Erschießung belarussischer Kulturschaffender (1937)

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Die Erschießung belarussischer Kulturschaffender im Jahr 1937, auch bekannt als „Nacht der erschossenen Dichter“ (belarussisch Ноч расстраляных паэтаў), war ein politischer Massenmord an Vertretern der belarussischen Intelligenz sowie an Persönlichkeiten aus Kultur, Wissenschaft und Kunst, der in der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1937 im internen Gefängnis des NKWD und im Pischtschalowski-Schloss in Minsk stattfand. Die Leichen wurden im Kurapaty-Wald vergraben.[1][2]

Gedenktafel in Kurapaty

Ablauf[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bereits in den 1920er Jahren kam es zu Stalinschen Säuberungen in der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik, die es zum Ziel hatten, Eigenständigkeitsbemühungen („Belarussische Wiedergeburt“) zu beenden, welche insbesondere von Kulturschaffenden gefördert wurden. In den Jahren von 1929 bis 1931 kam es zu Verhaftungen, darunter von Uładzimir Žyłka, der 1933 in der Verbannung starb, und Uladsimir Dubouka. Andere, wie Janka Kupala, wurden genötigt, sich von der Wiedergeburtsbewegung loszusagen.[3]

Insgesamt waren zwischen 1929 und 1938 mehr als 500 Menschen aus Belarus vom Großen Terror der Sowjetunion unter Josef Stalin betroffen, wobei die meisten Menschen in der „Nacht der erschossenen Dichter“ getötet wurden.[4] Nach der Ermordung von Sergei Mironowitsch Kirow konnte Stalin gezielte Aktionen durchführen, indem er den Eindruck erweckte, eine Fünfte Kolonne habe die Sowjetunion unterwandert. Anfang 1937 behauptete der NKWD, es existiere ein „Vereinigter antisowjetischer Untergrund“, der auch als „antisowjetische national-faschistische Terrororganisation“ bezeichnet wurde. Mit diesem erdachten Konstrukt konnte gezielt die Elite der Weißrussischen Sowjetrepublik ausgeschaltet werden. Im August 1937 wurden Tausende Werke – darunter Manuskripte – der Beschuldigten verbrannt, da diese belarussischen Literaten „Volksfeinde“ seien. Im September 1937 wurde die Todesstrafe für 103 beschuldigte Personen unterschrieben.[1][3][5]

Opfer[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Zahl der Opfer wird unterschiedlich angegeben und schwankt bei westlichen Angaben zwischen 108[3] und 132[2] belarussischen Oppositionellen, Kulturschaffenden und Wissenschaftlern. Darunter befinden sich allein 22 namentlich bekannte Schriftsteller.[4] In Belarus wird die Zahl der Toten in Geschichtsbüchern deutlich geringer angegeben.[1]

In Hinsicht auf die sehr unterschiedlichen Biographien wurden auch angepasste Begründungen für die Todesurteile gewählt: Der jüdische Autor Isi Charik wurde beschuldigt, „Mitglied einer trotzkistisch-sinowjewistischen Organisation“ zu sein. Platon Halawatsch hingegen wurde unter Folter gezwungen, sich selbst als „Organisator einer terroristischen Gruppe“ zu beschuldigen, die zur „Durchführung deutsch-faschistischer Aktivitäten“ gegründet worden sei. Auch die Familienmitglieder wurden teilweise mit verurteilt. So wurden die Frauen von Charik und Halawatsch als „Familienmitglied eines Vaterlandsverräters“ zu je acht Jahren Lagerhaft verurteilt und nach Kalaganda deportiert, wo ein umfangreiches Lagersystem bestand. Sie erfuhren teils erst Jahrzehnte später vom Tod ihrer Verwandten, wobei zunächst auch die Erschießung verschwiegen wurde. Einzelne Angehörige erhielten in den 1990er Jahren Zugang zu den Akten ihrer Verwandten und erfuhren erst dann das Todesdatum.[1]

Bekannte Personen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Teil der Schriftsteller zu Lebzeiten

Schriftsteller, Dichter, Literaturkritiker: Michas Tscharot, Todar Kljaschtorny, Ales Dudar, Jurka Ljawonny, Anatol Wolny, Michail Kasjankou, Platon Halawatsch, Julij Taubin, Walery Marakou, Moische Kulbak, Isi Charik, Wasil Staschewski, Janka Njomanski, Zjama Piwowarow, Serhej Murzo, Vasyl Kaval, Aron Judelson.[6][7][8]

Staatsmänner: Maksym Lewkow, Lew Moisejev, Boris Malov, Boris Marjanov, Smiser Selov, Andrej Turlaj, Aleksandr Woronchenko, Viktor Jarkin, Zakhar Kawalchuk, Aleksandr Chernushewich.[9][10]

Wissenschaftler: Ananij Djakow, Iwan Zhivutskyi, Naum Zamalin, Iwan Karpenko, Jelisar Masel, Stepan Margelov, Pawel Muchin, Hryhorij Protasenia, Mikhai Rydewskyj, Pantelej Serdjuk, Jewgenij Uspenskyj, Josif Korenewskij:[11][12]

Die Opfer wurden in den 1950er Jahren rehabilitiert.[1]

Gedenken[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Aktion im Kurapaty-Trakt

Im Zuge der Glasnost wurde das Areal des Kurapaty-Waldes ab 1988 als Ort der Massenerschießungen identifiziert und erschlossen.[1] Nach dem Zerfall der Sowjetunion erfolgte keine weitere Aufarbeitung der Verbrechen. Die Akten des KGB blieben für umfangreichere Recherchen verschlossen, der belarussische Staat verurteilte offiziell nie die stalinistischen Verbrechen und beendete aufkommende Nachforschungen der 1990er Jahre schließlich.[3] Im Kurapaty wurde allerdings eine schlichte Gedenkstätte geschaffen, weshalb dort seit dem Oktober 2017 auch alljährlich Gedenkveranstaltungen stattfanden. Diese waren nicht staatlich organisiert, sondern von Privatleuten. In Minsk fanden zudem thematische Vorträge in Hinterhöfen statt. Die Bedeutung der Veranstaltungen nahm im Laufe der Jahre zu. So besuchten internationale Abgesandte noch im Oktober 2021 eine Grabstätte stalinistischer Opfer im Wald. Weltweit wurde in diesem Jahr in 38 Städten in 18 Ländern dieser Massenhinrichtung mit Veranstaltungen gedacht.[4][13][1]

Seitdem wurden die Gedenkveranstaltungen aufgrund der inländischen Repressalien vollständig von Belarus ins Ausland verlegt. So gedachten im Oktober 2022 im Exil lebende belarussische Intellektuelle der Toten durch eine Lesung von Werken der Opfer auf einer Veranstaltung in der Nähe des KGB-Museums in Vilnius, auf der auch ein Theaterstück aufgeführt und Werke aktuell verfolgter Belarussen vorgetragen wurden.[3] In diesem Jahr, dem 85. Jahrestag, waren es 40 Städte in 21 Ländern, in denen Gedenkveranstaltungen stattfanden.[14]

Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im 21. Jahrhundert wurden eine Reihe von Liedern belarussischer Künstler erstellt, die auf den Gedichten der Hingerichteten basieren.[15]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Леанід Маракоў (Leanid Marakou): Ахвяры і карнікі (Achwjary i karniki, deutsch: Opfer und Bestrafer). Зміцер Колас (Smizer kolas), Minsk 2007, ISBN 978-985-6783-38-1 (PDF-Download, kamunikat.org, 3,46 MB).
  • Сяргей Грахоўскі (Sjargej Grachouski): «Так погибали поэты» (Tak pogibali poety, deutsch: So starben die Dicher, Ausgewählte Werke). Кнігазбор (Knigasbor), Minsk 2007, ISBN 985-6824-59-1.
  • М. Касцюк (M. Kaszjuk): Бальшавіцкая сістэма ўлады на Беларусі (Balschawizkaja sistema ulady na Belaruysi, deutsch: Bolschewistisches Machtsystem in Weißrussland). ВП «Экаперспектыва» (WP „Ekaperspektywa“), Minsk 2000, ISBN 985-6102-30-8.
  • Аляксандар Лукашук (Aljaksandar Lukaschuk): Мова гарыць… (загад № 33) (Mowa garyz (Sagad № 33), deutsch: Die Sprache brennt (Befehl Nr. 33)). In: Спадчына (Spadtschyna, deutsch: Erbe) № 3, 1996, S. 76–91, Online-Version.
  • А. Дзярновіч (A. Dejarnowitsch): Рэабілітацыя: Зборнік дакументаў і нарматыўных актаў па рэабілітацыі ахвяраў палітычных рэпрэсіяў 1920–1980-х гадоў у Беларусі (Reabilitazyja: Sbornik dakumentau i narmatyunych aktau na reabilitazyi achwjarau palitytschnych represijau 1920–1980 gadou u Belarusi, deutsch: Rehabilitation: Eine Sammlung von Dokumenten und Vorschriften zur Rehabilitation von Opfern politischer Repressionen der 1920er—1980er Jahre in Weißrussland). Athenaeum, Minsk 2001, (Athenaeum, Т. III; Архіў найноўшае гісторыі, Archiu najnouschae historyi, deutsch: Archiv der neueren Geschichte), ISBN 985-6374-12-X.
  • Аляксандр С. Махнач (Aljaksandr S. Machnatsch): Возвращенные имена. Сотрудники АН Беларуси пострадавшие в период сталинских репрессий (Woswraschtschennye imena. Sotrudniki AH Belarusi postradawschie w period stalinskich repressij, deutsch: Zurückgegebene Namen. Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften von Belarus, die während der Zeit der stalinistischen Repressionen gelitten haben) (PDF, ihst.ru, 1,97 MB). Навука і тэхніка (Nawuka i technika), Minsk 1992.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d e f g Iryna Kashtalian: Bystro #40: Was geschah in der Nacht der erschossenen Dichter? In: dekoder.org. 27. Oktober 2022, abgerufen am 27. März 2024.
  2. a b У Курапатах прайшла «Ноч расстраляных паэтаў». In: m.nashaniva.com. 29. Oktober 2018, abgerufen am 28. März 2024 (belarussisch, deutsch: In Kurapaty fand die „Nacht der hingerichteten Dichter“ statt; mit Video und Fotogalerie der Gedenkfeier 2018).
  3. a b c d e Janka Belarus: Stalins Terror in Belarus. Die Nacht der erschossenen Dichter. In: taz.de. Die Tageszeitung, 6. November 2022, abgerufen am 27. März 2024.
  4. a b c „Nacht der erschossenen Dichter“ findet in Dutzenden von Städten auf der ganzen Welt statt. In: voiceofbelarus.org. Oktober 2022, abgerufen am 27. März 2024.
  5. Alexandra Goujon: Kurapaty (1937–1941): NKVD Mass Killings in Soviet Belarus. In: sciencespo.fr. 27. März 2008, abgerufen am 27. März 2024 (englisch).
  6. Надзея Кудрэйка (Nadseja Kudrejka): Нельга забі(ы)ць. In: zviazda.by. 2. November 2018, abgerufen am 28. März 2024 (belarussisch, deutsch: Du kannst sie nicht töten / vergessen).
  7. С. Вальфсон (S. Walfson): «Навука» на службе нацдэмаўскай контррэвалюцыі: Зборнік („Nawuka“ na sluschbe nazdemauskaj kontrrewaljuwyi: Sbornik, deutsch: „Wissenschaft“ im Dienste der nationaldemokratischen Konterrevolution: Sammlung), Akademie der Wissenschaften von Belarus, Philosophisches Institut, 1. Buch, 1. Heft, 1931.
  8. Я. Войніч (J. Wojnitsch): Як бальшавікі рэфармавалі беларускую мову? (Jak balschawiki refarmawali belaruskuju mowu? deutsch: Wie haben die Bolschewiki die belarussische Sprache reformiert?). In: Літаратура. 100 пытаньняў і адказаў з гісторыі Беларусі (Litaratura. 100 pytannjau i adkasau s historyi Belarusi, deutsch: Literatur. 100 Fragen und Antworten aus der Geschichte Weißrusslands), S. 67–68.
  9. М. Касцюк (M. Kaszjuk): Бальшавіцкая сістэма ўлады на Беларусі (Balschawizkaja sistema ulady na Belaruysi, deutsch: Bolschewistisches Machtsystem in Weißrussland). ВП «Экаперспектыва» (WP „Ekaperspektywa“), Minsk 2000, ISBN 985-6102-30-8, S. 176.
  10. Почему бессмысленно искать хорошее в советском прошлом? (Memento vom 22. Juli 2018 im Internet Archive) (Potschemu bessmyslenno iskat choroschee w sowjetskom proschlom? deutsch: Warum ist es sinnlos, in der sowjetischen Vergangenheit nach dem Guten zu suchen?) In: 1863x.com. 14. November 2017.
  11. Жертвы политического террора в СССР (Schertwy polititscheskogo terrora w SSSR, deutsch: Opfer des politischen Terrors in der UdSSR), abgerufen am 28. März 2024.
  12. Р. Платонаў (R. Platonau), У. Коршук (U. Korschuk): Беларусізацыя, 1920-я гады: Дакументы і матэрыялы (Belarusisazyja, 1920er gady: Dakumenty i materyjaly, deutsch: Belarussifizierung, 1920er Jahre: Dokumente und Materialien). Staatliche Belarussische Universität, Historische Fakultät, Abteilung für Welt- und Nationalgeschichte, Archäologische Kommission des Staatlichen Komitees für Archive und Aufzeichnungen der Republik Belarus. БДУ (BDU), Minsk 2001, S. 24.
  13. Паглядзіце, як акцыя „Ноч паэтаў“ летась праходзіла па ўсім свеце. In: nochpaetau.com. Oktober 2021, abgerufen am 27. März 2024 (belarussisch, mit Liste und Karte der Städte).
  14. Ноч паэтаў. In: nochpaetau.com. Oktober 2022, abgerufen am 27. März 2024 (belarussisch, mit Liste und Karte der Städte sowie Verlinkungen zu Berichten darüber).
  15. (Не)растраляныя. In: tuzinfm.by. Abgerufen am 27. März 2024 (Seite zu dem Album Die (Un)Erschossenen mit Links zu etlichen Liedern aus diesem Kontext).