Deliberative Demokratie

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Die deliberative Demokratie betont öffentliche Diskurse, öffentliche Beratung, die Teilhabe der Bürger an öffentlicher Kommunikation und das Zusammenwirken von Deliberation und Entscheidungsprozess. Der Begriff deliberative Demokratie bezeichnet sowohl demokratietheoretische Konzepte, in denen die öffentliche Beratung zentral ist, als auch deren praktische Umsetzung. Wesentliches Kennzeichen einer deliberativen Demokratie ist der öffentliche Diskurs über alle politischen Themen, der auch als Deliberation bezeichnet wird. Als inputorientiertes Demokratiemodell, das der politischen Willensbildung der Bürger großes Gewicht beimisst, wird die deliberative Demokratie von Manfred G. Schmidt zusammen mit der partizipatorischen Demokratie den beteiligungszentrierten Demokratietheorien zugeordnet.[1] Andererseits gibt es auch Bestrebungen, partizipatorische und deliberative Demokratie voneinander abzugrenzen.[2]

Der Begriff deliberative Demokratie wurde von Joseph M. Bessette in dem 1980 erschienenen Buch Deliberative Democracy: The Majority Principle in Republican Government geprägt und in dem 1994 erschienenen Buch The Mild Voice of Reason weiter ausgearbeitet. Wichtige Theoretiker deliberativer Demokratie sind außerdem Jürgen Habermas und John Rawls. Weiterhin haben u. a. Seyla Benhabib, James Bohman, Joshua Cohen, Jon Elster, Amy Gutmann, und Dennis Thompson diese demokratietheoretische Denkrichtung aufgegriffen. Guy Standing, der sich für ein Bedingungsloses Grundeinkommen einsetzt, spricht sich ebenfalls für diese Demokratieform aus.[3]

Grundlagen und Legitimation

Kernidee der deliberativen Demokratie ist, dass durch Austausch von Argumenten in einem (machtfreien) Diskurs Verständigung oder Konsens erzielt werden können und so gefundene Lösungen den Ansprüchen der Vernunft in sachlicher und moralischer Hinsicht gerecht werden.[4] So bezeichnet es Carole Pateman als zentrale Forderung der Vertreter deliberativer Demokratietheorie, dass Einzelne immer bereit sein sollten, ihre moralischen und politischen Argumente und Forderungen mit Gründen zu verteidigen und über diese Gründe mit anderen zu beraten.[5] Gelingt es, dem besseren Argument Geltung zu verschaffen, so hat entsprechend der Argumentation der deliberativen Demokratietheorie die getroffene Entscheidung eine höhere Legitimität als eine durch Wahl oder Plebiszit allein herbeigeführte Entscheidung. Im Zentrum der Theorie der deliberativen Demokratie steht also das Legitimationsideal der öffentlichen Beratung politischer Fragen. Entsprechend der Argumentation deliberativer Demokraten können mit adäquaten Deliberationsprozeduren „Formen der Zustimmung“ erreicht werden, die sowohl den Ansprüchen der Vernunft als auch der demokratischen Legitimität entsprechen.[6]

Theoretische Ansätze

Zwar gibt es zahlreiche Versionen der deliberativen Demokratie, es lassen sich aber zwei Schulen grundsätzlich grob Unterscheiden: die eine stärker von John Rawls und die andere stärker von Jürgen Habermas beeinflusst. Nach Chantal Mouffe sei die Sicherung eines „festen Bandes zwischen Demokratie und Liberalismus“ und die Widerlegung der von Kritikern behaupteten Widersprüchlichkeit liberaler Demokratie Hauptziel beider Ansätze.[6] Unterschiede zwischen den Ansätzen von Rawls und Habermas bestehen unter anderem in der Konzeptionalisierung öffentlicher Beratung (public deliberation, public reason): Während das Konzept von Jürgen Habermas inoffizielle Arenen außerhalb des institutionellen Settings, beispielsweise soziale Bewegungen, einbezieht, zeichnet Rawles ein engeres Bild öffentlicher Beratung, indem er stärker auf offizielle Institutionen verweist.[7] Vertreter der von Habermas beeinflussten Strömung deliberativer Demokratie setzen somit stärker auf eine kritische Öffentlichkeit, während die von Rawls beeinflusste Tradition den Aspekt der Vernunft deliberativ getroffener Entscheidungen betont und von der Möglichkeit objektiv richtiger und gerechter Lösungen in der Politik ausgeht. Dementsprechend kann die stärker von Rawls beeinflusste Schule auch als liberale Variante, deren Vertreter ein eher epistemisches Demokratieverständnis haben, bezeichnet werden und die eher von Habermas beeinflusste Schule wird auch als kritische Variante, die stärker auf die Partizipation der Bürger an der Deliberation und die Inklusion aller Betroffenen verweist, beurteilt.[8]

Des Weiteren gibt es inzwischen neben klar normativ-theoretischen Ansätzen auch empirische Studien zur deliberativen Demokratie, als deren Pionier gilt James S. Fishkin.[9]

Ansatz von Habermas

Habermas erhebt den Anspruch, „das Modell der liberalen und republikanischen Demokratie in sich vereinen zu können, ohne die Nachteile dieser Demokratietypen an sich zu haben“, indem eine Synthese liberaler und republikanischer Demokratie gebildet wird.[10]

Diskurs

„Deliberative Politik ist für Habermas eine Politik der argumentativen Abwägung, der gemeinsamen Beratschlagung und Verständigung über öffentliche Angelegenheiten.“[11]

Dies setzt „ideale Prozeduren der Beratung und Beschlussfassung“[11] voraus, die wiederum an folgende Voraussetzungen geknüpft sind:

  • „die argumentative Form des Austausches von Informationen und Begründungen,
  • die öffentliche und alle Beteiligungsberechtigte einschließende Beratung, zumindest die gleiche Chance des Zugangs zur und der Teilnahme an der Beratung,
  • das Fehlen externer und interner Zwänge bei der Beratung („ideale Sprechsituation“),
  • die Maxime, dass die Beratungen grundsätzlich unbegrenzt fortgesetzt oder, im Falle einer Unterbrechung, jederzeit wieder aufgenommen werden können,
  • der Grundsatz, dass die Erörterungen sich auf alle Materien erstrecken können, die im Interesse aller zu regeln sind,
  • die Chance, auch über Interpretation von Bedürfnissen sowie über vorpolitische Einstellungen und Präferenzen zu beraten,
  • den Diskurs untermauernde verfassungspolitische, die Grundrechte sichernde Weichenstellungen und
  • das qualifizierende Zusammenwirken von Deliberation und Entscheidungsprozess, und zwar jeweils unter Beteiligung möglichst vieler“.[12]

Öffentlichkeit

Diskurse vollziehen sich öffentlich bzw. in der Öffentlichkeit:

„Die Öffentlichkeit lässt sich am ehesten als ein Netzwerk für Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen beschreiben“ (Habermas 1992: 436). Öffentlichkeit ist also kein vorgefundener Raum, sondern muss durch ein interessiertes Publikum und durch kommunikativ handelnde Teilnehmer erst hergestellt werden. Öffentlichkeit besitzt bei Habermas drei Funktionen:

  • Erkennen und Wahrnehmen gesamtgesellschaftlicher Probleme
  • Thematisieren und Herantragen dieser Themen an die Entscheidungsträger im politischen Zentrum
  • Kontrolle des politischen Zentrums.

Die nichtstaatlichen wie nichtökonomischen Akteure der Zivilgesellschaft (oder: der „zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit“) als „[...] das Substrat jenes allgemeinen, aus der Privatsphäre gleichsam hervortretenden Publikums von Bürgern, die für ihre gesellschaftlichen Interessen und Erfahrungen öffentliche Interpretationen suchen und auf die institutionalisierte Meinungs- und Willensbildung Einfluß nehmen“ (Habermas 1992: 444) sollen diese Funktionen übernehmen (nicht näher thematisiert werden soll hier die sog. „vermachtete Öffentlichkeit“, in der sich etwa finanzstarke Lobbygruppen wiederfinden würden).

Zentrum/Peripherie: Legitimität demokratischer Entscheidungen

Legitimität politischer Entscheidungen beruht auf deren Anbindung an öffentlich artikulierte, im Diskurs zustande gekommene Meinungen:

Eine starke Zivilgesellschaft ist nach Habermas’ Theorie zweigleisiger Politik das Bindeglied zwischen politischer Peripherie und politischem Zentrum. Das politische Zentrum, ein aus der Lebenswelt ausgegliedertes, spezifisches Handlungssystem, trifft verbindliche administrative Entscheidungen. Typische Akteure sind etwa Mitglieder einer Regierung. Gleichwohl sind sie auf Eingaben aus der Peripherie angewiesen und mit dieser auch über den Mechanismus der Wahl verbunden. Die politische Peripherie führt lediglich informelle Meinungsbildung in Öffentlichkeiten und Zivilgesellschaft durch, hat keinerlei Entscheidungskompetenz. Dennoch kommt ihr und insbesondere der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit als Rückgrat deliberativer Politik eine überaus wichtige Aufgabe zu. Sie fungiert „[...] als wichtigste Schleuse für die diskursive Rationalisierung der Entscheidungen einer an Recht und Gesetz gebundenen Regierung und Verwaltung“. In ihr vollzieht sich also eine demokratische Willensbildung, „[...] welche die Ausübung politischer Macht nicht nur nachträglich kontrolliert, sondern mehr oder weniger auch programmiert“ (Habermas 1992: 364). Nur wenn Entscheidungen des politischen Systems also angemessen an zivilgesellschaftlich artikulierte öffentliche Meinungen angebunden sind, können sie demokratische Legitimität beanspruchen.

Im Jahr 2007 formuliert Habermas das so: „demokratische Legitimität kann nicht nur durch Deliberation und Öffentlichkeit allein hergestellt werden, sondern erfordert die Kombination vernünftiger Kommunikation mit der Teilnahme aller potentiell Betroffenen am Entscheidungsprozess.“[13]

Kritik

Ein Kritikpunkt ist „das Problem des sehr hohen Zeit- und Ressourcenaufwandes“.[14] Dem wird entgegengehalten, dass sich in einem rationalen Diskurs die Reibungsverluste vermindern, die bei der Befolgung von neuen oder alten Regeln oder Gesetzen entstehen, „durch gesteigerte Qualität des öffentliche Abwägens, durch verbesserte informelle, intellektuelle und moralische Kapazität der Bürger sowie durch gerechtere und autonomieschonende Problemlösung“.[14]

Kritisiert wird, dass es in der gesellschaftlichen Realität nicht umsetzbar sei. Zum Beispiel müssten in Deutschland 80 Millionen Menschen an einem Diskurs teilnehmen. Wird aber dieser Diskurs über Medien in die Öffentlichkeit getragen, so ist die Kommunikation systematisch verzerrt. Zum einen, weil die Medien ihre Ware verkaufen müssten und so nicht das veröffentlichen, was normalerweise veröffentlicht werden muss. Zum anderen, weil die Medien eine Nähe zur wirtschaftlichen oder politischen Macht haben. Eine Deliberation ist nach Meinung der Kritiker nur in einer Gemeinde oder auf Kreisebene möglich.

In diesem Zusammenhang liegt auch die Kritik, dass die Bürger durch die Medien manipuliert werden und somit gar nicht objektiv urteilen können. Dem wäre entgegenzusetzen, dass gerade im Diskurs eine Aufklärung stattfindet.

Es wird auch eingewandt, dass man es nicht jedem recht machen kann. Aber es sollte versucht werden, möglichst jeden von Regelungen zu überzeugen bzw. jedenfalls soweit einen Diskurs führen, damit er die Regelung versteht und akzeptieren kann.

Ein wichtiger Problembereich besteht darin, dass der Leitsatz „Nur die Argumente zählen!“ nur als eine Idealvorstellung zur Meinungsbildung gesehen werden kann: auf Grund von Machtgefällen zwischen den Diskursteilnehmern ist ein neutrales Abwägen der Argumente in der Realität häufig nicht erreichbar.

Dieses Problem, sowie der negative Einfluss der Medien auf den Diskurs, wird in der Theorie als Schweigespirale behandelt.

Literatur

  • Hubertus Buchstein: Jürgen Habermas. In: Peter Massing/Gotthard Breit (Hrsg.): Demokratie-Theorien. Von der Antike bis zur Gegenwart, Bonn 2003.
  • James S. Fishkin: When the People Speak: Deliberative Democracy and Public Consultation. Oxford University Press, Oxford 2009.
  • Daniel Göler: Deliberation – Ein Zukunftsmodell europäischer Entscheidungsfindung? Analyse der Beratungen des Verfassungskonvents 2002-2003. Baden-Baden 2006.
  • Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt a.M. 1992.
  • Jürgen Habermas: Drei normative Modelle der Demokratie: Zum Begriff deliberativer Demokratie. In: Herfried Münkler (Hrsg.): Die Chancen der Freiheit. Grundprobleme der Demokratie. München und Zürich 1992. S. 11-24. [Erneut abgedruckt in: Jürgen Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Frankfurt a.M. 1996, S. 277-292.]
  • Ralf Heming: Öffentlichkeit, Diskurs und Gesellschaft – Zum analytischen Potential und zur Kritik des Begriffs der Öffentlichkeit bei Habermas. Wiesbaden, 1997.
  • Bettina Lösch: Deliberative Politik. Moderne Konzeptionen von Öffentlichkeit, Demokratie und politischer Partizipation. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2005.
  • Peter Niesen, Benjamin Herborth (HG.): Anarchie der kommunikativen Freiheit: Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik. Frankfurt, 2007, ISBN 3-518-29420-2.
  • Martin Scheyli: Politische Öffentlichkeit und deliberative Demokratie nach Habermas: Institutionelle Gestaltung durch direktdemokratische Beteiligungsformen? Baden-Baden 2000.
  • Rainer Schmalz-Bruns: Deliberativer Supranationalismus. Demokratisches Regieren jenseits des Nationalstaats. In: ZIB 1999, S. 185 bis 244. (online; PDF; 1,2 MB)
  • Juan Carlos Velasco: Deliberation / deliberative Demokratie. In: Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Enzyklopädie Philosophie. 2. Aufl., Felix Meiner, Hamburg, 2010, S. 360-363. (online)

Siehe auch

Weblinks

Fußnoten

  1. Vgl. Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung. 5. Auflage, VS Verlag, Wiesbaden 2010, S. 236ff.
  2. Beispielsweise Carole Pateman: Participatory Democracy Revisited. In: Perspectives on Politics. 2012, 10. Jg., Nr. 01, S. 7-19, hier S. 8.
  3. Guy Standing: The Precariat: why it needs deliberative democracy. Open Democracy, 2012.
  4. Vgl. Claudia Landwehr: Demokratische Legitimation durch rationale Kommunikation. Theorien deliberativer Demokratie. In: Oliver W. Lembcke, Claudia Ritzi und Gary S. Schaal (Hg.): Zeitgenössische Demokratietheorie. Bd. 1: Normative Demokratietheorien. VS Verlag, Wiesbaden 2012. S. 355-385, hier S. 355.
  5. Carole Pateman: Participatory Democracy Revisited. In: Perspectives on Politics, 2012, 10. Jg., Nr. 01, S. 7-19, hier S. 8.
  6. a b Chantal Mouffe: Das Demokratische Paradox. Turia + Kant, Wien 2008, S. 88.
  7. Vgl. Robert Cavalier, Carnegie Mellon und Charles Ess: Notes on the contrast between Habermas and Rawls. Abgerufen am 14. Februar 2015.
  8. Vgl. Claudia Landwehr: Demokratische Legitimation durch rationale Kommunikation. Theorien deliberativer Demokratie. In: Oliver W. Lembcke, Claudia Ritzi und Gary S. Schaal (Hg.): Zeitgenössische Demokratietheorie. Bd. 1: Normative Demokratietheorien. VS Verlag, Wiesbaden 2012. S. 355-385, hier S. 358 f.
  9. Vgl. Claudia Landwehr: Demokratische Legitimation durch rationale Kommunikation. Theorien deliberativer Demokratie. In: Oliver W. Lembcke, Claudia Ritzi und Gary S. Schaal (Hg.): Zeitgenössische Demokratietheorie. Bd. 1: Normative Demokratietheorien. VS Verlag, Wiesbaden 2012. S. 355-385, hier S. 359.
  10. Henning Ottmann: Liberale, republikanische, deliberative Demokratie. In. Synthesis philosophica. 2006, 21. Jg., Nr. 2, S. 315-325, hier S. 315, S. 317.
  11. a b Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung. 5. Auflage, Wiesbaden 2008, S. 242.
  12. Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung. 5. Auflage, VS Verlag, Wiesbaden 2010, S. 242f; Schmidt beruft sich auf: Jürgen Habermas: Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende Politik: eine Replik, in: Peter Niesen, Benjamin Herborth (HG.): Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik, 2007, S. 406-459.
  13. Jürgen Habermas: Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende Politik: eine Replik, in: Peter Niesen, Benjamin Herborth (HG.): Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik, 2007, S. 431.
  14. a b Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung. 5. Auflage, VS Verlag, Wiesbaden 2010, S. 238.