Der Sohn des Schauspielers Emanuel Reicher besuchte das Landerziehungsheim Dr. Lietz in Ilsenburg und anschließend die Hochschule für dramatische Künste in Berlin, die sein Vater leitete. Nach weiterer Ausbildung in Italien und London debütierte er 1909 an den Münchner Kammerspielen. Im Jahr 1910 spielte er in Rixdorf, 1911 am Neuen Theater in Frankfurt und 1912 in Berlin erstmals beim Film.
Hier lernte er den Regisseur Joe May kennen, unter dessen Regie er 1913 in Heimat und Fremde zusammen mit seinem Vater auftrat und dadurch bekannt wurde. Kurz darauf verkörperte er in der Musiker-Biografie Richard Wagner den Märchenkönig Ludwig II. von Bayern.
Reichers erste Regiearbeit war 1913 der Film Das Werk.[1]
Im Jahr 1914 erfand Ernst Reicher die Figur des Detektivs Stuart Webbs. In dieser Rolle stand er zwölf Jahre vor der Kamera und etablierte im deutschsprachigen Bereich das Genre des Detektivfilms. Nach Streit mit der Continental-Kunstfilm GmbH gründeten Reicher und May ihre eigene Produktionsfirma namens „Stuart Webbs Film Company“. Bereits 1915 schied May aus und startete seine eigene Joe Deebs-Detektivserie mit dem Hauptdarsteller Max Landa und später Harry Liedtke.
Stuart Webbs war ein Gentleman-Detektiv nach dem Vorbild von Sherlock Holmes, der smart und elegant auch schwierigste Fälle löste. Während des gesamten Ersten Weltkrieges war diese Kunstfigur beim deutschen Kinopublikum beliebt. Erst ab 1918 wandte Reicher sich auch anderen Themen zu. Seine aufwändigste Produktion wurde der MonumentalfilmDas Buch Esther mit ihm selbst in der Hauptrolle.
Am 1. April 1919 verlegte er den Sitz seiner Filmgesellschaft nach München. Zu Beginn der zwanziger Jahre erlitt er einen schweren Autounfall, bei dem er sich einen Wirbel- und Schädelbruch zuzog. Erst ab 1926 erschien er wieder auf der Leinwand, doch konnte er nicht mehr an frühere Erfolge anknüpfen.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten emigrierte der Jude Reicher 1933 nach Prag, wo er in Vergessenheit geriet. Seine letzte, winzige Rolle in dem Remake Le Golem wurde aus der Endfassung herausgeschnitten. Er wurde tot in einem Prager Hotelzimmer aufgefunden, "in einem kleinen engen Zimmerchen, in einer Straße gelegen, die weitab von den Bühnen des Ruhms war"[2]. In den 20er Jahren war er mit der Schauspielerin Stella Harf verheiratet. Sein Halbbruder Frank Reicher und seine Schwester Hedwiga Reicher haben gleichfalls als Schauspieler gearbeitet.
Kay Weniger: 'Es wird im Leben dir mehr genommen als gegeben …'. Lexikon der aus Deutschland und Österreich emigrierten Filmschaffenden 1933 bis 1945. Eine Gesamtübersicht. S. 413 f., ACABUS-Verlag, Hamburg 2011, ISBN 978-3-86282-049-8