Otto Dov Kulka

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Otto Dov Kulka (2005)

Otto Dov Kulka (Ôṭô Dov Qûlqā; * 16. April 1933 in Nový Hrozenkov, Tschechoslowakei[1]) ist ein israelischer Historiker.

Kindheit und Jugend

Otto Kulka kam am 16. April 1933 in Nový Hrozenkov als zweites Kind seiner 1904 als Elly Kulková geborenen Mutter zur Welt. Elly war damals mit dem 15 Jahre älteren Rudolf Deutelbaum verheiratet, unterhielt jedoch bereits enge Beziehungen zu dessen Neffen Erich Schön. 1938 ließ sich die Mutter scheiden und heiratete 1939 Erich Schön, der jedoch kurz darauf verhaftet und nach Dachau transportiert wurde.[2] Im September 1942 wurden alle Juden der Region Vsetínsko – auch Otto, seine beiden Eltern mit ihren jeweiligen neuen Partnern, seine ältere Schwester Eva und seine Großmutter – in das Ghetto Theresienstadt verschleppt. Rudolf, Eva und Ilona Deutelbaum wurden wenige Wochen später nach Treblinka deportiert und dort ermordet.[3] Otto wurde mit Elly Schönová und Ottos Großmutter Hedvíka Kulková im September 1943 aus Theresienstadt in das sogenannte Theresienstädter Familienlager BIIb des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau deportiert. Erich Schön war zwischenzeitlich ebenfalls nach Auschwitz deportiert worden. Als Schlosser konnte er sich vergleichsweise frei im Lager bewegen und seine Ehefrau wie auch den als "Otto Schön" registrierten Otto Deutelbaum in der Krankenbaracke vor der Selektion des 8. März 1944 bewahren, der die anderen Insassen des Familienlagers zum Opfer fielen.[4] Im Juli 1944 wurde das Familienlager aufgelöst. Elly Schönová wurde zur Zwangsarbeit nach Stutthof verschleppt, sie starb nach der Flucht aus einem Evakuierungstransport im Januar 1945 an Typhus.[5] Otto Deutelbaum gelangte mit neunzig anderen Jugendlichen in das Männerlager BIId, wo er im Kinderblock von Fredy Hirsch betreut wurde.[6] Otto Deutelbaum und Erich Schön überstanden weitere Selektionen und die Zwangsarbeit. Am 23. Januar 1945 entkamen sie in Ostrava aus einem Evakuierungstransport und versteckten sich bis Kriegsende bei nichtjüdischen Freunden.[7]

Erich Schön ließ sich unmittelbar nach Kriegsende als Otto Deutelbaums gesetzlicher Vormund eintragen. Er ging gerichtlich gegen die gesetzliche Vaterschaft vor und stellte sicher, dass Otto in das Erbe Rudolf Deutelbaums eingesetzt wurde. 1946 heiratete er die Witwe Gabriela Kulková seines Schwagers Milan und änderte seinen und Ottos Nachnamen in Kulka.[8] 1947 sagte Otto Kulka als Zeuge in einem polnischen Prozess in Krakau gegen Angehörige der ehemaligen Auschwitzer Lagermannschaft aus. 1948 wurde Otto Kulkas Besitz in Vsetínsko größtenteils enteignet. Mit sechzehn Jahren wanderte Otto Kulka nach Israel aus, wo er den zweiten Vornamen Dov annahm.

Leben und Werk

1964 sagte er im ersten Frankfurter Auschwitzprozess als jüngster Zeuge aus. Zu seinem Überleben gab er dort am 30. Juli 1964 zu Protokoll: „Ich war damals nur 11 Jahre und 3 Monate alt. Trotzdem habe ich mich in die Reihe der Arbeitsfähigen mit eingeschlichen. Es wurden damals Selektionen durchgeführt; wir wußten ja, was es bedeutet.“ Er begegnete am Frankfurter Flughafen noch einmal dem KZ-Arzt Franz Lucas, den er als Arzt bei den Selektionen an der sogenannten Rampe identifizierte.

Nach einem Geschichtsstudium in Jerusalem und Frankfurt wurde er 1976 mit einer Arbeit über die so genannte Judenfrage im Nazideutschland an der Hebräischen Universität in Jerusalem promoviert. An derselben Universität wirkte er bis zu seiner Emeritierung 1999 als Professor für die Geschichte des jüdischen Volkes. Otto Dov Kulka ist wissenschaftlicher Berater des „The Felix Posen Bibliographic Project on Antisemitism“ in Jerusalem, Mitherausgeber der Reihe Yad Vashem Studies heraus und Mitglied sowohl der Geschäftsleitung der Gedenkstätte Yad Vashem als auch - seit 1998 - im Leo Baeck Institut.

Über seine Emeritierung 1999 hinaus forschte Otto Dov Kulka zur NS-Geschichte und dem Völkermord an den Juden; neben umfangreicheren Werken verfasste er etliche die weitere Forschung dauerhaft prägende und anregende Aufsätze und Beiträge. In seinen Forschungsarbeiten ging er über die frühere, wesentlich auf die exakte Beschreibung der Verfolgung und Ermordung der Juden gerichtete Historiographie hinaus und forderte, den Massenmord an den Juden nach allgemeinen wissenschaftlichen Methoden zu betrachten. Kulka bezeichnete drei Forschungsfelder, nämlich die Stellung der NS-Weltanschauung zum Judentum und den Juden, die Einstellung der nichtjüdischen Bevölkerung zur NS-Judenpolitik und zu den Juden sowie die Rolle der jüdischen Gemeinschaft und ihrer Vertreter.[9]

2013 veröffentlichte Otto Dov Kulka Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft. Für dieses autobiographische Werk, in dem sich - bewusst von der Arbeit eines Historikers getrennt - an eigene Erlebnisse und Erinnerungsbruchstücke poetische und philosophische Überlegungen zu Erinnerungen und Vergessen anknüpfen,[10][11] erhielt Kulka 2013 den Geschwister-Scholl-Preis.[12] Die Historikerin Anna Hájková von der University of Warwick kritisierte das Buch für bewusste Auslassungen über wichtige Teile seiner Familie und somit Verwischen der Geschichte. [13]

Schriften (Auswahl)

  • Dokumente zur Geschichte der Reichsvertretung der deutschen Juden 1933–1939. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen, 1997. ISBN 3161472675 (Review von Alan E. Steinweis in The Jewish Quarterly Review, 1999, engl.).
  • Leben und Schicksal, zur Einweihung der Synagoge in Hannover. Buchdruckwerkstätten, Hannover, 1963.
  • Die Nürnberger Rassengesetze und die deutsche Bevölkerung im Lichte geheimer NS-Lage- und Stimmungsberichte. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1984.
  • mit Aron Rodrigue: The German Population and the Jews in the Third Reich, in: Yad Vashem Studies 16 (1984), S. 421-435.
  • Die deutsche Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus und die „Endlösung“: Tendenzen und Entwicklungsphasen 1924–1984. Verlag R. Oldenbourg, München, 1985.
  • mit Eberhard Jäckel: Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933–1945.[14][15]
  • Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft. Aus dem Hebräischen übersetzt von Inka Arroyo Antezana, Anne Birkenhauer und Noa Mkayton. Deutsche Verlags-Anstalt, München, 2013. ISBN 978-3-421-04593-5.[16] (Originaltitel: Landscapes of the Metropolis of Death: Reflections on Memory and Imagination. Penguin Books, New York, USA).[17]

Literatur

  • Mosche Zimmermann (Hrsg.): On Germans and Jews under the Nazi regime: essays by three generations of historians: a festschrift in honor of Otto Dov Kulka. Jerusalem : Richard Koebner Minerva Center for German History, Hebrew University of Jerusalem: Hebrew University Magnes Press, 2006

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Susanne Beyer: Heimweh nach dem Lager. In: Der Spiegel. Nr. 29, 2013, S. 104–106 (online).
  2. Anna Hájková: Israeli Historian Otto Dov Kulka Tells Auschwitz Story of a Czech Family That Never Existed. In: tabletmag.com October 30, 2014, abgerufen am 4. November 2014 www.tabletmag.com/jewish-arts-and-culture/books/186462/otto-dov-kulka
  3. Yad Vashem Central Database of Shoa Victims, online access: Eva Deutelbaumová geb. 14. April 1932. Rudolf Deutelbaum geb. 26. Juli 1889. Ilona Deutelbaumová geb. 5. August 1910.
  4. Anna Hájková: Israeli Historian Otto Dov Kulka Tells Auschwitz Story of a Czech Family That Never Existed. In: tabletmag.com October 30, 2014, abgerufen am 4. November 2014 www.tabletmag.com/jewish-arts-and-culture/books/186462/otto-dov-kulka
  5. Yad Vashem Central Database of Shoa Victims, online access: Elly Schönová geb. 31. Mai 1904.
  6. John Freund: After those fifty years. Memoirs of the Birkenau Boys. 1992 Toronto
  7. Anna Hájková: Israeli Historian Otto Dov Kulka Tells Auschwitz Story of a Czech Family That Never Existed. In: tabletmag.com October 30, 2014, abgerufen am 4. November 2014 www.tabletmag.com/jewish-arts-and-culture/books/186462/otto-dov-kulka
  8. Anna Hájková: Israeli Historian Otto Dov Kulka Tells Auschwitz Story of a Czech Family That Never Existed. In: tabletmag.com October 30, 2014, abgerufen am 4. November 2014 www.tabletmag.com/jewish-arts-and-culture/books/186462/otto-dov-kulka
  9. Otto Dov Kulka: "Major Trends and Tendencies in German Historiography on National Socialism and the 'Jewish Question'". In: Israel Gutman (Hrsg.), The Historiography of the Holocaust Period, 1988 Yad Vashem (Jerusalem) S. 1--51
  10. Arifa Akbar: Landscapes of the Metropolis of Death, by Otto Dov Kulka, trans. Ralph Mandel. In: Independent.com 25.1.2013 [1]
  11. Anna Hájková: Israeli Historian Otto Dov Kulka Tells Auschwitz Story of a Czech Family That Never Existed, in: Tablet Magazine, 30. Oktober 2014
  12. Geschwister-Scholl-Preis 2013
  13. [2]
  14. Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933–1945 auf Droste-Buchverlag.de
  15. Da war Stille. Da war Leere auf Zeitgeschichte-Online.de
  16. Besprechung in FAZ.
  17. Besprechung der engl. Fassung im Guardian