Internetabhängigkeit

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Bei einer Internetabhängigkeit handelt sich um eine substanzungebundene Abhängigkeit, die in dem seit 2022 gültigen Diagnosekatalog der WHO (ICD-11) unter der Bezeichnung „Pathologisches Spielen, vorwiegend online“ als Krankheit aufgenommen wurde.[1][2] In der Klassifikation der ICD-10 wurde Internetabhängigkeit noch als Störung der Impulskontrolle erfasst (F63 Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle).[3] Die Begriffe Internetabhängigkeit, exzessives Onlineverhalten (EOV), Internetsucht und Onlinesucht werden synonym verwendet.[4]

Das Centre for On-Line Addiction benennt fünf spezifische Subkategorien der Internetabhängigkeit:[5]

  • Cybersexual addiction beschreibt die Abhängigkeit von pornographischem Material und sexueller Interaktion im Internet.
  • Cyberrelationship addiction ist die Abhängigkeit von virtuellen Freundschaften, welche reale Beziehungen zu Freunden und der Familie verdrängen oder ersetzen.
  • Net-compulsion umfasst alle obsessiven Internetaktivitäten einschließlich Glücksspiel, Einkaufen und Auktionen.
  • Information overload ist das obsessive Recherchieren und Surfen ohne erkennbaren Grund.
  • Computer addiction (computer game playing) bedeutet exzessives Computerspielen.

Symptome[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Internetabhängigkeit verursacht die Vernachlässigung üblicher Lebensgewohnheiten, sozialer Kontakte, der persönlichen Versorgung und Körperhygiene, da ein Großteil der zur Verfügung stehenden Zeit im Internet verbracht wird. Im Extremfall kann die virtuelle Welt zu einem vermeintlich vollständigen Ersatz für sonstige reale soziale Kontakte werden und damit zu sozialer Isolation führen. Nach außen wird die Sucht verheimlicht oder man will sie nicht wahrhaben, verharmlost sein Verhalten. Entzugserscheinungen sind schlechte Laune, Nervosität, Reizbarkeit, Schlafstörungen oder Schweißausbrüche.

Diagnostik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zur Diagnose einer Internetabhängigkeit gibt es verschiedene wissenschaftliche Tests.[6][7] Hahn und Jerusalem definieren Internetabhängigkeit als eine stoffungebundene Abhängigkeit, die dann als vorhanden gilt, wenn:[8]

  • über längere Zeitspannen der größte Teil des Tageszeitbudgets zur Internetnutzung verausgabt wird, hierzu zählen auch verhaltensverwandte Aktivitäten wie beispielsweise Optimierungsarbeiten am Computer (Einengung des Verhaltensraums),
  • die Person die Kontrolle über ihre Internetnutzung weitgehend verloren hat bzw. Versuche, das Nutzungsausmaß zu reduzieren oder die Nutzung zu unterbrechen, erfolglos bleiben oder erst gar nicht unternommen werden – obwohl das Bewusstsein für dadurch verursachte persönliche oder soziale Probleme vorhanden ist (Kontrollverlust),
  • im zeitlichen Verlauf eine Toleranzentwicklung zu beobachten ist, also die Verhaltensdosis zur Erreichung der angezielten positiven Stimmungslage gesteigert werden musste,
  • als Folge zeitweiliger, längerer Unterbrechung der Internetnutzung Entzugserscheinungen auftreten als Beeinträchtigungen psychischer Befindlichkeit wie Unruhe, Nervosität, Unzufriedenheit, Gereiztheit und Aggressivität,
  • psychisches Verlangen nach der Internetnutzung besteht (craving),
  • wegen der Internetaktivitäten negative soziale Konsequenzen in den Bereichen Arbeit und Leistung sowie soziale Beziehungen eintreten, wie zum Beispiel Ärger mit der Familie, Freunden oder dem Arbeitgeber.

Häufig behilft man sich bei einer Diagnose mit einer Störung der Impulskontrolle. Internetabhängigkeit gilt gemeinsam mit dem pathologischen Glücksspiel als Exot unter den Impulskontrollstörungen, weil beide nicht etwa durch das zwanghafte Beenden unangenehmer Spannungszustände beschrieben werden können, sondern durch das Entgleiten der Kontrolle über ein ursprünglich primär als Vergnügen erlebtes Verhalten.[9] In Deutschland dominieren zwei konkurrierende Störungsmodelle: das Verhaltenssuchtmodell und das Modell einer Beziehungs- und Verhaltensstörung.[10] Einige Wissenschaftler wie zum Beispiel der Psychiater Bert te Wildt sehen die Internetabhängigkeit nicht als eigenständige Krankheit an, sondern als eine Verschiebung von nicht-substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen ins Netz.[11] Die Diskussionen zwischen den unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen dauern an.

Verbreitung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestags veranstaltete federführend im April 2008 eine Öffentliche Anhörung von Sachverständigen zum Thema Onlinesucht. Der Drogenbericht der Bundesregierung 2009[12] widmete Onlinesucht erstmals ein eigenes Kapitel und kam zu dem Resultat: „Aus gesundheitlicher Sicht hat die suchtartige Nutzung des Internets an Gewicht gewonnen. Vor allem männliche Jugendliche und junge Erwachsene zeigen häufiger ein sich verlierendes, entgleitendes und in Extremfällen psychopathologisch auffälliges Online-Nutzungsverhalten insbesondere in Bezug auf Online-Spielewelten“.[13][14]

Einer im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums durchgeführten, am 25. September 2011 in Berlin vorgelegten Studie[15] zufolge sind in Deutschland rund 560.000 Menschen vom Internet abhängig. So sei bei 1 % der 14- bis 64-Jährigen eine Internetabhängigkeit wahrscheinlich, bei 4,6 % läge eine „problematische Internetnutzung“ vor. Der Anteil der Internet-Süchtigen liegt bei den Jugendlichen höher als bei den Älteren. Laut Studie sollen 2,4 % der 14- bis 24-Jährigen internetabhängig sein. 13 % gelten als „problematisch in ihrer Internetnutzung“. In der Altersgruppe der 14- bis 16-Jährigen sind Mädchen mit 4,9 % stärker gefährdet als Jungen, die zu 3,1 % von der Online-Nutzung abhängig sind. In der Gruppe der bis 24-Jährigen ist das Verhältnis in etwa gleich. Insgesamt sollen Männer in der Regel häufiger unter Internetsucht leiden als Frauen. Weibliche Nutzer konzentrieren sich dabei mit 77 % stärker auf soziale Netzwerke wie Facebook, junge Männer auf Computerspiele.[16]

Internetsucht und andere psychische Erkrankungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Jugendliche, die bereits an einer anderen psychischen Erkrankung leiden, sind statistisch gesehen anfälliger für Internetabhängigkeit als junge Menschen, die nicht in psychiatrischer Behandlung sind. Darüber hinaus zeigen Studien eine Verbindung zwischen krankhafter Internetnutzung und Suizidgefährdung sowie Probleme in der Identitätsfindung unter Jugendlichen.[17]

Als besonders gefährdet gelten depressive und einzelgängerisch veranlagte Menschen. Wenn der Druck des Alltags sehr groß wird, kann die virtuelle Welt eine Fluchtmöglichkeit bieten, wobei alltägliche Aufgaben und gesellschaftliche Anforderungen vernachlässigt werden. Als Triebfeder gelten die Verfolgung bestimmter Aufgaben, Realitätsflucht und das Experimentieren mit der Identität sowie die Kombination aus Befriedigung des sogenannten Spieltriebs und des Kommunikationsbedürfnisses. Die Simulation gesellschaftlichen Aufstiegs kann ebenso eine Rolle spielen wie das Gefühl von Omnipräsenz. Depressive Menschen finden virtuelle Entlastung, narzisstische Persönlichkeiten befriedigen ihren Machtanspruch, Jugendliche haben neue Möglichkeiten, ihre Grenzen auszuloten, und die vermeintliche Möglichkeit, ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Bei Teilnehmern an Vielspieler-Rollenspielen (sogenannte MMORPGs) und Browsergames kann es dazu kommen, dass sie ihre Spielerfolge in die Realität mitnehmen, um sich gegen andere Menschen zu behaupten. Oft sind Spielerfolge der Ersatz für Erfolge im echten Leben und werden von den Betroffenen als wichtiger erachtet, als sich der eigenen Realität zu widmen.

Therapie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Therapien sind inzwischen in nahezu jeder Einrichtung möglich, welche sich mit Sucht und Abhängigkeit beschäftigt. Die Therapie kann stationär, teilstationär oder auch ambulant erfolgen. Dabei stehen verschiedene therapeutische Maßnahmen zur Verfügung:

  • stationäre Therapie
  • Adaption
  • teilstationäre Unterbringung
  • Tagesklinik
  • Einzelgespräche
  • indikative Gruppen
  • Selbsthilfegruppen

Das spezielle Problem der Therapie gegen die Internetabhängigkeit ist dabei, dass das gewöhnliche Therapieziel einer stofflichen Abhängigkeit, nämlich die möglichst vollständige Abstinenz, nicht erreichbar ist. Computer und andere elektronische Medien gehören zum alltäglichen Leben. Im Rahmen einer Therapie können die Betroffenen jedoch einen bewussteren sowie gesellschaftlich tolerierten und angepassten Umgang mit dem Medium Computer und der Internetnutzung lernen.

Dabei müssen häufig auch Folgeprobleme behandelt werden. So beinhaltet eine Therapie wie bei anderen Verhaltenstherapien Anreize, das Interesse der Betroffenen an Sport und anderen Freizeitgestaltungsmöglichkeiten zu wecken. Zudem müssen bei jugendlichen Betroffenen in der Regel die jeweiligen Eltern einbezogen werden, da gegebenenfalls das Vertrauen zwischen Kindern und Eltern gestört ist und neu aufgebaut werden muss.

Bei (Ehe-)Partnern ist unter Umständen eine Eheberatung indiziert, um gemeinsam Strategien zur Abhängigkeitsbewältigung wie auch zur Rettung der Beziehung zu finden.

Allgemein anerkannt ist die hohe Bedeutung von Selbsthilfegruppen für die Therapie. Viele Therapeuten sind inzwischen der Überzeugung, dass ein nachhaltiger Therapieerfolg durch den Besuch von Selbsthilfegruppen überhaupt erst möglich ist. Dabei ist der Besuch einer Selbsthilfegruppe nicht an die Teilnahme an einer stationären oder ambulanten Therapie gebunden. Im Bereich der Computerspiel-, Online- und Medienabhängigkeit existieren neben diversen lokalen Initiativen in Großstädten[18][19], auch mittlerweile drei internationale Selbsthilfegruppen[20][21][22], welche ähnliche Genesungswerkzeuge wie an andere 12 Schritte-Programme anwenden. Neben zahlreichen Online-Gruppen gibt es dabei auch zunehmend mehr persönliche Treffen[23]. Auch wegen der Parallelen oder Suchtverlagerungen zur Glücksspielsucht, Arbeitssucht und Sexsucht nehmen Betroffene teilweise an mehreren Gruppen teil.

Studien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise und Anmerkungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. WHO erklärt Online-Spielsucht offiziell zur Krankheit. spiegel.de, 14. Juni 2018, abgerufen am 9. Mai 2023
  2. 6C51.0 Pathologisches Spielen, vorwiegend online. In: Internationale Klassifikation der Krankheiten 11. Revision (Deutsche Version, Entwurfsfassung). Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, 2023, abgerufen am 7. Mai 2023 (Version 2023-01).
  3. F63.-Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle, ICD-Code, abgerufen am 2. März 2021
  4. Sebastian Wachs, Karsten D. Wolf: Zusammenhänge zwischen deviantem und risikoreichem Onlineverhalten 12-bis 13-jähriger Kinder aus drei Ländern. In: Jahrbuch Medienpädagogik, 12. Springer Fachmedien, Wiesbaden 2015, S. 71–97.
  5. Vgl. den Forschungsüberblick bei Ulrike Braun: Exzessive Internetnutzung Jugendlicher im familialen Kontext. Analysen zu Sozialschicht, Familienklima und elterlichem Erwerbsstatus. Springer Fachmedien Wiesbaden 2014, S. 15
  6. Quellen: Meerkerk, G. J., Van Den Eijnden, R., Vermulst, A. A., & Garretsen, H. F. L. (2009). The Compulsive Internet Use Scale (CIUS): Some Psychometric Properties. Cyberpsychology & Behavior, 12(1), 1-6.
  7. Online-Selbsttest – Bin ich Internetsüchtig? 30. September 2023, abgerufen am 5. Mai 2024 (deutsch).
  8. Hahn, André und Jerusalem, Matthias (2001): Internetsucht. Jugendliche gefangen im Netz. In: Raithel, Jürgen (Hrsg.): Risikoverhaltensweisen Jugendlicher. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2001, S. 279–293
  9. Oliver Bilke-Hentsch, Klaus Wölfling, Anil Batra (Hrsg.): Praxisbuch Verhaltenssucht: Symptomatik, Diagnostik und Therapie bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 2014, S. 110
  10. Oliver Bilke-Hentsch, Klaus Wölfling, Anil Batra (Hrsg.): Praxisbuch Verhaltenssucht: Symptomatik, Diagnostik und Therapie bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 2014, S. 111–112.
  11. Bert te Wildt: Digital Junkies. Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder. Droemer eBook, München 2015, Kap. 2.4
  12. Drogen- und Suchtbericht. (Memento vom 13. Dezember 2015 im Internet Archive; PDF; 1,5 MB) Bundesministerium für Gesundheit, Mai 2009; abgerufen am 13. Juli 2010
  13. Drogen- und Suchtbericht 2009 veröffentlicht, Bundesministerium für Gesundheit, Pressemitteilung, 4. Mai 2009
  14. Internet und Computerspiele – wann beginnt die Sucht? Jahrestagung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, 3. Juli 2009
  15. Prävalenz der Internetabhängigkeit, Bericht an das Bundesministerium für Gesundheit, 2011 (Memento vom 29. September 2011 im Internet Archive) (PDF; 0,3 MB)
  16. Internetsucht auf Niveau von Cannabis-Konsum. In: Berliner Morgenpost, 26. September 2011. Vgl. auch Mehr Süchtige nach Internet als nach Glücksspielen. (Memento vom 1. Oktober 2011 im Internet Archive) MDR, 26. September 2011.
  17. Martin Fuchs, David Riedl, Astrid Bock, Gerhard Rumpold & Kathrin Sevecke: Pathological Internet Use—An Important Comorbidity in Child and Adolescent Psychiatry: Prevalence and Correlation Patterns in a Naturalistic Sample of Adolescent Inpatients. In: BioMed Research International. Nr. 2018, S. 8.
  18. Selbsthilfe bei Mediensucht | Aktiv gegen Mediensucht e. V. 20. September 2022, abgerufen am 3. Dezember 2023 (deutsch).
  19. Sigmund Freud Privatuniversität GmbH: Selbsthilfegruppe für problematischen Medienkonsum/Mediensucht. Abgerufen am 3. Dezember 2023 (deutsch).
  20. Media Addicts Anonymous. Abgerufen am 3. Dezember 2023 (englisch).
  21. Internet and Technology Addicts Anonymous | Receive Free Help & Support. Abgerufen am 3. Dezember 2023 (amerikanisches Englisch).
  22. Gaming Addicts Anonymous: GAA. Abgerufen am 3. Dezember 2023 (amerikanisches Englisch).
  23. In-Person Meetings. Abgerufen am 3. Dezember 2023 (amerikanisches Englisch).