Goldene Regel

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Als goldene Regel wird allgemein ein wichtiger Merkspruch oder ein markantes Motto bezeichnet. Im engeren Sinne bezieht sich die Bezeichnung aber auf die moralische Regel, die zum Sprichwort geworden ist in dem Bibelwort

Was du nicht willst,
dass man dir tu,
das füg auch keinem andern zu.
Tobias 4,16[1]

oder umgekehrt

Alles nun, was ihr wollt,
das euch die Leute tun sollen,
das tut ihnen auch!
Matthäus 7,12[2]

Die goldene Regel ist in mannigfaltigen Variationen Grundbestandteil der ethischen Vorstellungen vieler Religionen. Einerseits ist sie von Kants kategorischem Imperativ zu unterscheiden, denn die goldene Regel bezieht sich auf den Einzelnen (und sein Gegenüber), nicht auf ein allgemeines Sittengesetz. Andererseits erhebt auch die goldene Regel formal einen universellen Geltungsanspruch und abstrahiert vom konkreten Einzelfall. Manche bezeichnen sie als volkstümliche Variante des kategorischen Imperativs. Für viele Philosophen stellt die goldene Regel den Kern von Moral dar, weil sie an die menschliche Vorstellungskraft, Einfühlung, Gegenseitigkeit und Folgenbewusstsein appelliert.

Der Inhalt der Goldenen Regel

Anhand dieser Regel prüft man die moralische Zulässigkeit einer bestimmten eigenen Handlung in Bezug auf andere Menschen, indem man sich fragt, ob man seinerseits von ihnen in dieser Weise behandelt werden möchte. Wenn man das nicht will, dann ist die Handlung unmoralisch und man soll sie unterlassen. So kann jeder aus seinen eigenen Abneigungen konkrete moralische Normen für das eigene Handeln ableiten. Wenn ich z. B. selbst nicht will, dass man mich beleidigt, so soll ich es gemäß der Goldenen Regel auch meinerseits unterlassen, andere zu beleidigen.

Bei gleichartigen Abneigungen der Einzelnen führt die Anwendung der Goldenen Regel durch verschiedene Personen zu übereinstimmenden Ergebnissen. Da sie einfach anzuwenden ist, leistet sie in der moralischen Erziehung gute Dienste.

Beispiele

Religionen

Die Goldene Regel ist in den meisten Weltreligionen fest verankert. Daher wurde sie auch im Projekt Weltethos von Hans Küng und der „Erklärung zum Weltethos“ durch das Parlament der Weltreligionen von 1993 wichtig. Aus der Goldenen Regel werden hier vier Prinzipien als „unverrückbare Weisungen“ entwickelt:

  1. Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben
  2. Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung
  3. Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit
  4. Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau

Zwischen den einzelnen Versionen sind leichte, aber relevante Unterschiede feststellbar. So ist die Bahá'í-Variante wie auch die aus der Bergpredigt entnommene christliche positiv formuliert und fordern nicht nur das Nichttun dessen, was selbst nicht gewünscht wird, sondern auch das Tun dessen, was man selbst erstrebt.

Chronologie verwandter Regeln

  • 8.-6. Jahrhundert v. Chr.: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR.“ − Tora und Bibel (Leviticus 19, 18), Judentum
  • 620 v. Chr.: „Was immer du deinem Nächsten verübelst, das tue ihm nicht selbst.“ − Pittakos von Mytilene, einer der griechischen Sieben Weisen
  • um 500 v. Chr.: „Ein Wort, das als Verhaltensregel für das Leben gelten kann, ist Gegenseitigkeit. Bürde anderen nicht auf, was du selbst nicht erstrebst.“ − Lehre vom mittleren Weg 13, 3, Konfuzianismus
  • um 500 v. Chr.: „Daher übt er (der Weise) keine Gewalt gegen andere, noch heißt er andere so tun.“ − Acarangasutra 5, 101-102, Jainismus
  • um 500 v. Chr.: „Füge anderen nicht Leid durch Taten zu, die dir selber Leid zufügten.“ − Buddhismus
  • 5. Jahrhundert v. Chr.: „Tue anderen nicht an, was dich ärgern würde, wenn andere es dir täten.“ − Sokrates, griechischer Philosoph
  • 4. Jahrhundert v. Chr.: „Soll ich mich andern gegenüber nicht so verhalten, wie ich möchte, dass sie sich mir gegenüber verhalten?“ − Platon, griechischer Philosoph
  • 4. Jahrhundert v. Chr.: „Man soll sich nicht auf eine Weise gegen andere betragen, die einem selbst zuwider ist. Dies ist der Kern aller Moral. Alles andere entspringt selbstsüchtiger Begierde.“ − Mahabharata, Anusasana Parva 113, 8; Mencius Vii, A, 4, Hinduismus
  • 2. Jahrhundert v. Chr.: „Was du nicht leiden magst, das tue niemandem an.“ - Buch Tobit, Judentum
  • 90 v. Chr.: „Was du selbst zu erleiden vermeidest, suche nicht anderen anzutun.“ − Epiktet
  • Zirka 30 vor Christus bis 9 nach Christus: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Das ist die ganze Tora, alles andere ist Kommentierung.“ − Hillel der Ältere
  • 2. Jahrhundert: „Was dir selbst verhasst ist, das tue nicht deinem Nächsten an. Dies ist das Gesetz, alles andere ist Kommentar.“ − Talmud, Shabbat 31a, Judentum
  • 7. Jahrhundert: „Der vorzügliche Glaube ist, das, was du für dich wünschst, auch den anderen zu wünschen und das, was du dir nicht wünschst, den anderen auch nicht zu wünschen.“ − Hadithsammlung des Ahmad Ibni Hanbal, Islam
  • 19. Jahrhundert: „Und wenn du deine Augen auf die Gerechtigkeit wendest, so wähle für deinen Nächsten dasjenige, was du für dich selbst erwählet hast.“ − Brief an den Sohn des Wolfs 30, Bahai
  • 1870er: „Wünsche er nicht anderen, was er nicht für sich selbst erwünschet.“ − Bahai
  • Mitte 20. Jahrhundert: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ − Erich Kästner
  • 1970er: „Ich denke von dir, wie ich wünsche, dass du über mich denkst. Ich spreche von dir, wie ich wünsche, dass du über mich sprichst. Ich handle dir gegenüber so, wie ich wünsche, dass du es mir gegenüber tust.“ − Arthur Lassen
  • 1997: „Alle Menschen, begabt mit Vernunft und Gewissen, müssen im Geist der Solidarität Verantwortung übernehmen gegenüber jedem und allen, Familien und Gemeinschaften, Rassen, Nationen und Religionen: Was du nicht willst, daß man dir tut, das füg' auch keinem anderen zu.“ − Artikel 4 Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten[4]
  • 1999: „Tue nichts, was du nicht möchtest, dass man dir tun soll.“ − British Humanist Society, Humanismus

Kritik an der Goldenen Regel

  • Der Schwachpunkt der Goldenen Regel liegt in der faktischen Voraussetzung, dass die Menschen gleiche Abneigungen haben. Zwar gibt es große Bereiche, in denen der Schluss von sich auf andere zulässig ist, doch können die Wünsche und Abneigungen von Mensch zu Mensch sehr verschieden sein.[5] Typische Beispiele sind masochistische oder allgemein intuitiv „unmoralische“ Wünsche. Deshalb kann die Goldene Regel auch nur eine leicht anzuwendende Faustregel sein, die in der Mehrzahl der Fälle zu brauchbaren, intersubjektiv übereinstimmenden Ergebnissen führt.
  • Ein anderer Einwand gegen die allgemeine Anwendbarkeit der Goldenen Regel lautet: Wenn ich dem Andern nichts antun soll, von dem ich nicht will, dass es andere mir antun, dann dürfte z. B. eine Politesse keinem Parksünder einen Strafzettel ausstellen, wenn sie selbst auch keinen Strafzettel bekommen will. Solche Probleme entstehen für die Anwendung der Goldenen Regel u.a. immer dann, wenn die Situation durch bereits verbindlich gesetzte Strafen bestimmt wird. Diese Schwierigkeit wurde bereits von Immanuel Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gegen die Goldene Regel vorgebracht. Derartige Fälle lassen offenbar außerdem unterschiedliche Handlungsbeschreibungen zu, etwa: „einen Strafsünder bestrafen, außer ich bin es“, „einen Strafsünder bestrafen, wenn dies gerechtfertigt bzw. vorgeschrieben ist“, „einen Gesetzesverstoß ordnungsgemäß ahnden“, „das geltende Recht befolgen“, „Gutes tun“ usw. - wobei einige dieser Überlegungen unterschiedliche Resultate nahelegen und manche unsinnig scheinen (etwa die letztere, weil sie maximal unspezifisch ist). Die goldene Regel allein gibt aber nicht vor, welcher Art und wie weit die zu prüfenden Handlungen bzw. Maximen sein sollen. Nur einseitig und konsequent angewendet kann sie zu sogenannten „master-and-servant“-Situationen („Herr und Knecht“), beschrieben im Gefangenendilemma, führen, da jemand, der sich im Gegensatz zu seinem Gegenüber nicht an die Goldene Regel hält, keine Vergeltung fürchten muss und somit sein Gegenüber mit Leichtigkeit unterwerfen und seinen Wünschen und Neigungen entsprechend behandeln kann. Hier führt ein bedingungsloses Festhalten an der Goldenen Regel also zur Degradierung zum bloßen Objekt Anderer.
  • Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich bei konkurrierenden Interessen. Dies lässt sich anhand des folgenden Beispiels demonstrieren: Ich frage mich, ob ich den Rasen mähen darf. Ich selbst würde wegen des damit verbundenen Lärms nicht wollen, dass mein Nachbar seinen Rasen mäht. Dies scheint aber kein geeignetes Argument gegen mein eigenes Rasenmähen. Denn die Vorteile des einen (gepflegter Garten usw.) scheinen die Nachteile des anderen (vorübergehender Lärm) zu überwiegen. Hier ist zumindest der bloße Interessensvergleich unabhängig von deren Gewichtung nicht hinreichend zur Handlungsbewertung. Besonders deutlich wird das Versagen der Regel bei Interessenkonflikten in der Brett-des-Karneades-Situation.
  • Teilweise beruht die Kritik an der Goldenen Regel jedoch auf Missverständnissen. Zu den Fehlinterpretationen der goldenen Regel zählt, dass sie mitunter als Vergeltungsprinzip betrachtet wird. Talion aber (Gleiches mit Gleichem vergelten) ist ein Reaktionsprinzip: das Objekt einer Handlung reagiert darauf mit gleichen Mitteln. Die goldene Regel hingegen versteht sich als vorausschauendes Aktionsprinzip: Der Einzelne soll bewusst als Subjekt agieren, Provokation und Gewalt vermeiden und die bloße Vergeltung („Auge um Auge…“) durch positives Handeln oder Unterlassen überwinden.

In präferenzutilitaristischen Theorien (wie Peter Singers Praktische Ethik) wurden diverse Präzisierungen und Modifikationen vorgeschlagen. Auch einige deontologische Theorien wie die kantische Ethik haben einige der vorbenannten Probleme nicht.

Positive und negative Form

Die positive Form der Goldenen Regel kann man in die Worte fassen: „Behandele andere so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest!“ Daraus können Gebote in Bezug auf das eigene Handeln abgeleitet werden. Man kann sich z. B. fragen, ob man andere Menschen höflich behandeln soll. Wenn man selbst höflich behandelt werden möchte, dann soll man gemäß der positiven Goldenen Regel auch andere höflich behandeln.

Die positive Formulierung der Goldenen Regel führt jedoch noch deutlicher als die negative Formulierung in vielen Fällen zu inakzeptablen Ergebnissen. Ein Beispiel: Ich hätte es gern, wenn mir mein Nachbar monatlich 1000 € schenkt. Gemäß der positiv formulierten Regel müsste ich in diesem Fall meinem Nachbarn meinerseits monatlich 1000 € schenken. Eine Möglichkeit, auf derartige Probleme zu reagieren, sind weitere Universalisierungsforderungen, etwa, die Regel auf allgemeine Handlungsprinzipien anstatt konkrete Wünsche wie im voranstehenden Beispiel zu beziehen, oder aber sie nur auf selbst wiederum moralisch legitime Wünsche zu beziehen.

Die negative Form „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu“ fordert aktives Unterlassen ein: etwas ist bewusst nicht zu tun.

Siehe auch

Literatur

  • Brinkmann, Walter (2001): Die Goldene Regel und der Kategorische Imperativ, Rationalität und praktische Notwendigkeit, in: Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, hrsg. von Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann und Ralph Schumacher, Berlin, New York, Bd. 3, S. 13–20.
  • Dihle, Albrecht (1962): Die Goldene Regel. Eine Einführung in die Geschichte der antiken und frühchristlichen Vulgärethik, Göttingen,
  • Gensler, Harry J. (1998): Ethics. A Contemporary Introduction, London, S. 104–21.
  • Gewirth, Alan (1978): Human Rights. Essays on Justification and Applications, Chicago 1998, 128–42 („The Golden Rule Rationalized“).
  • Hoerster, Norbert (1974): R. M. Hares Fassung der Goldenen Regel, Philosophisches Jahrbuch 81, S. 186–96.
  • Hruschka, Joachim (2004): Die Goldene Regel in der Aufklärung – die Geschichte einer Idee, Jahrbuch für Recht und Ethik, Band 12, hrsg. von B. Sharon Byrd, Joachim Hruschka und Jan C. Joerden, S. 157–72.
  • Mathys, Hans-Peter / Heiligenthal, Roman / Schrey, Heinz-Horst (1984): Goldene Regel I. Judentum II. Neues Testament und frühes Christentum III. Historisch und ethisch. In: Theologische Realenzyklopädie 13, S. 570-583 (Überblick mit weiterer Lit.)
  • Reinikainen, Jouni (2005): The Golden Rule and the Requirement of Universalizability, Journal of Value Inquiry 39, S. 155–68.
  • Rost, H. T. D. (1986): The Golden Rule, Oxford.
  • Sand, A./Hunold, G.W. (1995): Art. Goldene Regel, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Auflage, Bd. 4, Freiburg 1995, 821-823
  • Schüller, Bruno (1973): Die Begründung sittlicher Urteile. Typen ethischer Argumentation in katholischen Moraltheologie, Düsseldorf, S. 56–71 („Die Goldene Regel“).
  • Schrey, H.-H./Hoche, Hans-Ulrich (1992): Regel, goldene, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel, S. 450–64.
  • Singer, Marcus G. (1963): The Golden Rule, Philosophy 38, S. 293–314.
  • Singer, Marcus G. (1967): The Golden Rule, in Encyclopedia of Philosophy, Vol. 3, hrsg. von Paul Edwards, New York, S. 365–67.
  • Wattles, Jeffrey (1996): The Golden Rule, New York, Oxford.

Einzelnachweise

  1. Laut Lutherbibel von 1984, Apokryphen
  2. In der Lutherübersetzung dort unter der Überschrift: „Vom Tun des göttlichen Willens“, und mit dem Nachsatz: "Das ist das Gesetz und die Propheten."
  3. Übersetzung von Fridolin Stier
  4. http://www.interactioncouncil.org/udhr/de_udhr.html
  5. Siehe J.L. Mackie: Ethics. Harmondsworth 1977. Kapitel 4.

Weblinks