat auch immer wieder den Fortgang der Arbeiten an Ort und Stelle verfolgt, freundlich begrüßt von seinen Arbeitern, die das Werk in der befohlenen Zeit vollendeten.“

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Thomas Müller: Imaginierter Westen. Das Konzept des „deutschen Westraums“ zwischen politischer Romantik und Nationalsozialismus. Transcript, Bielefeld 2009, ISBN 978-3-8376-1112-0.
  • Peter Schöttler: „Eine Art ‚Generalplan West‘“. Die Stuckart-Denkschrift vom 14. Juni 1940 und die Planungen für eine neue deutsch-französische Grenze im Zweiten Weltkrieg, in: Sozial.Geschichte 18, 2003, S. 83–130.
  • Thomas Müller: „Außenarbeit im Westen“. Eine Denkschrift des „Sicherheitsdienstes“ der SS über die deutsche Infiltrationspolitik in den „Benelux“-Staaten vor dem Zweiten Weltkrieg. Geschichte im Westen, GiW, Jg. 18, Rheinland-Verlag, Köln 2003 ISSN 0930-3286, S. 82–105. (Volltext)

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Wolfgang Freund/Thomas Müller: „Westforschung“, in: Info Haar u. Michael Fahlbusch (Hrsg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Saur, München 2008, S. 751–760.
  2. a b Arnold Hillen Ziegfeld: Der Kampf ums Westland, eine Rückschau auf drei Jahre Westarbeit von ‚Volk und Reich‘, in: Volk und Reich 5, 1929, S. 608–776.
  3. Karl Haushofer: „Rheinische Geopolitik“, in: ders. (Hrsg.): Der Rhein. Sein Lebensraum, sein Schicksal. Bd. 1, Buch 1/I. K. Vowinckel, Berlin-Grunewald 1928, S. 1–18.
  4. Franz Kerber (Hrsg.): Burgund. Das Land zwischen Rhein und Rhone. Hünenburg-Verlag, Straßburg 1942.
  5. Johannes Wütschke: „Ein geopolitisches Grundgesetz in der Entwicklung der französischen Politik“, in: Zeitschrift für Geopolitik 1 (1924), S. 271–276.
  6. Paul Wentzcke: Rheinkampf. 2 Bde., K. Vowinckel, Berlin-Grunewald 1925.
  7. Franz Petri: Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich. Die fränkische Landnahme in Frankreich und den Niederlanden und die Bildung der germanisch-romanischen Sprachgrenze. Röhrscheid, Bonn 1937.
  8. Franz Steinbach: Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte. G. Fischer, Jena 1926.
  9. Franz Petri: Die geschichtliche Stellung der germanisch-romanischen Grenzlande im Westen, in: Westland, Jg. 1, H. 2, 1943, S. 66–71.
  10. Deutscher Schutzbund (Hrsg.): Die achte Bundestagung des Deutschen Schutzbundes, Regensburg 1927. Deutscher Schutzbund-Verlag, Berlin 1927, S. 8 f.
  11. Gjalt R. Zondergeld: „‚Nach Westen wollen wir fahren!‘. Die Zeitschrift ‚Westland‘ als Treffpunkt der ‚Westraumforscher‘“, in: Burkhard Dietz, Helmut Gabel, Ulrich Tiedau (Hrsg.): Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum 1919 - 1960. Waxmann, Münster 2003, S. 655–671. In google books online. Primärquelle: Zeitschrift "Westland", Saarbrücken 29. Sept. 1934, enthält: "Die Geschäfte des Herrn Röchling"; "Schicksalsfragen der Saarwirtschaft"
  12. Heinrich von Treitschke: „Was fordern wir von Frankreich?“ in: Preußische Jahrbücher 26 (1870), S. 367–409.
  13. Zeitgenössische kritische Auseinandersetzung: Martin Hobohm, Paul Rohrbach: Die Alldeutschen. Engelmann, Berlin 1919
  14. Heinrich Claß: „Denkschrift betreffend die national-, wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele des deutschen Volkes im gegenwärtigen Kriege“, Sept. 1914, in: Reinhard Opitz (Hrsg.): Europastrateigien des deutschen Kapitals. Pahl-Rugenstein, Köln 1977, S. 226–266.
  15. Peter Schöttler: „Eine Art ‚Generalplan West‘. Die Stuckart-Denkschrift vom 14. Juni 1940 und die Planungen für eine neue deutsch-französische Grenze im Zweiten Weltkrieg“, in: Sozial.Geschichte 18 (2003), S. 83–130.