Ruhrbesetzung

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Deutscher Zivilist und französischer Besatzungssoldat, 1923
Verwaltung bzw. Besatzung der westdeutschen Gebiete gegen Ende der Ruhrbesetzung

Die Ruhrbesetzung (auch Ruhrkrise, Ruhreinmarsch oder Ruhrinvasion genannt) bezeichnet die Okkupation der bis dahin unbesetzten Teile des Ruhrgebiets durch Besatzungstruppen Frankreichs sowie Belgiens ab Anfang 1923 bis 1925. Die Krise in der Zeit der Weimarer Republik markiert den Höhepunkt des politisch-militärischen Konfliktes um die Erfüllung der alliierten Reparationsforderungen nach dem Ersten Weltkrieg zwischen dem Deutschen Reich und den Siegermächten, besonders Frankreich. Im nationalistischen Kontext wurde die Ruhrbesetzung und der teils zivile, teils militante deutsche Widerstand gegen die Besatzer häufig „Ruhrkampf“ genannt. Verlauf und Ausgang der Ruhrkrise besaßen sowohl für die internationalen Beziehungen mit und zwischen den Siegermächten wie auch für die innenpolitischen Entwicklungen Deutschlands weitreichende Bedeutung.

Ausgangslage

Die Weimarer Republik war durch den Versailler Vertrag von 1919 verpflichtet, Reparationen an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs zu leisten. Vor allem der französische Ministerpräsident Poincaré, gleichzeitig amtierender Außenminister, bestand im wirtschafts- und sicherheitspolitischen Interesse Frankreichs auf einer kompromisslosen Erfüllung der Bestimmungen des Versailler Vertrags. Aufgrund von Verzögerungen bei den Lieferungen rückten mehrfach französische Truppen in unbesetztes Gebiet vor. Am 8. März 1921 besetzten französische und belgische Truppen in der gemäß Friedensvertrag entmilitarisierten Zone des Rheinlands die Städte Duisburg und Düsseldorf. Damit schuf sich Frankreich die Ausgangsbasis für eine mögliche Besetzung des gesamten rheinisch-westfälischen Industriegebiets. Außerdem ermöglichte die Kontrolle der Duisburg-Ruhrorter Häfen die genaue Registrierung des gesamten Exports von Kohle, Stahl und Fertigprodukten aus dem Ruhrgebiet. Das Londoner Ultimatum vom 5. Mai 1921, mit dem die alliierten Siegermächte ihren Zahlungsplan für die deutschen Reparationen in Höhe von 132 Milliarden Goldmark gegenüber Deutschland durchsetzen wollten, wurde mit der Drohung verbunden, im Falle einer deutschen Weigerung das Ruhrgebiet zu besetzen.

Wegen der sich verschärfenden wirtschaftlichen Probleme des Deutschen Reiches verzichteten die Alliierten im Jahr 1922 auf Reparationszahlungen in Form von Geld und forderten stattdessen Sachleistungen (Stahl, Holz, Kohle) ein. Am 26. Dezember stellte die alliierte Reparationskommission dann einstimmig fest, dass Deutschland mit den Reparationslieferungen im Rückstand war. Als am 9. Januar 1923 die Reparationskommission erklärte, die Weimarer Republik halte absichtlich Lieferungen zurück (unter anderem seien 1922 nur 11,7 Millionen statt der geforderten 13,8 Millionen Tonnen Kohle und nur 65.000 statt 200.000 Telegraphenmasten geliefert worden), nahm Frankreich dies zum Anlass, in das Ruhrgebiet einzumarschieren.

Besetzung

Ausgewiesene deutsche Beamte überschreiten im April 1923 am französischen, mit Marokkanern besetzten Grenzposten bei Limburg an der Lahn die Grenze
Einzug französischer Truppen in Essen, 1923

Zwischen dem 11. und dem 16. Januar 1923 besetzten unter dem Befehl des französischen Generals Jean-Marie Degoutte[1] französische und belgische Truppen in einer Stärke von zunächst 60.000, später 100.000 Mann das gesamte Ruhrgebiet bis Dortmund. Vorübergehend wurden im Frühjahr und Sommer desselben Jahres auch Teile des bergischen Industriegebiets von französischen Verbänden besetzt, namentlich Remscheid und Lennep (März 1923 bis Oktober 1924) sowie kurzzeitig auch Barmen (Juli 1923), während Elberfeld unbesetztes Gebiet blieb und Solingen bereits im seit 1919 britisch besetzten Brückenkopfgebiet um Köln lag.

Ziel der Besatzung war es, die dortige Kohle- und Koksproduktion als „produktives Pfand“ zur Erfüllung der deutschen Reparationsverpflichtungen zu sichern. Deutschland hatte nämlich laut dem Autor Castillon während des Krieges die Hälfte der französischen Kohleförderungs-Kapazität zerstört[2] – diese Aussage wird allerdings von anderen Autoren so nicht geteilt.[3] Nicht völlig geklärt ist, ob es dem französischen Premier Poincaré nicht auch um mehr ging als um die Beibringung von Reparationsleistungen. Er strebte gemäß einigen Autoren eine mit dem Status des Saargebiets vergleichbare Sonderstellung des Rheinlands und des Ruhrgebiets an, bei der die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich nur mehr formal gewesen wäre und stattdessen Frankreich eine bestimmende Position eingenommen hätte.[4] Vom Vereinigten Königreich wurde die Ruhrbesetzung als illegal eingestuft.

Ruhrkampf

Kundgebung gegen die Ruhrbesetzung auf dem Berliner Königsplatz am 25. März 1923
Gedenktafel an einer Unterführung der Ruhrtalbahn für ein Opfer der Ruhrbesetzung

Die Besetzung löste in der Weimarer Republik einen Aufschrei nationaler Empörung aus. Die Reichsregierung unter dem parteilosen Kanzler Wilhelm Cuno rief die Bevölkerung am 13. Januar 1923 zum „passiven Widerstand“ auf. An Frankreich und Belgien wurden keine Reparationen mehr gezahlt, Industrie, Verwaltung und Verkehr wurden mit Generalstreiks teilweise lahmgelegt. Betriebe und Behörden leisteten teilweise den Anordnungen der Besatzer nicht Folge. Die Beamten und Arbeiter der Deutschen Reichsbahn verweigerten den Dienst und verließen ihre Dienstposten, oft unter Mitnahme aller dienstlichen Unterlagen und Informationen. In vielen Bahnhöfen und Stellwerken wurden die Beschriftungen demontiert, Lokomotiven und Wagen in unbesetztes Gebiet abgefahren. Die Besatzungstruppen reagierten darauf mit der Übernahme des Betriebs in den Regiebetrieb durch die sogenannte Régie des Chemins de fer des Territoires occupés. Dies erforderte in erheblichem Umfang den Einsatz französischer und belgischer Eisenbahner. Aufgrund der vielfach fehlenden technischen Dokumentationen sowie der von französischen und belgischen Standards deutlich abweichenden Fahrzeug- und Sicherungstechnik der Reichsbahn führte dies zunächst zu erheblichen Problemen durch Unfälle sowie einer deutlich reduzierten Leistungsfähigkeit des Eisenbahnnetzes.

Die Besatzungstruppen reagierten auf den passiven Widerstand mit 150.000 verhängten Strafen, die neben Gefängnisstrafen vor allem bei Eisenbahnern die Ausweisung aus dem besetzten Gebiet bedeuteten. Inzwischen begingen ehemalige Freikorpsmitglieder und auch Kommunisten Sabotageakte und Anschläge gegen die Besatzungstruppen. Insbesondere in der KPD war diese Taktik allerdings umstritten. Der Deutschlandexperte der Komintern Karl Radek verurteilte zwar die rechte Gesinnung der Saboteure, lobte aber deren Radikalismus, während andere jede verbale Nähe zum Ruhrkampf als nationalistisch ablehnten.[5] In der politischen Rechten wurde die Sabotage dagegen gefeiert. Unter anderem wurde der Emscher-Durchlass des Rhein-Herne-Kanals bei Henrichenburg durch eine Sprengung zerstört. Die Besatzungsmacht wiederum reagierte mit Sühnemaßnahmen, die Situation eskalierte und forderte 137 Tote. Albert Leo Schlageter wurde als Abschreckung wegen Spionage und Sabotage zum Tode verurteilt und hingerichtet, was ihn in der deutschen Öffentlichkeit zum Märtyrer machte.

Neben dem durch passiven Widerstand erzeugten wirtschaftlichen Schaden wollte man auch sprachlich Druck ausüben. So sollten bis dahin im Deutschen gebräuchliche Lehnwörter durch deutsche Begriffe ersetzt werden, beispielsweise Kasino durch Werksgasthaus, Telefon durch Fernsprecher, Trottoir durch Gehweg oder automatisch durch selbsttätig.

Ende des Ruhrkampfes

Beisetzung der Opfer

Während des passiven Widerstands wurden die Löhne von etwa zwei Millionen Arbeitern im Ruhrgebiet vom Staat übernommen, was ihn täglich rund 40 Millionen Mark kostete. Zu diesem Zweck ließ die Regierung unter Reichskanzler Cuno mehr Geld drucken. Dieses Vorgehen konnte nicht längere Zeit durchgehalten werden, da sich die Wirtschaftskrise verstärkte und Hyperinflation sowie Produktions- und Steuerausfälle den reichsdeutschen Haushalt belasteten.

Der neue Reichskanzler Gustav Stresemann sah sich am 26. September 1923 schließlich gezwungen, den Abbruch des passiven Widerstands zu verkünden. Antirepublikanischen, reaktionären Kräften in Bayern lieferte das Ende des Ruhrkampfs einen Vorwand zur Errichtung einer Diktatur. Der volkswirtschaftliche Gesamtschaden der Ruhrbesetzung wurde mit etwa vier bis fünf Milliarden Goldmark beziffert. Das Ende des Ruhrkampfs ermöglichte eine Währungsreform, die eine Bedingung für eine Neuverhandlung der Reparationen war. Damit endete schließlich eine Inflationsphase, die bereits 1914 begonnen hatte.

Ende der Ruhrbesetzung

Vorbeimarsch abziehender französischer Truppen am Dortmunder Hauptbahnhof, Oktober 1924

Auf Druck der USA und Großbritanniens lenkte Frankreich 1923/1924 durch Abschluss des MICUM-Abkommens ein. Die Besetzung des Ruhrgebiets endete gemäß dem 1924 verabschiedeten Dawes-Plan im Juli/August 1925.

Gedenken

Eine Liste von Denkmälern und Gedenktafeln im Ruhrgebiet / Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet:

  • Denkmal im Westpark Dortmund
  • Gedenktafel am Tunnel der Straße Hohle Eiche in Dortmund-Löttringhausen
  • „Ruhrbefreiungsdenkmal“ an der Brachtstraße[6] in Essen-Bredeney ( 51,41785° N, 6,99373° O)
  • Gedenktafel in Wanne-Eickel an der Hauptstraße, gegenüber Ulmenstraße;[7] heute ausgestellt im Ruhrmuseum Essen
  • Gedenktafel am Eisenbahntunnel des Ruhrtalradweges in Wetter-Wengern
  • Schlageter-Nationaldenkmal in Düsseldorf, 1931 eingeweiht, 1946 abgerissen
  • Ruhrkämpferehrenmal in Essen-Horst

Ein eindrucksvolles Denkmal für die am Karsamstag 1923 bei den Krupp-Werken von französischem Militär erschossenen Arbeiter stand auf dem Essener Ehrenfriedhof.[8]

Siehe auch

Literatur

  • Gustav Ritter und Edler von Oetinger: In Ketten vom Ruhrgebiet nach Saint=Martin de Ré. Erlebnisse politischer Gefangener im Ruhrgebiet, im Rheinland und in Frankreich 1923/24. Unter Hinzuziehung von amtlichem Material. Verlag Julius Hergt, Essen 1925.
  • Karl Schütze: Französische und belgische Militärjustiz im besetzten Gebiet. als Manuskript gedruckt 1928; Verlag Reimar Hobbing, Berlin 1930.
  • Franz Körholz: Der Ruhrkampf 1923–25 in der Stadt Werden. Werden 1929.
  • Hermann J. Rupieper: The Cuno Government and Reparations, 1922–1923. Politics and Economics. Den Haag u. a. 1979, ISBN 90-247-2114-8.
  • Michael Ruck: Die Freien Gewerkschaften im Ruhrkampf 1923. Frankfurt am Main 1986, ISBN 3-7663-0866-1.
  • Barbara Müller: Passiver Widerstand im Ruhrkampf. Eine Fallstudie zur gewaltlosen zwischenstaatlichen Konfliktaustragung und ihren Erfolgsbedingungen. Münster 1995, ISBN 3-8258-2675-9.
  • Peter Libermann: Does Conquest Pay? The Exploitation of Occupied Industrial Societies. Princeton, N.J. 1996, S. 87–98, 187–191, 228–229, ISBN 0-691-02986-5.
  • Stanislas Jeannesson: Poincaré, la France et la Ruhr 1922–1924. Histoire d'une occupation. Strasbourg 1998, ISBN 2-86820-689-1.
  • Elspeth Y. O'Riordan: Britain and the Ruhr crisis. Basingstoke u. a. 2001, ISBN 0-333-76483-8.
  • Conan Fischer: The Ruhr Crisis, 1923–1924. Oxford/New York 2003, ISBN 0-19-820800-6.
  • Klaus Kemp: Regiebahn. Reparationen, Besetzung, Ruhrkampf, Reichsbahn. Die Eisenbahnen im Rheinland und im Ruhrgebiet 1918–1930. EK-Verlag, Freiburg/Breisgau 2016, ISBN 978-3-8446-6404-1.
  • Gerd Krumeich; Joachim Schröder (Hrsg.): Der Schatten des Weltkriegs: Die Ruhrbesetzung 1923. Essen 2004, ISBN 3-89861-251-1 (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, 69).
  • Gerd Krüger: „Aktiver“ und passiver Widerstand im Ruhrkampf 1923. in: Besatzung. Funktion und Gestalt militärischer Fremdherrschaft von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, hrsg. von Günther Kronenbitter, Markus Pöhlmann und Dierk Walter, Paderborn u. a. 2006, S. 119–130, ISBN 978-3-506-71736-8 (Krieg in der Geschichte, 28).
  • Karl-Peter Ellerbrock (Hrsg.): Erster Weltkrieg, Bürgerkrieg und Ruhrbesetzung. Gesellschaft für Westfälische Wirtschaftsgeschichte e.V., Dortmund 2010, ISBN 978-3-87023-289-4 (Kleine Schriften, 33).
    • darin: Margrit Schulte Beerbühl: Dortmund unter französischer Besatzung (1923–1924). Erfahrungen und Erinnerungen an die Grenze.
  • Brigitte Braun: Mit FRIDERICUS REX gegen Franzosen und Belgier. Nationales Kino im Ruhrkampf 1923, in: Filmblatt Nr. 42, 2010, S. 66–85.
  • Günter Hortzschansky: Der nationale Verrat der deutschen Monopolherren während des Ruhrkampfes 1923. Dietz Verlag, Berlin (Ost) 1961.
  • Ralf Hoffrogge: Der Sommer des Nationalbolschewismus? Die Stellung der KPD-Linken zum Ruhrkampf und ihre Kritik am „Schlageter-Kurs“ von 1923. In: Sozial.Geschichte Online. Nr. 20/2017 (duepublico.uni-duisburg-essen.de).

Filme

  • Der Ruhrkampf – La Bataille de la Ruhr. Französische Filmaufnahmen aus Westfalen und dem Rheinland 1921–1925. DVD, hrsg. vom LWL-Medienzentrum für Westfalen, Münster 2006 (= Westfalen in historischen Filmen)
  • Franzosen im Revier – Der Ruhrkampf 1923. WDR 2008, Regie: Claus Bredenbrock
  • Der Feind am Rhein – Die alliierte Besatzung nach dem Ersten Weltkrieg. WDR 2009, Regie: Claus Bredenbrock

Weblinks

Commons: Ruhrbesetzung – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Chemins de Mémoire: Jean Degoutte 1866–1938. Ministère de la Défense, Direction de la Mémoire, du Patrimoine et des Archives, abgerufen am 3. Januar 2017.
  2. R. Castillon: Les réparations allemandes. Deux expériences. 1953.
  3. Fischer Weltgeschichte. Band R.A.C. Parker: Europa 1918 bis 1945. 1983, S. 78 ff.
  4. Johannes Bühler: Deutsche Geschichte. Band 6: Vom Bismarck-Reich zum geteilten Deutschland. Berlin 1960, S. 547 (books.google.de).
  5. Ralf Hoffrogge: Der Sommer des Nationalbolschewismus? Die Stellung der KPD-Linken zum Ruhrkampf und ihre Kritik am „Schlageter-Kurs“ von 1923 In: Sozial.Geschichte Online. Nr. 20/2017 (duepublico.uni-duisburg-essen.de).
  6. https://media.essen.de/media/histiorisches_portal/historischesportal_dokumente%2Fstreifzuege/Streifzug_Bredeney.pdf
  7. wanne-eickel-historie.de
  8. Abbildung Denkmal auf dem Ehrenfriedhof commons