Benutzer:MYR67/Artikelwerkstatt Erich Nellmann

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Erich Nellmann (geb. 11. März 1895 in Groß-Sachsenheim im Landkreis Ludwigsburg, gest. 22. Mai 1968 in Stuttgart), war ein deutscher Jurist. Der Stuttgarter Generalstaatsanwalt gilt als einer der Initiatoren der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen.

Erich Nellmanns Eltern waren der Kaufmann Hugo Julius Friedrich (1851-1917) und seine Frau Pauline, geb. Fausel (1861-1916).

Nach dem Besuch der Volksschule in Großsachsenheim in den Jahren von 1901 bis 1904 wechselte Nellmann ans Gymnasium in Cannstatt (1904-1907) und dann ans Realgymnasium Cannstatt und Stuttgart-Stöckach, wo er 1913 die Abiturprüfung ablegte. Im Ersten Weltkrieg leistete Nellmann Kriegsdienst. Er erwarb das Eisernen Kreuz II. Klasse und I. Klasse sowie den württembergischen Friedrichs-Orden II. Klasse mit Schwertern und das Frontkämpferabzeichen. Seine beiden Eltern starben während des Ersten Weltkriegs – seine Mutter 1916, sein Vater 1917 – als Erich Nellmann erst Anfang 20 war.

Nach Ende des Ersten Weltkriegs, in den Jahren 1918 bis 1920, diente Nellmann als Freiwilliger in der von Paul Hahn begründeten Sicherheitswehr im Volksstaat Württemberg. Schon wärenddessen, im Jahr 1919, nahm Nellmann sein Studium der Rechtswissenschaft in Tübingen und München auf, das er 1922 mit der ersten juristischen Staatsprüfung abschloss.

Im Jahr 1923 heiratete Erich Nellman die 1896 geborene Dr. Hildegard Marie Luise Drescher. Das Paar hatte vier Kinder:

  1. Susanne (geb. 1926)
  2. Eva (geb. 1928), verheiratete Moos
  3. Eberhard (geb. 1930)
  4. Martin (geb. 1932)

Nach dem Referendariat legte Erich Nellmann 1925 die zweite juristische Staatsprüfung ab. Von 1927 bis 1934 war Nellmann Staatsanwalt in Tübingen, von 1934 bis 1945 Amtsgerichtsrat in Tübingen. Während des Zweiten Weltkriegs, in den Jahren 1939 bis 1945, war Nellmann zugleich stellvertretender Vorsitzender des Ehrengerichts der Handelskammer Reutlingen. Er wurde zur Wehrmacht eingezogen und arbeitete zunächst als Intendanturrat beim Stab der 7. Armee der Wehrmacht, die an der Westfront eingesetzt war. Ab 1941 war er als Kriegsverwaltungsrat bei der Wehrkreisverwaltung V in Stuttgart tätig. 1941 erwarb er das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse.

Noch 1945, also schon sehr bald nach dem Ende des Nationalsozialismus', wurde Nellmann Direktor beim Amtsgericht Tübingen. Von 1945 bis 1951 war Nellmann Mitarbeiter der Landesdirektion der Justiz bzw. im Justizministerium Württemberg-Hohenzollern; er war dort zunächst mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Generalstaatsanwalts betraut. Von 1949 bis 1951 war Nellmann Präsident des Landgerichts Hechingen. Von 1951 bis 1953 war er Oberstaatsanwalt in Stuttgart. Ab dem 1. April 1953 war Nellmann Ministerialrat im Justizministerium von Baden-Württemberg, ab 1. September 1953 Generalstaatsanwalt dieses Bundeslandes.

Am 28. April 1958 begann der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess vor dem Schwurgericht Ulm. Angeklagt waren zehn Gestapo-, SD- und Ordnungspolizei-Angehörige, Teile des Einsatzkommandos Tilsit, das zwischen Juni und September 1941 mehr als 5.500 jüdische Kinder, Frauen und Männer im litauisch-deutschen Grenzgebiet ermordet hatte. Ankläger war der Stuttgarter Oberstaatsanwalt Erwin Schüle. Dieser und Nellmann gelangten angesichts des Ulmer Einsatzgruppen-Prozesses zu der Einsicht, dass die gerichtliche Aufarbeitung des NS-Unrechts dringend sowohl qualitativ als auch quantitativ verbessert werden sollte. Die beiden Staatsanwälte hatten die Erfahrung gemacht, dass bei einer dezentralen Bearbeitung von NS-Großverfahren gerade die hochrangigen Täter von der Überforderung der Ermittlungsbehörden und Gerichte profitierten. Nachdem Nellmann und Schüle erkannt hatten, dass der großen Zahl ungeahndeter NS-Massenverbrechen mit den herkömmlichen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsstrukturen nicht beizukommen war, schlugen sie Mitte 1958 die Einrichtung einer zentralen, bundesweiten Ermittlungsbehörde für NS-Massenverbrechen vor. Für Nellmann spielte der Gesichtspunkt eine Rolle, dass für die Aufklärung der Massenverbrechen spezielle Hintergrundkenntnisse erforderlich waren, die bei einer Zentralbehörde eher aufzubauen wären als bei jeder einzelnen Staatsanwaltschaft.[1] Es war in erster Linie der Initiative des Generalstaatsanwalts Nellmann und des Staatsanwalts Schüle zu verdanken, dass im Sommer 1958 die Diskussion über die Defizite der bisherigen NS-Strafverfolgung auch auf politischer Ebene in Gang kam.[2] Generalbundesanwalt Max Güde, den Nellmann für sein Vorhaben hatte gewinnen wollte, gab frühzeitig zu erkennen, dass ihn Nellmanns Plan, ihn als obersten Ermittler für die strafrechtliche Aufarbeitung von NS-Unrecht einzusetzen, nicht gerade mit Begeisterung erfüllte.[3]

Im September 1958 veröfffentlichte Nellmann einen längeren Artikel in der Stuttgarter Zeitung, in dem er darauf hinwies, dass das bislang praktizierte Zufallsprinzip bei der Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen dem rechtsstaatlichen Gleichbehandlungsgebot widerspreche. Er schrieb: „Bisher wird rein zufällig verfolgt. Der eine hat das Pech, angezeigt zu werden, der andere nicht. Gewiß gibt es Tausende von unaufgeklärten Straftaten. Damit kann und muß man sich abfinden, wenn alles geschehen ist, um den Täter zu finden. Gerade bei diesen schlimmsten und folgenreichsten Verbrechen geschieht aber nicht alles.“[4] Diese Ungleichheit empfinde er als Ungerechtigkeit. „Wir dürfen nicht Mücken seihen und Kamele schlucken.”[5], schrieb er, frei nach Matthäus Kapitel 23, Vers 24. Nellmann forderte: „Wir dürfen nicht zulassen, dass Mörder und ihre Gehilfen, die wir mit systematischem und planvollem Vorgehen erreichen könnten, straflos ausgehen und zum Teil als Beamte und Angestellte des Staates, sogar der Polizei, tätig sind“.[6] Wenige Tage nach dem Erscheinen von Neilmanns Artikel wandte sich der baden-württembergische Justizminister Wolfgang Haußmann (FDP) an die Justizminister der anderen Bundesländer mit der Ankündigung, die Reformvorschläge von Nellmann und Schüle auf der nächsten Justizministerkonferenz vorzubringen.

Durch eine Verwaltungsvereinbarung der Justizminister und -senatoren der Länder vom 6. November 1958 wurde die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen gegründet; sie nahm am 1. Dezember 1958 in Ludwigsburg ihre Arbeit auf. Ihr erster Leiter wurde der Staatsanwalt Erwin Schüle.

Am 4. Januar 1958 war Anzeige gegen Dr. Paul Reimers, Landgerichtsrat beim Landgericht Ravensburg, erstattet worden. Reimers wurde als ehemaliger Richter am Berliner Sondergericht und am Volksgerichtshof wegen seiner Mitwirkung an 120 Todesurteilen angeklagt. Der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Erich Nellmann erhob jedoch nur in vier Einzelfällen Anklage gegen Reimers und stellte das Ermittlungsverfahren in den übrigen 116 Fällen ein. Dabei war, wie Nellmann einräumte, an der Echtheit der Reimers belastenden Unterlagen „zu zweifeln kein Anlass gegeben”. Nellmann machte sich jedoch die Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofes zueigen, nach der ein Beschuldigter wegen richterlicher Mitwirkung an einem Todesurteil nur dann belangt werden könne, wenn ihm der Vorsatz zur Rechtsbeugung nachgewiesen werden könne – was praktisch nur durch ein Geständnis möglich gewesen wäre. Kein einziger Richter am Volksgerichtshof ist rechtskräftig verurteilt worden, auch Paul Reimers nicht.[7]

Am 30. Juni 1961 ging Nellmann in den Ruhestand. Er starb im Alter von 73 Jahren am 22. Mai 1968 in Stuttgart.

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Nellmann, Erich Geburtsdatum/-ort: 11.03.1895; Großsachsenheim/Landkreis Ludwigsburg Sterbedatum/-ort: 22.05.1968; Stuttgart Beruf/Funktion: Landgerichtspräsident, Generalstaatsanwalt

Kurzbiografie: 1901-1904 Volksschule in Großsachsenheim 1904-1907 Gymnasium in Cannstatt 1907-1913 Realgymnasium Cannstatt und Stuttgart-Stöckach, dort Abitur 1914-1918 Kriegsdienst (Eisernes Kreuz II. Klasse, Eisernes Kreuz I. Klasse, Württembergischer Friedrichs-Orden II. Klasse mit Schwertern, Frontkämpferabzeichen) 1918-1920 Einsatz innerhalb der Freiwilligenformationen von Paul Hahn 1919-1922 Studium der Rechte in Tübingen und München 1922 I. Juristische Staatsprüfung, danach Gerichtsreferendar 1925 II. Juristische Staatsprüfung, danach Gerichtsassessor 1927-1934 Staatsanwalt in Tübingen 1934-1945 Amtsgerichtsrat in Tübingen 1939-1945 Stellvertretender Vorsitzender des Ehrengerichts der Handelskammer Reutlingen; Kriegsdienst, zunächst als Intendanturrat beim Stab der 7. Armee, seit 1941 als Kriegsverwaltungsrat bei der Wehrkreisverwaltung V in Stuttgart; 1941 Kriegsverdienstkreuz II. Klasse 1945 X Direktor beim Amtsgericht Tübingen 1945-1951 Mitarbeit in der Landesdirektion der Justiz bzw. im Justizministerium Württemberg-Hohenzollern; mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Generalstaatsanwalts betraut 1949-1951 Präsident des Landgerichts Hechingen 1951-1953 Oberstaatsanwalt in Stuttgart 1953 IV.01. Ministerialrat im Justizministerium Baden-Württemberg; (01.09. Generalstaatsanwalt) 1961 VI.30. Eintritt in den Ruhestand Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch Verheiratet: 1923 Dr. Hildegard Marie Luise Drescher (* 1896) Eltern: Hugo Julius Friedrich (1851-1917), Kaufmann Pauline, geb. Fausel (1861-1916) Kinder: Susanne (* 1926) Eva (* 1928), verh. Moos Eberhard (* 1930) Martin (* 1932) GND-ID: GND/1012715310, https://d-nb.info/gnd/1012715310 Biografie Biografie: In: Baden-Württembergische Biographien 3 (2002), 280-281 Quellen: Personalakten Nellmann im Justizministerium Baden-Württemberg, No. 8828; Bestand B 2 im Nachlass Gebhard Müller (HStAS, Q1/35); Protokolle der Landrätetagungen von Württemberg-Hohenzollern 1945-1947

Literatur + Links Literatur: Gebhard Müller blickt zurück ... Festgabe des Landtags von Baden-Württemberg, 1980; Tübingen 1945. Eine Chronik von Hermann Werner, bearb. und mit einem Anhang versehen von Manfred Schmid (Beiträge zur Tübinger Geschichte 1), 1986, 84, 136

Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, „Nellmann, Erich“, https://www.leo-bw.de/detail/-/Detail/details/PERSON/kgl_biographien/1012715310/Nellmann+Erich

Weinke, „Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland“

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S. 83:

So war es in erster Linie der Initiative des baden-württembergischen Generalstaatsanwalts Erich Nellmann und des Ulmer Staatsanwalts Erwin Schule zu verdanken, daß die Diskussion über die Defizite der NS-Strafverfolgung im Sommer 1958 auf politischer Ebene in Gang kam. Beide Strafverfolger waren aufgrund der Begleitumstände und der Ergebnisse des Ulmer Prozesses zu der Einsicht gelangt, daß die Aufarbeitung von NS-Unrecht dringend auf ein neues quantiatives und qualitatives Niveau gehoben werden mußte. [...]

Weil Nellmann und Schule erkannt hatten, daß dem Problem der ungeahndeten Massenverbrechen mit den herkömmlichen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsstrukturen nicht beizukommen war, entwarfen sie Mitte 1958 einen Plan zur Errichtung einer zentralen Ermittlungsbehörde für NS-Massenverbrechen.46 Konkret bestand ihr Vorschlag darin, eine interföderale Ermittlungsbehörde mit supraföderalen Befugnissen zu gründen, um so gegen einen bestimmten Kreis von Tatverdächtigen systematisch ermitteln zu können. Dabei spielte zum einen der Gesichtspunkt eine Rolle, daß es für die Aufklärung der Massenverbrechen an der Ostfront spezieller Hintergrundkenntnisse bedürfe, die bei einer einzelnen Behörde zu bündeln seien. Zum anderen ging diese Überlegung auf die Erfahrung zurück, daß es bei einer dezentralen Bearbeitung von NS-Großverfahren unweigerlich zum Verschleiß von Kapazitäten kommen müsse, von der wiederum gerade die hochrangigen Täter profitieren würden.

S. 84:

... unternahm Nellmann im Spätsommer 1958 dennoch den ungewöhnlichen Schritt, mit seiner Idee an die Öffentlichkeit zu treten. Dabei griff er eine auf doppelte Argumentationsstragie zurück: So plädierte er zum einen für die Verwirklichung rechtsstaatlicher Mindeststandards, indem er darauf hinwies, daß das bislang praktizierte Zufallsprinzip dem rechtsstaatlichen Gleichheitsgebot widerspreche. Zum anderen stieß er in einen aktuellen politischen Konflikt hinein, der ihm offenbar deshalb als besonders schwerwiegend erschien, weil er das Selbstverständnis der Bundesrepublik als freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat in fundamentaler Weise bedrohte. So scheute sich Nellmann nicht, die Zusammenhänge zwischen den aktuellen Justizskandalen und der NS-Belastung des bundesdeutschen Polizeidienstes zu thematisieren. Bisher habe der eine das »Pech gehabt, angezeigt zu werden, der andere nicht«, schrieb er im September 1958 in einem längeren Artikel in der »Stuttgarter Zeitung«, »diese Ungleichheit empfindet er und empfinden andere als Ungerechtigkeit«, und weiter forderte Nellmann: »Wir dürfen nicht zulassen, daß Mörder und ihre Gehilfen, die wir mit systematischem und planvollem Vorgehen erreichen könnten, straflos ausgehen und zum Teil als Beamte und Angestellte des Staates, sogar der Polizei, tätig sind«.50

S. 85:

Wenige Tage nach dem Erscheinen von Nellmanns Artikel wandte sich der baden-württembergische Justizminister Wolfgang Haußmann (FDP)54 an die Justizminister der Länder und kündigte an, die vorliegenden Reformvorschläge auf der kommenden Justizministerkonferenz vorbringen zu wollen.55 Generalbundesanwalt Max Güde56, den Nellmann für sein Vorhaben hatte gewinnen wollen, ließ hingegen frühzeitig durchblicken, daß ihn der Plan des Stuttgarter Chefanklägers, ihn als obersten Ermittler für die strafrechtliche Aufarbeitung von NS-Unrecht einzusetzen, nicht gerade mit Begeisterung erfüllte.

Der Spiegel Nr. 33/1959, »Ohne Schelle im Wald«

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NS-VERBRECHEN Ohne Schelle im Wald 11.08.1959, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 33/1959

Am 23. Juli hatte Peter Altmeiers allerchristlichstes Idyllen-Kabinett zwar keinen neuen Minister-Verlust zu beklagen, dennoch war an diesem Tage die rheinland-pfälzische Regierungsstimmung fast ebenso niedergedrückt wie seinerzeit, als der Finanzminister Nowack unversehens seiner Finanzierungs-Tätigkeit entsagen mußte: Kriminalbeamte verhafteten überraschend Altmeiers Landes-Kripochef, den Kriminaloberrat Dr. Georg Heuser: SS -Hauptsturmführer Dr. Heuser soll, wie die deutsche Presse alsbald berichten konnte, Massenerschießungen im russischen Minsk angeordnet und geleitet haben.

Freilich mochte das Kummer gewohnte Kabinett die neuerliche Schlappe insofern weniger schmerzhaft empfinden, als sie nicht durch profane Presseveröffentlichungen bewirkt, sondern sozusagen behördenintern veranlaßt worden war. Die Festnahme des rheinland-pfälzischen Oberpolizisten hatte sogar eine Stelle betrieben, an deren Schaffung und Unterhalt auch das rheinland-pfälzische Justizministerium teilhat: die »Zentrale Stelle zur Vorbereitung und Koordinierung der Verfolgung begangener KZ- und Kriegsverbrechen«.

Diese Zentralstelle, ein absolutes Novum in der deutschen Justiz, ist seit dem 1. Dezember vergangenen Jahres zu Ludwigsburg bei Stuttgart damit beschäftigt, Verbrechens-Komplexen aus den Jahren des »Dritten Reiches« nachzuspüren, die Urteile der bisherigen NS- und KZ-Prozesse zu sammeln sowie alle neuen Anzeigen zu registrieren - und das ohne Rücksicht darauf, wo die Straftaten begangen wurden und vor welchem örtlichen Gericht sie einmal verhandelt werden sollen.

Der Plan, eine Zentralstelle mit Ermittlungs- und Koordinierungsaufgaben einzurichten, entstand während der großen Gestapo- und KZ-Prozesse, die in den beiden letzten Jahren die Gerichte zu Bonn, Ulm, Ansbach und Arnsberg in Atem hielten. Dabei hatte sich immer wieder herausgestellt, daß sich aus solchen Prozessen neue Anschuldigungen wegen bis dahin völlig unbekannter Verbrechen ergaben.

Es kam auch vor, daß ein Staatsanwalt in Süddeutschland mühevoll seine Anklage vorbereitete, während sich eine Staatsanwaltschaft im Norden der Bundesrepublik schon längst mit demselben Fall oder wenigstens mit demselben Tatkomplex befaßt hatte. Reichte das Material einer Staatsanwaltschaft nicht aus, so wurde nicht angeklagt - obschon das zur Ergänzung notwendige Wissen vielleicht bei einer anderen Staatsanwaltschaft vorhanden war.

Dazu damals der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Erich Nellmann: »Bisher wird rein zufällig verfolgt. Der eine hat das Pech, angezeigt zu werden, der andere nicht. Gewiß gibt es Tausende von unaufgeklärten Straftaten. Damit kann und muß man sich abfinden, wenn alles geschehen ist, um den Täter zu finden. Gerade bei diesen schlimmsten und folgenreichsten Verbrechen geschieht aber nicht alles.«

Tatsächlich hing es vom Zufall oder von der Akribie einzelner Staatsanwälte ab, ob umfassend ermittelt wurde. Erhielt nämlich ein Staatsanwalt eine Anzeige, und stieß er bei den Ermittlungen auf weitere Beschuldigte, die nicht in seinem Bezirk wohnten, so konnte er entweder diese Beschuldigten in sein Verfahren einbeziehen oder aber, wie Nellmann zugeben mußte, einfach darauf verzichten. Nellmann: »Er kann dann zudem das zweifelhafte Lob ernten, die Sache nicht unnötig ausgeweitet zu haben.«

Eine dritte Möglichkeit war, die örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften auf die weiteren Beschuldigten hinzuweisen. In diesem Falle mußten die übernehmenden Staatsanwälte mit der Ermittlung des gleichen Sachverhalts beginnen, den der Kollege vom anderen Bezirk schon durchleuchtet hatte.

Allerdings erntete Baden-Württembergs Justizminister Dr. Wolfgang Haussmann, der Nellmanns Idee einer koordinierenden Spezialbehörde zur Verfolgung von NS-Verbrechen bei den Ministerkollegen der Bundesländer mit Erfolg vertrat, trotz solcher plausiblen Gründe nicht nur Anerkennung. Alsbald zeterten die Koordinierungs-Gegner, daß in Ludwigsburg »ein den Rahmen der ordentlichen Gerichtsbarkeit sprengendes Sonderorgan« entstehe. Freidemokrat Haussmann aber blieb, von Nellmann kräftig aufgebaut, für dieses Mal hart.

Den augenfälligsten Beweis für die Richtigkeit seiner These, daß die Ahndung schwerer Kriegsverbrechen nicht länger dem Zufall überlassen werden dürfe, lieferte dem Justizminister ein gewisser Staatsanwalt Schüle. Dem Erwin Schüle, Sachbearbeiter beim Generalstaatsanwalt in Stuttgart, geriet eines Tages routinemäßig die Haftbeschwerde eines Mannes namens Bernhard Fischer-Schweder auf den Schreibtisch.

Fischer-Schweder, einst SS-Oberfuhrer und Polizeidirektor in Memel, hatte ein staatliches Flüchtlingslager in Ulm geleitet, war wegen falscher Personalangaben entlassen worden und hatte sich hierauf unverfroren um Wiedereinstellung in den Polizeidienst beworben. Weil das nicht reibungslos vonstatten ging, verklagte er das Land Baden-Württemberg vor dem Arbeitsgericht.

Nachdem sein Name in diesem Zusammenhang in einigen Zeitungen genannt worden war, meldeten sich ehemalige Untergebene Fischer-Schweders mit schweren Anklagen: Er habe 1941 in Litauen Juden exekutieren lassen. Fischer-Schweder wurde inhaftiert und legte dagegen Beschwerde ein.

Die Verteidigung des ehemaligen SS-Schergen - ein Offizier der Wehrmacht habe ihm zum Tode verurteilte Heckenschützen zur Exekution übergeben - empörte den fronterfahrenen Oberleutnant a. D. Schüle. Schüle wußte: Wenn eine deutsche Heereseinheit Heckenschützen zum Tode verurteilte, so vollzog sie auch die Hinrichtung selbst. Fischer-Schweders Haftbeschwerde würde abgelehnt - und Schüle stellte nun auf eigene Faust Ermittlungen an.

Dabei stieß er auf eine der übelsten Greueltaten aus der Zeit des »Dritten Reiches«, die dann schließlich den Hintergrund des sechzehn Wochen dauernden Ulmer Kommando-Prozesses bildete. Schüle recherchierte von Stuttgart aus und legte als Oberstaatsanwalt in Ulm dar, was zwar in Teilkomplexen vor alliierten Gerichten schon behandelt, was jedoch der deutschen Justiz bis dahin offiziell noch nicht bekannt war: daß in den baltischen Ländern sogenannte »Einsatz-Kommandos« Tausende von Juden erschossen haben.

Sagt Schüle über seine damaligen Ermittlungen: »Ich wär schockiert. Es war für mich unfaßbar, daß man solche Befehle gibt und daß man sie ausführt, wenn man sie bekommt.« Das Urteil für Fischer-Schweder und zwei weitere Hauptangeklagte lautete auf zusammen 40 Jahre Zuchthaus. Dafür, daß er lückenloses Beweismaterial erbracht hatte, wurde Erwin Schüle zum Chef der Ludwigsburger Zentralstelle ernannt.

Inzwischen arbeiten Schüle und seine Gehilfen an einer Kartei, in der alle Hinweise auf Verbrechen des »Dritten Reiches« verzeichnet stehen sollen. Generalstaatsanwalt Nellmann: »Diesen Beamten sind die gedruckten Akten der Nürnberger Prozesse vertraut, sie kennen die jüdischen Organisationen, an die wir mit der Bitte um Hilfe herangetreten sind, sie kennen und durchforschen die in Betracht kommende Literatur, sie werden sich auch mit den Landesämtern für Wiedergutmachung in Verbindung setzen, die im Besitz reichen Materials sein müssen.

Freilich ist es der Zentralstelle nicht lieb, wenn ihre Existenz und ihr Eifer zu sehr ruchbar werden, weshalb Schüle peinlich genau darauf achtet, daß keine Nachrichten über spezielle Fälle nach außen dringen, die er innerhalb der Ludwigsburger Gefängnismauern, wo die Zentralstelle sitzt, gerade präpariert. Schüle: »Wenn ich jagen will, kann ich nicht vorher den Büttel mit der Schelle durch den Wald schicken und die Häschen warnen.«

Auf seinen ständigen Vernehmungsfahrten durch das Bundesgebiet - »Ich bin Commis voyageur der Justiz« - mußte der Zentralstellen-Leiter immer wieder die Erfahrung machen, daß Personen, denen die Beteiligung an Schandtaten des »Dritten Reiches« zur Last gelegt werden sollte, schon gewarnt waren.

Besonders solidarisch erwiesen sich die Altpolizisten. Die bisherige Spitzenleistung von Koordination gegen die Koordinierungsstelle erlebte Schüle denn auch bei seinen Nachforschungen zu dem in Berlin anhängigen Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Angehörige des im Osten eingesetzten Berliner Polizeibataillons 9. Die Beteiligten waren längst informiert und hatten sich abgesprochen.

Tatsächlich ist es eine Schwäche der Zentralstelle, daß sie bei ihren Forschungen weitgehend auf den guten Willen und die Initiative der örtlichen Behörden angewiesen ist. Schüle: »Wenn irgendwo ein Verfahren anhängig ist, wird nicht eingegriffen. Aber wahrscheinlich wird der zuständige Staatsanwalt an uns herantreten, und wir unterstützen ihn dann in seiner Arbeit.«

Die im ersten Haushaltsjahr von den Bundesländern mit 418 600 Mark dotierte Zentralstelle hat auch nicht die Möglichkeit, selbst Anklage zu erheben. Sie kann nur den zuständigen Staatsanwaltschaften ihr Material übergeben und um weitere Veranlassung bitten.

Trotzdem hat der dergestalt abgebremste Schüle nun in Rheinland-Pfalz - schon einige kleine Fische, aber dies ist der erste Spitzenbeamter - seinen großen Coup landen können. Unterlagen über die Massaker von Minsk lagen ihm bereits vor, als der Kriminaloberrat Dr. Heuser von seinem einstigen Chef angezeigt wurde, einem SS-Oberführer i. R., der bis vor kurzem unter falschem Namen in der Bundesrepublik lebte.

Den Rheinland-Pfälzern blieb nichts übrig, als ihren Parade-Kriminalisten zu verhaften - Innenminister Wolters: »Ein äußerst fähiger Beamter« -, der bei ihnen, obschon landesfremd und Berliner, in fünf Jahren vom Oberkommissar bis zum Kriminaloberrat und Leiter des Landeskriminalamts aufgestiegen war.

Allerdings hat sich die kameradschaftliche Zusammenarbeit der altgedienten Polizeibeamten nicht nur in Berlin, sondern auch in Rheinland-Pfalz bewährt. Zumindest schien Georg Heuser nicht erstaunt, als ihn die Kollegen festnahmen.

Den Erwin Schüle ficht das freilich kaum noch an. In Zukunft wird die deutsche Polizisten-Solidarität kein Hindernis mehr bilden, wenn es gilt, NS-Verbrecher dingfest zu machen, die einst Polizeiuniform trugen: Schüle verfügt neuerdings über eine Exekutiv-Sonderkommission aus gediegenen Beamten der Kriminalpolizei Baden-Württembergs, die auf seine Weisung von Ludwigsburg losfahren, sich an Ort und Stelle einen Haftbefehl besorgen und dann selbst verhaften.

Orakelte Nellmann, der Vater der Zentralstellen-Idee: »Wir dürfen nicht Mücken seihen und Kamele schlucken.« Den von Schüle geseihten Heuser hat der Innenminister Wolters mittlerweile »vorläufig« seines Dienstes enthoben.

Kriegsverbrechen-Fahnder Schüle

Nach kleinen Fischen ein Hecht

Zentralstellen-Gründer Haussmann

Endlich eine Idee

„NS-Verbrechen: Ohne Schelle im Wald“, in: Der Spiegel, Nr. 33/ 1959, 11. August 1959, https://www.spiegel.de/politik/ohne-schelle-im-wald-a-cfc8ecf9-0002-0001-0000-000042622250

Frankfurter Rundschau, 28.01.2019

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Der Nationalsozialismus kehrte Ende der 50er Jahre ins Wirtschaftswunderland zurück. In Ulm und Bayreuth, in Bonn und München standen 1958 Angehörige von SS-Einsatzgruppen und KZ-Wärter vor Gericht. Die bundesdeutsche Gesellschaft wurde plötzlich mit einer Vergangenheit konfrontiert, die als abgeschlossen galt. Schließlich hatten die Amerikaner im Mai 1958 die letzten verurteilten Kriegsverbrecher der Nürnberger Nachfolgeprozesse vorzeitig aus der Haft entlassen. Umso bestürzender waren die Prozessberichte. Sie enthüllten, dass längst nicht alle NS-Verbrechen bekannt, geschweige denn geahndet waren. Aus den Mördern der Konzentrationslager und Einsatzgruppen waren angeblich unbescholtene Bundesbürger geworden, meldete die Presse mit Erstaunen und wachsender Empörung.

Die Prozesswelle brachte die Justiz in Bedrängnis. Die NS-Verbrechen wurden von ihr ohne System und vielfach unwillig verfolgt. Unter dem Eindruck der Prozesse wuchs die Kritik an der "Zufallsjustiz" (Ernst Müller-Meiningen jr.). In einer Allensbach-Umfrage sprachen sich im August des Jahres 1958 knapp 54 Prozent für eine weitere Strafverfolgung der NS-Verbrechen aus. "13 Jahre nach dem Krieg reinen Tisch machen", forderte Carl Steinhausen in der "Welt".

Justiz und Politik mussten handeln. Am 3. Oktober 1958 beschlossen die Justizminister der Länder und des Bundes die Gründung einer zentralen Behörde zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Die Vorstellung, damit die unbequeme Vergangenheit innerhalb weniger Jahre zu bewältigen, war ein Irrtum. Bis heute hat die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen ihre Arbeit nicht abgeschlossen.

Auf den Weg gebracht wurde die neue Behörde von wenigen engagierten Juristen und Politikern. Zu ihnen gehörte der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Erich Nellmann, der den Ulmer Einsatzgruppenprozess vorangetrieben hatte: "Wir dürfen nicht zulassen, dass Mörder und ihre Gehilfen, die wir mit systematischem und planvollem Vorgehen erreichen können, straflos ausgehen und zum Teil als Beamte und Angestellte des Staates, sogar der Polizei, tätig sind." Nellmann schlug seinem Vorgesetzten, dem Baden-Württembergischen Justizminister Wolfgang Haußmann (FDP), eine zentrale Staatsanwaltschaft für die Verfolgung von NS-Verbrechen vor. Bei der Justizministerkonferenz im niedersächsischen Bad Harzburg konnte sich Haußmann mit dem Vorschlag nicht durchsetzen.

Manche seiner Kollegen lehnten eine intensivere Arbeit der Justiz rundweg ab. Hubert Ney (CDU), Justizminister des Saarlands, verlangte, dem "Volke die verdiente Ruhe zu gönnen". Mit der Ruhe war es jedoch längst vorbei. Seit 1957 attackierte die DDR öffentlich "Hitlers Blutrichter in Adenauers Diensten". Die bewährte Haltung aus Abwehr und Ignoranz konnte sich die Bundesrepublik gegenüber ihren Verbündeten und einer zunehmend kritischeren Öffentlichkeit nicht mehr leisten. So fiel der Beschluss zur Gründung der neuen Behörde am 3. Oktober einstimmig aus.

Am 1. Dezember 1958 nahm die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in einem ehemaligen Gefängnis an der Schorndorfer Straße in Ludwigsburg ihre Arbeit auf. Die Kompetenz der Staatsanwälte war begrenzt. Sie sollten allein die außerhalb der Bundesrepublik verübten Verbrechen ermitteln. Die Verbrechen der Justiz, aber auch die Morde in den "Euthanasieanstalten" waren der Zentralen Stelle entzogen. Selbstständig Anklage erheben konnten die Ludwigsburger Staatsanwälte nicht.

Trotz der Restriktionen und einer zunächst dürftigen Ausstattung entwickelte die Zentrale Stelle eine erstaunliche Aktivität. Unter Leitung von Erwin Schüle, der bereits die Anklage im Ulmer Einsatzgruppenprozess geführt hatte, wurden binnen eines Jahres mehr als 400 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Sie betrafen die Morde der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, die Ghettoräumungen im besetzten Polen und die Verbrechen in den Konzentrationslagern.

Schnell gab es spektakuläre Ergebnisse. So konnte im Sommer 1959 der Präsident des Landeskriminalamts von Rheinland-Pfalz Georg Heuser verhaftet werden. Der ehemalige SS-Hauptsturmführer war am Mord der jüdischen Bevölkerung in Weißrussland beteiligt. Mit den Erfolgen wuchs die Kritik an der Zentralen Stelle. Der Bürgermeister von Ludwigsburg sprach öffentlich von einem "bestimmten Geruch", der durch die Zentrale Stelle der Stadt anhafte. Bis zur Verjährung der in der NS-Zeit verübten Morde 1965 hoffte Schüle, sämtliche Taten zu erfassen. Doch die Ermittler stießen auf immer neue, bislang unbekannte Verbrechen. Die Tatorte lagen zumeist in Osteuropa.

Die dortigen Archive waren den Staatsanwälten verschlossen, da die Bundesrepublik keine diplomatischen Beziehungen zu den Ostblockstaaten unterhielt. Als sich Schüle dennoch um den Zugang zu den Akten bemühte, geriet er ins Kreuzfeuer der Schlussstrichapologeten und DDR-Propaganda. Vergeblich versuchte die Stasi, der bundesdeutschen Justiz den Weg zu den Archiven der sozialistischen Bruderländer abzuschneiden. Den Ludwigsburger Behördenleiter konnten Mielkes Männer jedoch zu Fall bringen, als sie Schüles NSDAP- und SA-Mitgliedschaft publik machten.

Das Material aus Polen sorgte 1964 für einen neuen Schub an Ermittlungsverfahren. Die Verjährungsfrist für Mord wurde 1965 erstmals verlängert und die Kompetenz der Zentralen Stelle auch auf die im Bundesgebiet verübten Verbrechen erweitert.

Die Bilanz der Zentralen Stelle ist zwiespältig: Die Staatsanwälte leiteten mehr als 7300 Ermittlungsverfahren ein. Davon waren knapp 106 000 Personen betroffen. Weniger als 6500 wurden jedoch rechtskräftig verurteilt. Die meisten nicht wegen Mordes, sondern wegen Beihilfe zum Mord. Darunter auch Leiter von Einsatzkommandos und Adjutanten von KZ-Kommandanten. Bei ihrer Arbeit trugen die Staatsanwälte hunderttausende Zeugenaussagen, Dokumente, Fotos zusammen.

Das einzigartige Archiv der NS-Verbrechen steht seit langem der Forschung offen. Neben Historikern und Archivaren arbeiten immer noch Staatsanwälte in Ludwigsburg. Das kleine Team um Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm führt derzeit noch mehr als 20 Ermittlungsverfahren. Sie betreffen prominente NS-Verbrecher wie den flüchtigen KZ-Arzt Aribert Heim und den KZ-Wärter Iwan Demjanjuk. "Ein Schritt voran ist getan worden, aber das Ziel noch weit", kommentierte die Stuttgarter Zeitung den Gründungsbeschluss der Justizminister vor 50 Jahren. Das Ziel, die NS-Verbrechen ahnden, ist auch im 21. Jahrhundert noch nicht erreicht.

Andreas Mix, „Als die Mörder nicht mehr davonkommen sollten. Vor 50 Jahren wurde in Ludwigsburg die Zentrale Stelle zur Aufklärung der NS-Verbrechen gegründet. Ihr Ziel hat sie auch heute noch nicht vollständig erreicht - aber sie ist ein wertvolles Archiv“., in: Frankfurter Rundschau, Stand: 28. Januar 2019, 20:24 Uhr, https://www.fr.de/kultur/moerder-nicht-mehr-davonkommen-sollten-11559351.html

Nelhiebel, „So war das mit Herrn Oberländer“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2004

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S. 1137:

Mehr als gewohnt nahm die Öffentlichkeit von den scheußlichen Verbrechen Kenntnis, derentwegen sich ehemalige SS- und Polizeiangehörige 1958 im Ulmer Prozess gegen das „Einsatzkommando Tilsit” zu verantworten hatten. Erstmals gab es Kritik an der unsystematischen Verfolgung von Mordverdächtigen aus der Zeit des so genannten Dritten Reiches, bis schließlich der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Erich Nellmann die Einrichtung einer zentralen Ermittlungsstelle empfahl. Sie sollte das Material über ungesühnte NS-Verbrechen sammeln und den zuständigen Staatsanwaltschaften zur weiteren Behandlung zuleiten. Nellmann begründete seinen Vorschlag mit den Worten, es dürfe nicht zugelassen werden, dass Mörder und ihre Gehilfen, die durch planvolles Vorgehen erreicht werden könnten, straflos blieben und zum Teil sogar als Beamte oder Angestellte im Staatsdienst tätig seien.2 Noch im selben Jahr riefen die Länderjustizminister eine solche zentrale Stelle mit Sitz in Ludwigsburg ins Leben. Ihre Leitung übernahm der Ankläger aus dem Ulmer Einsatzkommandoprozess, Oberstaatsanwalt Erwin Schüle.

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Zwei Namen dürfen nicht unkommentiert bleiben, weil sie ein bezeichnendes Licht auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft werfen. Da ist zunächst Erich Nellmann, der mit seinem Vorschlag zur Schaffung einer zentralen

S. 1140:

Stelle der Landesjustizverwaltungen einen wichtigen Beitrag zur juristischen Aufarbeitung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen geleistet hat. Aber derselbe Erich Nellmann zeigte sich keine zwei Jahre später als Stuttgarter Generalstaatsanwalt gegenüber einem der schlimmsten Nazirichter von geradezu grenzenloser Milde und Nachsicht. Gegen den ehemaligen Richter am Berliner Sondergericht und am Volksgerichtshof Dr. Paul Reimers, damals Landgerichtsrat beim Landgericht Ravensburg, war am 4. Januar 1958 Anzeige wegen Mitwirkung an 120 Todesurteilen erstattet worden. Der Stuttgarter Generalstaatsanwalt lehnte es bis auf vier Einzelfälle ab, gegen Reimers Anklage zu erheben und stellte das Ermittlungsverfahren in den anderen 116 Fällen ein.10 Dabei war, wie Nellmann einräumte, an der Echtheit der Unterlagen „zu zweifeln kein Anlass gegeben”. Der angezeigte Richter blieb ungeschoren, weil sich der Generalstaatsanwalt die Ansicht des Bundesgerichtshofes zu Eigen machte, ein Beschuldigter könne wegen richterlicher Mitwirkung an einem Todesurteil nur belangt werden, wenn ihm vorsätzliche Rechtsbeugung nachgewiesen werde.11 Da dieser Nachweis praktisch ein Geständnis voraussetzt, hatten die ehemaligen Nazirichter den Gang der Dinge stets selbst in der Hand. Gestanden hat keiner. Kein einziger Richter am Volksgerichtshof ist jemals rechtskräftig verurteilt worden – auch Paul Reimers nicht. Dem Stuttgarter Generalstaatsanwalt unterliefen in seiner Einstellungsverfügung vom 17. Juni 1960 denkwürdige Formulierungen, die unversehens den Blick freigeben auf die Seelenabgründe ihres Urhebers. So schrieb Nellmann beispielsweise: „Soweit Juden verurteilt wurden, liegt es nahe, dass sich die Zugehörigkeit der Angeklagten zu einem Volke, das damals allgemein für minderwertig gehalten wurde und das unter Sonderrecht gestellt war, im Strafausspruch ausgewirkt hat.” An anderer Stelle heißt es: „Auch wenn man den genauen Beitrag des Beschuldigten zu diesem Urteil kennen würde, so müsste man ihm doch wohl zugute halten, dass er aus einer gewissen Rechtsblindheit gegenüber den menschlichen Problemen, die solche Fälle aufweisen, für die Todesstrafe stimmen zu müssen geglaubt hat.” So argumentierte ein angesehener Jurist, der zur Untermauerung seines Verlangens nach konsequenter Verfolgung der KZ-Schinder und Judenmörder noch kurz davor den biblischen Spruch ins Feld geführt hatte: „Wir dürfen nicht Mücken seihen und Kamele schlucken.”12

Wenden wir uns Erwin Schüle zu, dem ersten Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen. Der Oberstaatsanwalt hatte sich als Ankläger im Ulmer Einsatzkommandoprozess einen Namen gemacht. Als es darum ging, für die geplante neue Behörde einen geeigneten Juristen zu finden, brachte Generalstaatsanwalt Nellmann sofort Erwin Schüle als den Mann ins Gespräch, der – wie er formulierte – mit „aller rechtsstaatlich zulässigen Härte” gegen die NS-Mörder vorgehen werde.

Kurt Nelhiebel, „So war das mit Herrn Oberländer“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2004, S. 1137, https://www.blaetter.de/node/22515/download

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Geschichte(n) der württembergischen Staatsanwaltschaften, Buchbesprechung von Klaus Beer, NRV-Info | Baden-Württemberg, 02 | 2012, S. 45, zu: Hrsg. Klaus Pflieger: „Die Geschichte(n) der württembergischen Staatsanwaltschaften“, IPa Verlag oHG, 71665 Vaihingen/Enz, 2009, ISBN 978-3-933486-71-4, https://www.neuerichter.de/fileadmin/user_upload/lv_baden-wuerttemberg/BAW-2012-02_Info_45.pdf

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Literatur und Quellen

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Einzelnachweise

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  1. Annette Weinke, „Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland: Vergangenheitsbewältigung 1949-1969, oder: eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg“, S. 83, Schöningh-Verlag, Paderborn, München u.a., 2002, Signatur: PVA 2002.4447, https://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb00045087_00001.html?prox=true&phone=true&ngram=true&hl=scan&fulltext=Nellmann&mode=simple&context=Nellmann
  2. Annette Weinke, „Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland: Vergangenheitsbewältigung 1949-1969, oder: eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg“, S. 83, Schöningh-Verlag, Paderborn, München u.a., 2002, Signatur: PVA 2002.4447, https://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb00045087_00001.html?prox=true&phone=true&ngram=true&hl=scan&fulltext=Nellmann&mode=simple&context=Nellmann
  3. Annette Weinke, „Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland: Vergangenheitsbewältigung 1949-1969, oder: eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg“, S. 85, Schöningh-Verlag, Paderborn, München u.a., 2002, Signatur: PVA 2002.4447, https://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb00045087_00001.html?prox=true&phone=true&ngram=true&hl=scan&fulltext=Nellmann&mode=simple&context=Nellmann
  4. zitiert nach: „NS-Verbrechen: Ohne Schelle im Wald“, in: Der Spiegel, Nr. 33/ 1959, 11. August 1959, https://www.spiegel.de/politik/ohne-schelle-im-wald-a-cfc8ecf9-0002-0001-0000-000042622250
  5. zitiert nach: Kurt Nelhiebel, „So war das mit Herrn Oberländer“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2004, S. 1140, https://www.blaetter.de/node/22515/download . Ebenso in: „NS-Verbrechen: Ohne Schelle im Wald“, in: Der Spiegel, Nr. 33/ 1959, 11. August 1959, https://www.spiegel.de/politik/ohne-schelle-im-wald-a-cfc8ecf9-0002-0001-0000-000042622250
  6. Annette Weinke, „Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland: Vergangenheitsbewältigung 1949-1969, oder: eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg“, S. 84, Schöningh-Verlag, Paderborn, München u.a., 2002, Signatur: PVA 2002.4447, https://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb00045087_00001.html?prox=true&phone=true&ngram=true&hl=scan&fulltext=Nellmann&mode=simple&context=Nellmann
  7. Kurt Nelhiebel, „So war das mit Herrn Oberländer“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2004, S. 1140, https://www.blaetter.de/node/22515/download

Personen-Normdaten etc.

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Kategorie:Kriegsverwaltungsrat Kategorie:Träger des Kriegsverdienstkreuzes Kategorie:Träger des Eisernern Kreuzes I. Klasse Kategorie:Träger des Eisernern Kreuzes II. Klasse