Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze

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Gedenkstein für das während der Aktion geräumte Dorf Stresow

Aktion Ungeziefer und Aktion Festigung (MfS-Tarnname), auch Aktion Kornblume genannt, bezeichnen zwei große, generalstabsmäßig angelegte Operationen der DDR, die im Juni 1952 als „Aktion Ungeziefer“ und im Oktober 1961 als „Aktion Festigung“ und „Aktion Kornblume“ mit dem Ziel durchgeführt wurden, in politischer Hinsicht als unzuverlässig eingeschätzte Personen aus dem Sperrgebiet entlang der innerdeutschen Grenze zu entfernen.[1]

Aktion Ungeziefer

Die „Aktion Ungeziefer“ war ein Tarnname (im Gebrauch waren auch die Bezeichnungen Aktion Grenze und Aktion G) einer vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR vorbereiteten und von der Volkspolizei durchgeführten Zwangsumsiedlungsaktion, in deren Verlauf zwischen Mai und Juni 1952 von der Staatsführung als „politisch unzuverlässig“ eingeschätzte Bürger mit ihren Familien zwangsweise von der innerdeutschen Grenze in das Landesinnere umgesiedelt wurden. Grundlage und Auslöser dieser Aktion war die vom Ministerrat am 26. Mai 1952 beschlossene „Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands“ (Gesetzblatt [GBl.] der DDR Nr. 65 vom 27. Mai 1952 [Ausgabetag], S. 405).[2] Offiziell wurde die „Festigung“ der innerdeutschen Grenze als Ziel genannt.[3] Federführend für die Aktion war der Staatssekretär beim Ministerpräsident und vormalige Thüringer Ministerpräsident Werner Eggerath.

Der thüringische Innenminister und kommissarische Ministerpräsident Willy Gebhardt war für die Umsetzung der „Aktion Ungeziefer“ in Thüringen verantwortlich. Seine handschriftliche Notiz an den damaligen 2. Landesvorsitzenden und Landessekretär der SED in Thüringen, Otto Funke, über die Anzahl der dabei aus den Grenzgebieten in das Innere der DDR zwangsumgesiedelten Menschen „Otto, diese Zahlen hat mir eben Gen. König durchgegeben. Das wäre das Ergebnis der Kommissionsarbeit zur Beseitigung des Ungeziefers.“ wird vielfach als Ausdruck der menschenverachtenden oder gar entmenschlichenden Sichtweise der DDR-Führung beschrieben.[4]

Aktion Festigung/Kornblume

Eine ähnliche Aktion, die von den Einsatzleitungen in den Bezirken verschieden genannt wurde, wie: im Bezirk Erfurt „Aktion Kornblume“, im Bezirk Magdeburg „Aktion Neues Leben“, im Bezirk Suhl „Aktion Blümchen“, im Bezirk Karl-Marx-Stadt „Aktion Frische Luft“, im Bezirk Gera „Aktion Grenze“ und in den Bezirken Rostock und Schwerin „Aktion Osten“, fand im Oktober 1961 statt.[5]

Durchführung

Die Einschätzung der „politischen Unzuverlässigkeit“ erfolgte oft willkürlich (zum Teil auch durch Denunziationen von Nachbarn), so dass von der Zwangsumsiedlung Bürger mit Westkontakten, Kirchgänger, ehemalige Angehörige der NSDAP und ihrer Gliederungen, aber auch Bauern, die ihr Ablieferungssoll an den Staat nicht erfüllten, und Menschen, die sich in irgendeiner Form negativ über den Staat geäußert hatten, erfasst wurden. Vereinzelt stellten sich ganze Dörfer diesen Zwangsmaßnahmen entgegen, so dass die Umsiedlung nur unter Einsatz von Verstärkungskräften und um einige Tage verzögert stattfinden konnte. Betroffene erzählen, dass sie samt ihrem Hab und Gut auf einen Güterwagen der Bahn regelrecht verladen wurden; sie fuhren los, ohne ein Ziel zu kennen. Angekommen, wies man ihnen eine Wohnung oder ein Haus zu, das wertmäßig keineswegs dem entsprach, um das man sie gebracht hatte.

Die Zwangsumsiedlungen fanden ohne gesetzliche Grundlage statt. An den neuen Wohnorten wurde den Nachbarn erzählt, es handele sich um Kriminelle.[6][7] Dies hatte zur Folge, dass ihnen dort zunächst kein normales soziales Leben möglich war. Ziel dieser Lüge war es, die Ungesetzlichkeit der Umsiedelungsaktion zu vertuschen.

Historische Rezeption

Von Historikern wird davon ausgegangen, dass bei den Aktionen „Ungeziefer“ (1952) und „Festigung“ (1961) insgesamt zwischen 11.000 und 12.000 Menschen umgesiedelt wurden und sich ca. 3.000 Menschen dieser Maßnahme durch Republikflucht entzogen.[8][9] Für Aufsehen sorgte die gemeinsame Flucht von 34 Menschen aus Billmuthausen im Juni 1952[10] sowie von 53 Menschen aus Böseckendorf im Oktober 1961. Beide Orte liegen in Thüringen.

Literatur

Weblinks

Commons: Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Heiner Emde: Vergessene Opfer an der Grenze. In: Focus Online, 22. Februar 1993, aufgerufen am 15. Januar 2012.
  2. ISSN 0232-5993, DNB 010697810, OCLC 231207495.
  3. Susanne von Schenck: Aktion „Kornblume“ – Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze. (MP3; 3,4 MB) Gesendet am 1. Oktober 2011 in der Sendung Ortszeit auf Deutschlandradio Kultur, aufgerufen am 12. März 2012.
  4. Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (ThILLM): Der totgeschwiegene Terror. Zwangsaussiedlung in der DDR. (PDF; 28 MB) 2. Auflage; Schriftenreihe: Thillm : Materialien, 82; Bad Berka, April 2006; S. 18 + 58; ISBN 3-934761-50-X.
  5. Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (ThILLM): Der totgeschwiegene Terror. Zwangsaussiedlung in der DDR. (PDF; 28 MB) 2. Auflage; Schriftenreihe: Thillm : Materialien, 82; Bad Berka, April 2006; S. 19; ISBN 3-934761-50-X.
  6. Susanne von Schenck: Aktion „Kornblume“ – Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze. (MP3; 3,4 MB) Gesendet am 1. Oktober 2011 in der Sendung Ortszeit auf Deutschlandradio Kultur, aufgerufen am 21. Juli 2014.
  7. WDR Stichtag: [1] Gesendet am 3. Oktober 2011 in der Sendung "Stichtag", aufgerufen am 21. Juli 2014.
  8. Dietmar Schultke: Keiner kommt durch. Die Geschichte der innerdeutschen Grenze 1945–1990. Aufbau Verlag, Berlin 1999, S. 31–45, ISBN 3-7466-8041-7.
  9. Volker Koop: Den Gegner vernichten: Die Grenzsicherung der DDR. Bouvier, Bonn 1996, ISBN 3-416-02633-0.
  10. Norbert Klaus Fuchs: Billmuthausen – Das verurteilte Dorf. Greifenverlag zu Rudolstadt & Berlin 2009, ISBN 978-3-86939-004-8.