Homophilenbewegung

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Als Homophilenbewegung bezeichnet man die Emanzipationsbewegung homosexueller Männer und teilweise Frauen von den 1940er bis Ende der 1960er Jahre. Anhand der Bezeichnung wird sie historisch abgegrenzt von der vorhergehenden Homosexuellenbewegung vom Ende des 19. Jahrhunderts bis Ende der 1930er Jahre und der Schwulen- und Lesbenbewegung seit den 1970er Jahren.

Ideell speiste sie sich aus der ersten Homosexuellenbewegung, konnte deren Erbe aber aufgrund der auch sozial und intellektuell zerstörerischen Homosexuellenpolitik der Nationalsozialisten nur in stark fragmentarisierter Form wahrnehmen. Tradiert und transformiert wurde dieses Erbe vor allem in der Schweiz, von dort befördert entstand in den Niederlanden (ab 1946), Skandinavien (ab 1948) sowie in den USA die organisierte Homophilenbewegung. Diese teilte sich in zwei Flügel, einen eher ästhetizistischen, der sich bemühte, eine homosexuelle Identität und Lebensräume für Homosexuelle zu kultivieren, sowie einen aktivistischen Flügel, dem es aufgrund des sexualpolitisch weltweit repressiven Klimas allerdings kaum gelang, gesellschaftlich oder politisch wirksam zu werden. Essentiell für homophile Positionen war ein eher defensiver Ansatz, der die Mehrheitsgesellschaft von der „Ungefährlichkeit“ Homosexueller überzeugen wollte.

Die deutsche Homophilenbewegung ist zeitlich ca. zwischen 1949 und 1969 zu verorten. Diese Bürgerrechtsbewegung fiel laut Raimund Wolfert einem „doppelten Verschweigen anheim“. So habe einerseits „der westdeutsche Staat kaum etwas unversucht“ gelassen, „um homosexuelle Emanzipationsbestrebungen zu vereiteln“. Andererseits hätten „Vertreter der dritten deutschen Homosexuellenbewegung […] die Bemühungen und Leistungen ihrer Vorgänger nicht zur Kenntnis“ genommen.[1]

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Vorgeschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Anhand des deutschen Vorbilds der Homosexuellenbewegung der 1920er Jahre bemühten sich zeitgenössisch Aktivisten und kleine Gruppen in Europa und den USA in ihren Ländern eine vergleichbare Emanzipationsbewegung aufzubauen. Meist blieben diese Ansätze allerdings bedeutungslos und kurzlebig, so zum Beispiel Henry Gerbers Bemühungen in den USA oder um die französische Zeitschrift Inversions.

Mit der Zerschlagung der Strukturen der Homosexuellenbewegung in Deutschland wuchs die Bedeutung der wenigen verbliebenen Strukturen außerhalb Deutschlands. Von Bedeutung waren hierbei die Tschechoslowakei und vor allem die Schweiz. Nicht zuletzt aufgrund ihrer kulturellen Nähe zu Deutschland rezipierten sie in den 1930er und frühen 1940er Jahren die deutsche Bewegung der 1920er Jahre, tradierten ihre Strategien und Erkenntnisse und transformierten sie in ein Modell für die zunehmend repressiveren Bedingungen der westlichen Gesellschaften der 1940er und 1950er Jahre. So entwickelten sie die Grundlagen für die Homophilenbewegung der 1940er bis 1960er Jahre.

Tschechoslowakei[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im Mai 1931 erschien in Brno die erste Ausgabe des Hlas, des ersten tschechoslowakischen Magazins für Homosexuelle. 1932 wurde dort mit der Ceskoslovenská liga prosexuální reformu na sexuálně vědeckěm podkladě ein Verband gegründet und im selben Jahr fand der Weltkongress der von Magnus Hirschfeld geleiteten Weltliga für Sexualreform in Brno statt. Die lokalen Kräfte fanden diese starke Unterstützung durch Hirschfeld und seinen Sekretär Karl Giese, die nach der Zerstörung des Instituts für Sexualwissenschaft und ihrem Gang ins Exil von der Tschechoslowakei aus wirken wollten. Hirschfeld und Giese schrieben regelmäßig für Hlas, stießen ein deutschsprachiges Supplement an und planten sogar eine deutschsprachige Ausgabe des Heftes.[2]

Im Mai 1934 beteiligte sich der Schweizer Aktivist Karl Meier, später Herausgeber der führenden homophilen Zeitschrift Der Kreis, mit einem Beitrag an dem inzwischen umbenannten Nový Hlas, in dem er sich gegen Hirschfeld stellte, der Homosexualität als rein sexuelle Präferenz verstand. In der Nachfolge von Adolf Brand und dessen Verständnis vom Homoerotismus als einem höheren, „geistigen Lebensgefühl“ führte Meier eine Fehde fort, die bereits im Berlin der 20er Jahre virulent gewesen war. Möglicherweise als Folge des Artikels riss zu dieser Zeit die Verbindung zwischen Hirschfeld/Giese und Novy Hlas ab.[2]

Trotz aller Initiative gelang es Hlas/Novy Hlas nicht, genug Abonnenten zu gewinnen, nach Mai 1934 erschienen keine deutschen Texte mehr und im Dezember 1934 stellte die Zeitschrift ihr Erscheinen ein. Im September 1938 kam es zu einer einzigen Ausgabe eines Nachfolgers, Hlas Přírody, unter Mitwirkung des ehemaligen WhK-Vorstandes Kurt Hiller. Die Besetzung der Tschechoslowakei durch Deutschland ab Oktober setzte weiteren Bestrebungen ein Ende. Die zahlreiche Beteiligung namhafter Persönlichkeiten während ihres Bestehens macht deutlich, wie intensiv die tschechoslowakische Aktivität in Europa rezipiert wurde.[2]

Schweiz[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Schweizer Gruppierung, der es gelang, in dauerhafter Form und mit einer gewissen Breitenwirkung aktiv zu sein, war der von Laura Thoma und Anna Vock 1932 gegründete und getragene Schweizer Freundschaftsverband um die Zeitschrift Das Freundschaftsbanner. Angestoßen durch Thoma, die 1931 längere Zeit in der homosexuellen Subkultur Berlins lebte, wurde die nach dem Vorbild der Garconne gestaltete Zeitschrift zentral für die neu entstehende Schweizer Bewegung.[3][4] Zeitschrift und Verband konnten – trotz zahlreicher interner Transformationen – in der vom Zweiten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus nur indirekt berührten Schweiz bestehen bleiben. Ende der 1930er löste sich der Verband auf und die inzwischen in Menschenrecht umbenannte Zeitschrift sowie ihr Umfeld wurden durch männliche Homosexuelle dominiert.[5] Als sich 1942 dann nach Laura Thoma zuletzt auch Anna Vock aus der Arbeit zurückzog, hatte die ursprünglich aus einem Kreis lesbischer Frauen entstandene Zeitschrift nur noch drei weibliche Abonnentinnen, als Herausgeber und Verleger der Menschenrecht fungierte ab jetzt der „Rolf“ genannte Schauspieler Karl Meier.[6]

Der Kreis[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Rolf war es, der die Menschenrecht umgestaltete in Der Kreis. Die Vorgängerinnen Freundschaftsbanner und Menschenrecht orientierten sich weitgehend am Vorbild deutscher Zeitschriften der 1920er (insbesondere der Garconne). Rolf taufte Menschenrecht 1942 um und unterzog sie einer drastischen Neugestaltung, indem er auf das Modell von Adolf Brands Zeitschrift Der Eigene zurückgriff, für die er bereits in den 1920er Jahren geschrieben hatte. Der Eigene und die Gruppe Gemeinschaft der Eigenen waren Speerspitzen der Maskulinisten, einer männerbündischen, elitären und tendenziell misogynen Fraktion der ersten Homosexuellenbewegung, die sich als Antipode zum biologistischen Teil der Bewegung um Hirschfeld verstand und den Begriff Homosexualität als reduziert auf den „Sexus“ ablehnte, zugunsten eines weiter gefassten Begriffs des „Eros“.

Dieses Modell aktualisierte Rolf, antikisierende Vorbilder wichen zugunsten einer Adaption der künstlerischen Moderne, strikt schloss Rolf auch Frauen aus. In den 25 Jahren des Bestehens des Kreis erschien kein Text aus der Feder einer Frau, Frauen konnten nicht Mitglied des begleitenden Klubs sein und hatten dort auch keinen Zutritt. Rolf und seine Mitautoren formulierten ein ideales Bild des tugendhaften, gesellschaftlich angepassten und gebildeten Homophilen. Dies ging einher mit einer stark kontrollierten Sexualität, was dazu führte, dass z. B. Männer, die sich mit männlichen Prostituierten einließen, aus der Gruppe ausgestoßen wurden. Auch die Praxis des Analverkehrs galt als anrüchig. Meier verwarf den Begriff Homosexualität zugunsten des bereits 1924 von Karl-Günther Heimsoth geprägten Begriffs der „Homophilie“, von Heimsoth bewusst nicht als synonym definiert, sondern, anknüpfend an Vorstellungen Adolf Brands, Otto Weiningers und insbesondere Hans Blühers, eine an der besonderen Hochwertigkeit rein mann-männlicher Beziehungen orientierte „männerheldische heroische Freundesliebe“.[7]

Bereits mit seinem Debüt veröffentlichte der Kreis französischsprachige Beiträge, ab 1951 auch englischsprachige, dies öffnete Der Kreis auch für eine internationale Rezeption. Von den um 1959 2.000 Exemplaren der Auflage gingen rund 700 an ausländische Abonnenten. Die Auflage ist allerdings nicht identisch mit der Leserzahl, da die Hefte vielfach weitergegeben wurden. Die Abonnenten bildeten quasi auch den Verein und zu den regelmäßigen Festen in der Schweiz kamen Menschen aus ganz Europa.

Zur Zeit seiner Gründung war Der Kreis das einzige Periodikum gleichgeschlechtlich liebender Menschen weltweit und gewann in der unmittelbaren Nachkriegszeit enorme Bedeutung als Referenz für die sich konstituierende Homophilenbewegung. Neu entstehende Organisationen und Zeitschriften orientierten sich formal wie inhaltlich stark am Kreis, wurden durch das Netzwerk um ihn gefördert und unterstützt und kooperierten mit ihm, so das niederländische Cultuur- en Ontspanningscentrum ab 1946, der dänische Forbundet af 1948 und sein norwegischer Ableger,[8] die ab 1950 in den USA gegründeten Mattachine Society und One, Inc. oder die französische Arcadie ab 1954. Damit blieb es bis weit in die 1960er Jahre das einzige dauerhaft erscheinende homophile Medium mit signifikanter Reichweite. Der Kreis war das führende Organ der Homophilenbewegung, prägte ihren Diskurs und definierte deren Selbstverständnis und inhaltliche Ausrichtung nachhaltig bis zur Entstehung der Schwulen- und Lesbenbewegung zu Beginn der 1970er Jahre.

Deutschland[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wiedererstarken der deutschen Homosexuellenbewegung in der Nachkriegszeit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 bestanden die von den Nationalsozialisten verschärften Paragraphen 175, 175a des Strafgesetzbuches, die männliche Homosexualität kriminalisierten, fort. Die Artikel 2 und 3 des Grundgesetzes, welche die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ und die „Gleichberechtigung der Geschlechter“ garantieren, standen diesen Strafgesetzen allerdings gegenüber. Dieses gesetzgeberische Spannungsfeld bildete die Rahmenbedingungen für vornehmlich homosexuelle Männer, sich aktiv gegen die Kriminalisierung ihrer Sexualität zu wenden.[9]

Akteure und Gruppen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Homophilenbewegung war geprägt von einer bildungsbürgerlichen Perspektive, aus der man eine über wissenschaftliche Aufklärung erreichte „Humanität und Toleranz“ der eigenen Minderheit gegenüber einforderte. Gleichzeitig bemühte man sich darum, gesellschaftliche Zuschreibungen gegenüber der homosexuellen Minderheit – wie Femininität, Jugendverführung, Triebhaftigkeit bzw. einer Reduzierung gleichgeschlechtlicher Kontakte auf das Sexuelle – für die eigenen Reihen betont zu negieren.[10] Aufgrund der bisherigen Fokussierung der Geschichtswissenschaft auf homosexuelle Emanzipationsbestrebungen vor 1933 und die Lebenswirklichkeit der homosexuellen Minderheit zur Zeit des Dritten Reiches ist bislang wenig über die homophilen Aktivisten und Gruppen selbst bekannt. Zu nennen wären etwa Einzelpersonen wie Erwin Haarmann, Heinz Meininger, Konstantin Ortloff und Anna Stübbe, deren Biographien nur in Teilen rekonstruiert werden können.[11]

Zentrale Gruppierungen, zu denen es nur eine lückenhafte Quellen- bzw. Forschungslage gibt, waren der Frankfurter Verein für humanitäre Lebensgestaltung e.V. (VhL), der Bremer Club Elysium sowie die Hamburger Gesellschaft für Menschenrechte (GfM). Andere Gruppen stellen etwa die Internationale Freundschaftsloge (IFLO) aus Bremen, die Reutlinger Kameradschaft die runde und die Berliner Gesellschaft für Reform des Sexualstrafrechts (GfRdS) dar. Es ist wenig über das Beziehungsgeflecht der Gruppen untereinander bekannt. Gesichert ist allerdings der Kontakt zu Homosexuellenorganisationen im Ausland. So lassen sich Kontakte zur Schweizer Homophilenzeitschrift Der Kreis, dem Amsterdamer Zentrum für Kultur und Entspannung (COC) und dem International Committee for Sexual Equality (ICSE) belegen.[12]

COC-Logo
COC-Vereinssitz in Amsterdam

Zeitschriften[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Von herausragender Bedeutung für die Diskussion der Homophilen untereinander und deren Reflexion als homosexuelle Minderheit über die eigene gesellschaftliche Lage waren Homosexuellenzeitschriften. Neben dem Gedankenaustausch dienten die Zeitschriften auch als Ratgeber, sie versuchten zu belehren sowie „Trost und Beistand zu leisten.“ Sowohl Leser als auch Schreiber sollten sich in diesem Kontext selbst Orientierung verschaffen. Bei Burkhardt Riechers findet sich ein Überblick über die homophile Presse sowie eine zeitliche Einordnung der einzelnen Zeitschriften:[13]

„1951 bis 1952 Die Freundschaft bzw. Die Freunde bzw. Freond mit den Literarischen Monatsblättern Pan, von Rudolf Ihne in Hamburg; 1952 bis 1954. Die Gefährten, vom Frankfurter "Verein für humanitäre Lebensgestaltung" (VhL); 1953 Vox im Hamburger Gustav Leue Verlag: 1953 bis 1954 Hellas, nachfolgend 1954 bis 1955 Humanitas in Hamburg im Verlag Christian Hansen Schmidt; 1955 bis 1958 Der Ring, vom Hamburger Verlag Gerhard Prescha; 1951 bis 1970 Der Weg (früher: Die Insel) vom Verlag Rolf Putziger, später Wolf H.F. Prien & Co. in Hamburg; von 1955 bis 1969 Die Runde (hieß ab 1964 Der Rundblick), von der Reutlinger Kameradschaft "die runde" in hektographierter Form. Mit Abstand am bekanntesten und verbreitetsten war der 1943 bis 1967 von Karl Meier (unter dem Pseudonym "Rolf") in Zürich edierte Kreis mit deutschem, englischem und französischem Teil, wobei ersterer detailliert auf Ereignisse in Deutschland einging. Mit Ausnahme des Weges, des Kreises und der Runde stellten alle Zeitschriften nach spätestens 3 Jahren ihr Erscheinen ein. Wiederholte Indizierungen, Beschlagnahmungen, aber auch Streit verschiedener Homosexuellen-Organisationen untereinander, verhinderten, dass die betreffenden Blätter kontinuierlich erschienen. Der Schweizer Lesezirkel "Der Kreis" und die Württemberger Kameradschaft "die runde" bestanden immerhin fast 25 bzw. 15 Jahre.[14]

Frankfurt am Main als Homophilenhochburg[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Frankfurt am Main der 1950er-Jahre kann neben Hamburg als Hochburg der Homophilenbewegung gesehen werden.[15] So bemühte sich Hans Giese, der im April 1949 das Institut für Sexualforschung gegründet hatte, dort im Oktober 1949 um eine Neugründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK). Der Vereinsaktivist Hermann Weber wurde dessen erster Präsident. Der im selben Jahr von Heinz Meininger gegründete Verein für humanitäre Lebensgestaltung (VhL) trat dem WhK geschlossen bei.[16] Bei den berüchtigten Frankfurter Homosexuellenprozessen 1950/1951, die maßgeblich von der Staatsanwaltschaft durch Instrumentalisierung des Kronzeugen Otto Blankenstein initiiert wurden, wandten sich einzelne Mitglieder des VhL, wie etwa der Rechtsanwalt Erich Schmidt-Leichner oder der Journalist Rudolf Eims, aktiv gegen die staatlichen Verfolgungen. Als Ende 1950 ein anonymer Drohbrief gegen den in die Homosexuellenprozesse involvierten Oberstaatsanwalt Hans-Krafft Kosterlitz zugestellt worden war und man bei der Staatsanwaltschaft den Briefschreiber den homophilen Kreisen Frankfurts am Main zurechnete, wurden im Vereinslokal des VhL, dem Felsenkeller, Anfang 1951 polizeiliche Überwachungsmaßnahmen durchgeführt.[17] Im November 1952 richtete der VhL ein Memorandum an das Bundesjustizministerium sowie den Deutschen Bundestag, in dem eine Reform des § 175 StGB gefordert wurde. Zudem organisierte der Verein im selben Jahr in Frankfurt am Main in Kooperation mit niederländischen Aktivisten den 2. Kongress des International Committee for Sexual Equality (ICSE).[18]

Niedergang der Homophilenbewegung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Raimund Wolfert betont bezüglich der Forschungslage zur deutschen Homophilenbewegung, dass es „nach wie vor schwierig“ sei, „die Protagonisten […] zu identifizieren und ihre Bemühungen und Leistungen herauszustellen.“ Dies liege „nicht nur an ihrer Erfolglosigkeit“, sondern insbesondere daran, dass viele Fragen „zum Beziehungsgeflecht der homophilen Aktivisten sowie ihrer Gruppierungen“ noch immer offen seien, „weil schlichtweg grundlegende Informationen über Kontakte und Unternehmungen“ fehlten. Dies gelte „sogar für die Beteiligten eben des Prozesses, welcher der Bewegung letztlich den Garaus machte.“[19] Trotz all dieser Schwierigkeiten gelingt es Wolfert, den langsamen Niedergang der Bürgerrechtsbewegung folgendermaßen zu umreißen:

„Im Sommer 1957 verfielen auch die übrigen noch vorhandenen bundesdeutschen Homophilengruppen in Agonie oder lösten sich auf. Auf dem Brüsseler ICSE-Kongress von 1958 waren die IFLO und die Berliner GfRds die einzigen verbliebenen deutschen Verbände. Nach der Hamburger GfM war auch der Frankfurter VhL von der Bildfläche verschwunden. Als sich der ICSE-Vorstand im Spätsommer 1959 zu einer Arbeitstagung in Bremen traf, war die GfRds ebenfalls nicht mehr dabei […]. Der Berliner Vorstand beschloss im Oktober 1959 die Auflösung des Vereins, und in der folgenden Jahreshauptversammlung am 13. Januar 1960 wurde die Entscheidung von den 15 anwesenden Mitgliedern mehrheitlich gebilligt. Als Liquidator beantragte Hans Borgward im Sommer 1960 beim zuständigen Amtsgericht die Registerlöschung.[20]

Hintergrund des Niedergangs dürfte auch die Entscheidung des Bundesverfasssungerichtes vom 10. Mai 1957 sein, wonach Paragraf 175 beibehalten wurde. Erst ab 1965 zeichnete sich der allgemeine Wertewandel in der Gesellschaft auch zunehmend in der Statistik der Verurteilungen durch sinkende Zahlen ab.[21][22]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Schwules Museum, Akademie der Künste, Berlin (Hrsg.): Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung. Eine Ausstellung des Schwulen Museums und der Akademie der Künste, 17. Mai bis 17. August 1997. Berlin 1997, ISBN 3-86149-062-5.
  • Rainer Herrn: Anders bewegt. 100 Jahre Schwulenbewegung in Deutschland (Waldschlösschen). MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg 1999, ISBN 3-928983-78-4, S. 80.
  • Rainer Hoffschildt: 140.000 Verurteilungen nach „§ 175“. In: Fachverband Homosexualität und Geschichte e. V. (Hrsg.): Denunziert, verfolgt, ermordet: Homosexuelle Männer und Frauen in der NS-Zeit (= Invertito. Band 4). MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg 2002, ISBN 3-935596-14-6, S. 140–149.
  • Hubert Kennedy: Der Kreis: eine Zeitschrift und ihr Programm (= Bibliothek rosa Winkel. Band 19). rosa Winkel, Berlin 1999, ISBN 3-86149-084-6.
  • Eric Marcus: Making History : The Struggle for Gay and Lesbian Equal Rights, 1945–1990. An Oral History. New York 1993, ISBN 0-06-016708-4.
  • Andreas Salmen, Albert Eckert, Bundesverband Homosexualität (Hrsg.): 20 Jahre bundesdeutsche Schwulenbewegung: 1969–1989. Köln 1989.
  • Elmar Kraushaar: Unzucht vor Gericht. In: Elmar Kraushaar (Hrsg.): Hundert Jahre schwul. Eine Revue. Berlin 1997. ISBN 3 87134 307 2, S. 60–69.
  • Thomas Löw: Der «Kreis» und sein idealer Schwuler. In: Kuno Trüeb, Stephan Miescher: Männergeschichten. Schwule in Basel seit 1930. Basler Zeitung, Basel 1988, ISBN 3-85815-163-7, S. 157–165.
  • Andreas Pretzel, Volker Weiß (Hrsg.): Ohnmacht und Aufbegehren. Homosexuelle Männer in der frühen Bundesrepublik. Geschichte der Homosexuellen in Deutschland nach 1945. Band I (= Edition Waldschlösschen. Band 9). Männerschwarm, Hamburg 2010, ISBN 978-3-939542-81-0.
  • Burkhardt Riechers: Freundschaft und Anständigkeit. Leitbilder im Selbstverständnis männlicher Homosexueller in der frühen Bundesrepublik. In: Invertito. Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten. Hamburg 1999, S. 12–46.
  • Dieter Schiefelbein: Wiederbeginn der juristischen Verfolgung homosexueller Männer in der Bundesrepublik Deutschland. Die Homosexuellen-Prozesse in Frankfurt am Main 1950/51. In: Zeitschrift für Sexualforschung 5/1 (1992), S. 59–73.
  • Daniel Speier: Die Frankfurter Homosexuellenprozesse zu Beginn der Ära Adenauer – eine chronologische Darstellung. In: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft 61/62 (2018), S. 47–72.
  • Karl-Heinz Steinle: Der Kreis: Mitglieder, Künstler, Autoren (= Hefte des Schwulen Museums. Band 2). rosa Winkel, Berlin 1999, ISBN 3-86149-093-5.
  • Raimund Wolfert: Gegen Einsamkeit und 'Einsiedelei'. Die Geschichte der Internationalen Homophilen Welt-Organisation I. H. W. O. Männerschwarm, Hamburg 2009, ISBN 978-83-61719-44-1.
  • Marcus Velke: Verfolgung und Diskriminierung – Männliche Homosexualität. In: Kirsten Plötz und Marcus Velke: Aufarbeitung von Verfolgung und Repression lesbischer und schwuler Lebensweisen in Hessen 1945–1985. Bericht im Auftrag des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration zum Projekt „Aufarbeitung der Schicksale der Opfer des ehemaligen § 175 StGB in Hessen im Zeitraum 1945 bis 1985“ (2018), S. 134–265, 275–276. [URL: https://soziales.hessen.de/sites/default/files/media/hsm/forschungsbericht_aufarbeitung_verfolgung.pdf].
  • Raimund Wolfert: Zwischen den Stühlen – die deutsche Homophilenbewegung der 1950er Jahre. Forschung im Queerformat: Aktuelle Beiträge der LSBTI*-, Queer- und Geschlechterforschung. Hrsg. von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. transcript, Bielefeld 2014, S. 87–104. doi:10.1515/transcript.9783839427026.87
  • Christopher Treiblmayr: Männerbünde und Schwulenbewegung im 20. Jahrhundert. In: Europäische Geschichte Online (EGO). Hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG). Mainz 2010-12-03. URL: http://www.ieg-ego.eu/treiblmayrc--2010-de URN: urn:nbn:de:0159-2010101110

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Wolfert 2014 S. 87f.
  2. a b c Hans P. Soetaert: Hirschfelds Fackelträger in der Tschechoslowakei (und in der Schweiz?) in: Capri Zeitschrift für schwule Geschichte, Nr. 49, 2015
  3. schwulengeschichte.ch: Freundschafts-Verband, Zugriff am 27. November 2020
  4. schwulengeschichte.ch: "Freundschafts-Banner", Zugriff am 27. November 2020
  5. schwulengeschichte.ch: "Die Schweiz wird zur Insel", Zugriff am 8. April 2020
  6. schwulengeschichte.ch: [1], Zugriff am 27. November 2020
  7. Karl Günther Heimsoth: „Freundesliebe oder Homosexualität. Ein Versuch einer anregenden und scheidenden Klarstellung“, in: Der Eigene, 1925, S. 415–425.
  8. Raimund Wolfert: Gegen Einsamkeit und 'Einsiedelei'. Die Geschichte der Internationalen Homophilen Welt-Organisation (IHWO), Männerschwarm, Hamburg 2009, ISBN 978-83-61719-44-1, S. 15 ff.
  9. Wolfert 2014 S. 87f.
  10. Riechers 1999, S. 12ff.
  11. Wolfert 2014, S. 87ff.
  12. Wolfert 2014, S. 87ff.
  13. Riechers 1999, S. 12ff.
  14. Riechers 1999, S. 18.
  15. Velke 2018, S. 134–265; S. 275–276.
  16. Schiefelbein 1992, S. 61.
  17. Speier, S. 60–64.
  18. Riechers 1999, S. 19.
  19. Wolfert 2014, S. 102.
  20. Wolfert 2014, S. 101.
  21. Michael Glas: 100 Jahre Schwulenbewegung – Teil 3 – Die Formierungsphase ab 1969 (Memento vom 11. Dezember 2011 im Internet Archive), 28. September 1997, Version: 20. Februar 1998, nuernberg.gay-web.de.
  22. Rainer Hoffschildt: 140.000 Verurteilungen nach „§ 175“. In: Fachverband Homosexualität und Geschichte e. V. (Hrsg.): Invertito – 4. Jg. – Denunziert, verfolgt, ermordet: Homosexuelle Männer und Frauen in der NS-Zeit. MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg 2002, ISBN 3-935596-14-6, S. 140–149.