Archimedes-Palimpsest

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Eine typische Seite aus dem Archimedes-Palimpsest. Der Text des Gebetbuchs verläuft von oben nach unten, das ursprüngliche Archimedes-Manuskript als blasser Text von links nach rechts.
Bericht über die Entdeckung in der New York Times vom 16. Juli 1907

Der Archimdes-Palimpsest ist ein pergamentener Palimpsest-Kodex, der ursprünglich eine aus dem 10. Jahrhundert stammende byzantinisch-griechische Kopie einer ansonsten nicht erhaltenen Arbeit von Archimedes und anderen Autoren war. Er wurde von Mönchen im 13. Jahrhundert mit einem christlichen Text überschrieben.[1] Die Löschung war jedoch unvollständig, so dass Archimedes’ Text nach wissenschaftlichen Untersuchungen, die von 1998 bis 2008 unter Verwendung von Methoden der digitalen Bildverarbeitung mit Ultraviolett-, Infrarot-, sichtbarem und Streiflicht sowie Röntgenstrahlen durchgeführt wurden, lesbar gemacht werden konnte.[2][3]

Der Palimpsest ist die einzige bekannte Kopie des Stomachion und der Methodenlehre und enthält die einzige bekannte griechische Kopie von Über schwimmende Körper.[4]

Geschichte

Antike

Archimedes lebte im 3. Jahrhundert v. Chr. und schrieb in Dorischem Griechisch. Seine Werke wurden um 530 erstmals von Isidor von Milet, dem Architekten der Hagia Sophia, in der byzantinisches Griechisch sprechenden Hauptstadt Konstantinopel zusammengestellt.[5]

Eine Abschrift dieser Arbeiten wurde um 950 durch einen anonymen Schreiber angefertigt, wiederum im Byzantinischen Reich. In dieser Zeit blühte das Studium der Schriften des Archimedes in Konstantinopel in einer von dem Mathematiker, Ingenieur und ehemaligen Erzbischof von Thessaloniki, Leon der Mathematiker, einem Vetter des Patriarchen gegründeten Schule.[6] Dieses mittelalterliche byzantinische Manuskript gelangte einige Zeit nach der Plünderung Konstantinopels während des Vierten Kreuzzugs im Jahr 1204 nach Jerusalem.[6] Dort wurde der originale Archimedes-Kodex 1229 auseinander genommen, abgekratzt und gewaschen, zusammen mit mindestens sechs weiteren Handschriften, darunter Werke von Hypereides. Die Blätter des Pergaments wurden in der Mitte gefaltet und mit einem christlichen liturgischen Text von 177 Seiten neu beschrieben; aus den älteren Blättern wurden so doppelt so viele neue Blätter des Gebetbuchs gefaltet.

Neuzeit

Der Theologe Konstantin von Tischendorf besuchte Istanbul in den 1840er Jahren. Fasziniert von der griechischen Mathematik, die auf dem Palimpsest, den er in einer griechisch-orthodoxen Bibliothek fand, sichtbar war, brachte er eine Seite davon nach Europa. Diese Seite befindet sich heute in der Bibliothek der Universität Cambridge. 1899 stellte der griechische Forscher Athanasios Papadopoulos-Kerameus einen Katalog mit Manuskripten der Bibliothek zusammen, wobei er eine Transkription einiger der teilweise sichtbaren Linien des alten Textes mit aufnahm.[6] Als der Mathematikhistoriker Johan Heiberg die Zeilen las, stellte er sofort fest, dass sie von Archimedes stammten. Er studierte 1906 das Palimpsest in Istanbul, und es bestätigte sich ihm, dass es verloren geglaubte Werke von Archimedes enthielt. Heiberg wurde gestattet, vorsichtig Fotografien der Seiten des Palimpsests zu machen, aus denen er Transkriptionen fertigte, die er zwischen 1910 und 1915 in einer Archimedes-Gesamtausgabe veröffentlichte. Thomas Heath übersetzte die Methodenlehre ins Englische und publizierte sie 1912 in einem Supplement zu seiner Archimedes-Ausgabe von 1897.[7] Bis dahin war er unter Mathematikern, Physiker und Historikern kaum bekannt geworden.

Noch 1920 befand sich das Manuskript in der Bibliothek des Griechischen Patriarchats von Jerusalem (Metochion des Heiligen Grabes) in Istanbul.[8] Kurz danach, während des Griechisch-Türkischen Kriegs (1919–1922) und der Vertreibung der griechisch sprechenden Bevölkerung aus der Türkei, verschwand der Palimpsest. Irgendwann zwischen 1923 und 1930 wurde er von Marie Louis Sirieix erworben, einem „Geschäftsmann und Orientreisenden, der in Paris lebte“.[8] Sirieix behauptete, den Palimpsest von einem Mönch gekauft zu haben (der nicht in jedem Fall das Recht zu dieser Transaktion hatte), konnte aber kein Dokument zu diesem Verkauf (Vertrag, Quittung) vorlegen. Der Palimpsest wurde über Jahre hinweg in Sirieix’ Keller gelagert, wo er aufgrund von Feuchtigkeit und Schimmel Schaden nahm.

Darüber hinaus fügte ein Fälscher nach dem Verschwinden des Palimpsests aus der Bibliothek des griechisch-orthodoxen Patriarchen Kopien von mittelalterlichen religiösen Porträts in Blattgold auf vier Seiten in das Buch ein, um den Wert zu erhöhen, wodurch der Text weiter beschädigt wurde.[9] Diese Blattgold-Porträts löschten den darunter liegenden Text fast aus, so dass später Röntgenfluoreszenz-Verfahren an der Stanford University erforderlich waren, um sie wenigstens so wieder sichtbar zu machen.[10] Sirieix starb 1956, und seine Tochter versuchte ab 1970, das Manuskript unter der Hand zu verkaufen. Da ihr dies nicht gelang, wandte sie sich wegen einer Versteigerung an Christie’s, wobei sie eine juristische Auseinandersetzung wegen der Eigentumsverhältnisse in Kauf nahm.[8] Tatsächlich wurde das Eigentum an dem Palimpsest unmittelbar vor der Versteigerung vor einem Bundesgericht in New York im Fall Greek Orthodox Patriarchate of Jerusalem v. Christie's, Inc angefochten. Der Kläger trug vor, der Palimpsest sei aus seiner Bibliothek in den 1920er Jahren gestohlen worden. Richter Kimba Wood entschied jedoch zugunsten Christie’s aufgrund von fahrlässigem Verzug (d. h. der Kläger hatte seit den 1920er Jahren den Diebstahl nicht angezeigt), und der Palimpsest ging am 29. Oktober 1998 für 2 Millionen US-Dollar (zzgl. Provision) an einen anonymen Käufer. Verlierer bei der Auktion war die griechische Regierung, deren Kulturminister Evangelos Venizelos zur Auktion ein Konsortium griechischer Privatleute organisiert hatte.

Der Londoner Antiquar Simon Finch, der den anonymen Käufer vertrat, gab an, bei dem Käufer handele es sich um einen amerikanischen Privatmann aus der “high-tech industry”, allerdings nicht um Bill Gates.[11] Die Aussage verweist fast sicher auf den Internet-Pionier Rick Adams, nachdem der Blogger Michael Shermer angegeben hatte, ihn auf einer Geburtstagsparty für James Randi im Haus eines Sammlers in Falls Church, Virginia gesehen zu haben, wo Adams (ein Sponsor und Schatzmeister der James Randi Educational Foundation) lebt.[12]

Digitalisierung und Bildbearbeitung

Eine Seite aus dem Palimpsest nach der Bildbearbeitung; der Text von Archimedes ist hier deutlich zu erkennen

Am 19. Januar 1999 brachte der anonyme Besitzer des Palimpsests den Kodex ins Walters Art Museum in Baltimore und stellte ihn der Wissenschaft zur Verfügung. Somit konnte der Palimpsest in den nächsten zehn Jahren (1999–2008) nach dem Schimmelbefall konserviert und intensiv untersucht werden. Geleitet wurde das Projekt von William Noel, dem Manuskript-Kurator des Walters Art Museum, die Konservierungsarbeiten führte Abigail Quandt durch, die Handschriften-Konservatorin des Museums. Dabei stellte sich schnell heraus, dass von den 177 durchnummerierten Folia drei fehlten, d.h. 174 vorhanden waren.

Die wichtigsten Projektmitarbeiter aus dem Bereich der bildgebenden Verfahren waren (in alphabetischer Reihenfolge):

Sie durchleuchteten bis 2006 den Palimpsest in verschiedenen Spektralbändern (Ultraviolett, Infrarot und sichtbares Licht), um möglichst viel vom alten Text sichtbar zu machen und die Ergebnisse digital zu verarbeiten. 2007 wurden die Arbeiten mit 12 Spektralbändern wiederholt, zusätzlich mit Streiflicht: UV: 365 nm; Sichtbares Licht: 445, 470, 505, 530, 570, 617 und 625 nm; Infrarot: 700, 735 und 870 nm; Streiflicht: 910 and 470 nm. Auch die Fotografien Heibergs wurden digitalisiert. Reviel Netz von der Stanford University und Nigel Wilson erzeugten eine diplomatische Transkription des Textes, mit dem sie Lücken in Heibergs Ergebnissen füllen konnten.[13]

Irgendwann nach 1938 fälschte einer der Besitzer des Manuskripts vier religiöse Bilder im byzantinischen Stil und fügte sie ins Manuskript ein, um dessen Wert zu erhöhen. Dies schien den darunter liegenden alten Text unwiderruflich vernichtet zu haben. Im Mai 2005 begannen Uwe Bergmann und Bob Morton am Stanford Linear Accelerator Center in Menlo Park hochfokussierte Röntgenstrahlen einzusetzen, um die Teile des 174-seitigen Textes zu entziffern, die bislang nicht geklärt waren.

Im April 2007 wurde berichtet, dass im Palimpsest ein neuer Text gefunden wurde, ein Aristoteles-Kommentar, der Alexander von Aphrodisias zugeschrieben wird. Der Großteil dieses Textes wurde durch Anwendung der Hauptkomponentenanalyse auf die drei Farbbänder (rot, grün, blau) fluoreszierenden Lichts, das von UV-Beleuchtung erzeugt wurde, sichtbar gemacht.

Am 28. Oktober 2008 wurde das gesamte Datenmaterial einschließlich Bildern und Transkriptionen unter Creative Commons ins Netz gestellt[14] sowie in der ursprünglichen Reihenfolge als Google Book geposted.[15] Ende 2011 fand im Walters Art Museum die Ausstellung Lost and Found: The Secrets of Archimedes statt.[16] 2015 wurden Teile des Textes von Schweizer Wissenschaftlern in DNA codiert, um dessen Erhaltung sicherzustellen.[17]

Inhalt

Der Palimpsest enthält u. a. folgende Werke[4]

  • Über das Gleichgewicht ebener Flächen
  • Über Spiralen
  • Kreismessung
  • Über Kugel und Zylinder
  • Über schwimmende Körper
  • Über die Methode
  • Stomachion
  • Reden des Hypereides
  • Kommentar von Alexander von Aphrodisias zu Aristoteles’ Kategorien

Anmerkungen

  1. Uwe Bergmann: X-Ray Fluorescence Imaging of the Archimedes Palimpsest: A Technical Summary. (PDF) Abgerufen am 29. September 2013.
  2. Reading Between the Lines, Smithsonian Magazine. Abgerufen am 31. März 2009.
  3. archimedespalimpsest. Archiviert vom Original am 21. Februar 2009;.
  4. a b Rebecca Morelle: Text Reveals More Ancient Secrets In: BBC News, 26. April 2007. Abgerufen am 31. März 2009 
  5. Editions of Archimedes' Work. Brown University Library, archiviert vom Original am 8. August 2007; abgerufen am 23. Juli 2007.
  6. a b c The Archimedes Palimpsest Project: The History of the Archimedes Manuscript.
  7. The Method of Archimedes, Recently Discovered by Heiberg: A Supplement to the Works of Archimedes, 1897 (Cambridge: At the University Press, 1912), by Archimedes, contrib. by J. L. Heiberg online
  8. a b c Matthias Schulz: Revolutionary? Authentic? Stolen? The Story of the Archimedes Manuscript. In: Der Spiegel. 22. Juni 2007;.
  9. NOVA - Official Website - Inside the Archimedes Palimpsest.
  10. Archimedes Palimpsest - Press Release.
  11. Alan Hirshfield: Eureka Man. Walker & Co, NY, 2009, ISBN 978-0-8027-1979-9, S. 187 (google.com [abgerufen am 29. September 2013]).
  12. Shermer, Michael: Touching History. SkepticBlog.org, 12. Oktober 2010, abgerufen am 29. Dezember 2014.
  13. Reviel Netz, William Noel and Nigel Wilson. The Archimedes Palimpsest, Vol. 1. Catalogue and Commentary; Vol. 2. Images and Transcriptions, Cambridge University press, 2011.
  14. The Digital Archimedes Palimpsest Released, Dot Porter, The Stoa Consortium, 29. Oktober 2008. Retrieved 29. Dezember 2013.
  15. Archimedes Palimpsest. (google.com [abgerufen am 31. März 2009]).
  16. Eureka! 1,000-year-old text by Greek maths genius Archimedes goes on display Daily Mail, 18. Oktober 2011
  17. Glassed-in DNA makes the ultimate time capsule. In: New Scientist. 15. Februar 2015;.

Weitere Quellen

Weblinks