Klimaseniorinnen Schweiz

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Klimaseniorinnen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (2023)

Klimaseniorinnen Schweiz ist ein Schweizer Verein, in dem sich Seniorinnen zusammengeschlossen haben mit dem Ziel, die schweizerische Klimapolitik gerichtlich zu prüfen. Auf ihre Klage urteilte der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte am 9. April 2024, dass die Schweiz aufgrund ihrer Klimapolitik die Europäische Menschenrechtskonvention verletzte.[1][2]

Verein

Organisation

Der Verein Klimaseniorinnen Schweiz wurde am 23. August 2016 gegründet.[3] Das statutarische Ziel des Vereins ist die «Förderung und Realisierung eines wirksamen Klimaschutzes im Interesse seiner Mitglieder», dieses soll aber ausdrücklich auch durch «Ergreifen von juristischen Mitteln» erreicht werden.[4]

Mitinitiiert wurde die Organisation vom Schweizer Ableger von Greenpeace. Der Klimaspezialist Georg Klingler hatte eine erfolgreiche Bürgerinnenaktion in Holland zum Vorbild genommen.[5] Die Klimaseniorinnen werden durch ein Rechtsteam unterstützt, welches durch Cordelia Bähr, Martin Looser und Raphaël Mahaim vertreten wird. Das Team wird seit November 2022 durch die britischen Anwälte Jessica Simor und Marc Willers unterstützt.[6]

Zum Vorstand gehören Rosmarie Wydler-Wälti (Co-Präsidentin), Anna Mahrer (Co-Präsidentin), Pia Hollenstein, Rita Schirmer-Braun, Oda U. Müller, Jutta Steiner, Elisabeth Stern, Norma Bargetzi-Horisberger und Stefanie Brander.[6] Weitere Mitglieder sind unter anderem die Schweizer Historikerinnen Elisabeth Joris und Heidi Witzig und die Politikerin und ehemalige Bundesratskandidatin Christiane Brunner.

Forderung

Der Verein wurde als Betroffenen-Verein gegründet mit dem besonderen Ziel einer Klimaklage.[7] Der Verein fordert eine unabhängige gerichtliche Überprüfung der Klimapolitik. Die Klimaseniorinnen fordern von der Schweiz, ihre Schutzpflichten wahrzunehmen und ein Klimaziel zu verfolgen, das der Anforderung genügt, eine gefährliche Störung des Klimasystems zu verhindern. Sie fordern zudem umfassendere, auf dieses Ziel angepasste Massnahmen und eine bessere Umsetzung der bereits beschlossenen Massnahmen.[7]

Geschichte

Rechtsbegehren für mehr Klimaschutz

Am 25. Oktober 2016 präsentierten die Klimaseniorinnen ihre Klage in Bern der Öffentlichkeit.[7] Sie reichten das Rechtsbegehren «um Einstellung von Unterlassungen im Klimaschutz» beim Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation ein. Dieses entschied am 26. April 2017, nicht auf das Rechtsbegehren einzutreten. Danach gelangten die Klimaseniorinnen mit ihrer Beschwerde am 26. Mai 2017 an das Bundesverwaltungsgericht.[8] Die Beschwerde wurde am 7. Dezember 2018 abgewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht befand, die Klimaseniorinnen seien von der Klimaerwärmung beziehungsweise von den ihrer Auffassung nach ungenügenden Klimaschutzmassnahmen der Schweiz nicht mehr betroffen als andere Menschen.[9][10]

Am 21. Januar 2019 übergab eine Delegation der Klimaseniorinnen Schweiz ihre Beschwerde dem Bundesgericht in Lausanne. Dieses wies am 5. Mai 2020 die Beschwerde ab, mit der Begründung, dass die Beschwerdeführerinnen in ihren Grundrechten auf Leben und auf Achtung des Privat- und Familienlebens im heutigen Zeitpunkt nicht in einem Ausmass berührt seien, um eine Verfügung über Realakte nach im Sinne des Verwaltungsverfahrensgesetzes verlangen zu können.[11]

Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Am 27. Oktober 2020 kündigten die Klimaseniorinnen ihre Klimaklage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg an. Am 1. Dezember 2020 wurde die Klage als Beschwerde eingereicht, am 29. April 2022 wies sie der Gerichtshof der Grossen Kammer zu, weil er sie als besonders wichtig und dringend einstufte. Die Klägerinnen sahen sich in ihrem Recht auf Leben gemäss Europäischer Menschenrechtskonvention (Art. 2 EMRK) und in ihrem Recht auf Privatleben (Art. 8 EMRK) verletzt.[12]

Am 29. März 2023 fand die öffentliche Anhörung mit grossem nationalem und internationalem Medienecho in Strassburg statt. Der Fall wurde als «historischer Klimafall» bezeichnet.[13][14][15][16][17][18][19][20]

Im Urteil vom 9. April 2024 wurde festgehalten, dass die Schweiz das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie das Recht auf ein faires Verfahren der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzte.[21][22]

Auswirkungen

Reaktionen auf Urteil

Schweiz

Die amtierende Bundespräsidentin der Schweiz Viola Amherd zeigte sich in einer ersten Reaktion überrascht über das Urteil, äusserte sich aber zunächst nicht inhaltlich.[23] Das für Umweltfragen zuständige Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation teilte mit, dass das Bundesamt für Justiz das Urteil prüfen werde. Es verwies zudem auf die Umweltschutzmassnahmen der letzten Jahre, darunter auf das im Jahr 2023 von der Bevölkerung angenommene Klima- und Innovationsgesetz, das den Ausstieg aus fossilen Energien bis 2050 vorsieht.[24]

Das Urteil wurde von schweizerischen und internationalen Medien breit aufgegriffen. In der Schweiz dominierten in den Medien kritische Kommentare. Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte den Entscheid als «absurdes Urteil» und forderte eine Debatte über den «Sinn und Zweck der Europäischen Menschenrechtskonvention».[25] Der Blick nannte das Urteil zwar eine «Sensation», kritisierte es aber auch als «befremdlich und möglicherweise gar kontraproduktiv».[26] Der Tages-Anzeiger befürchtete im Kommentar, dass die Demokratie unter Druck gerate, «wenn Gerichte anfangen, den Gang der Klimapolitik zu bestimmen».[27] Die Republik wertete den Entscheid als «dickes und deutliches Urteil», welches weltweit als Präzedenzfall Signalwirkung habe.[28]

In der schweizerischen Bundespolitik orientierten sich die Reaktionen entlang des politischen Spektrums. Links-grüne Parteien, darunter die Sozialdemokratische Partei[29] und die Grünen[30] lobten den Gerichtsentscheid als «historisch». SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer bezeichnete das Urteil «des höchsten europäischen Gerichts» als «Ohrfeige für den Bundesrat». Der Präsident der Grünliberalen Partei Jürg Grossen nannte das Urteil «nicht überraschend», weil es bekannt sei, dass die Politik zu wenig für das Klima tue.[23] Bei der liberalen FDP und der rechtskonservativen SVP dominierten kritische bis abfällige Reaktionen. So bezeichnete der Freisinnige Nationalrat Christian Wasserfallen das Urteil als «völlig unverständlich». Eine Reaktion der Partei gab es zunächst nicht. Die SVP wiederholte ihre Kritik gegen internationale Verträge wie die Menschenrechtskonvention und forderte den Austritt der Schweiz aus der Konvention.[31]

International

Die Tagesschau in Deutschland mutmasste in ihrem Kommentar, dass die «künftigen Generation dankbar» für das Urteil sein werden und dass zukünftige Regierungen mit weiteren Klagen rechnen müssten.[32] Der britische Guardian sprach von einer «bahnbrechenden Entscheidung». Diese würde den Druck auf Regierungen erhöhen, «die Atmosphäre nicht länger mit Gasen zu füllen, die extreme Wetterlagen heftiger machen».[33] Der österreichische Standard erwähnte in seiner Berichterstattung eine österreichische Klimaklage, welche hängig ist. Das Urteil gegen die Schweiz habe «Bedeutung für ganz Europa».[34]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Sieg für Klimaseniorinnen – Europäisches Gericht: Schweiz verletzt Menschenrechte beim Klima. In: srf.ch. 9. April 2024, abgerufen am 9. April 2024.
  2. Katharina Fontana: Klimaseniorinnen: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte rügt Schweiz. In: nzz.ch. 9. April 2024, abgerufen am 9. April 2024.
  3. Protokoll der Gründungsversammlung. In: Klimaseniorinnen.ch. 23. August 2016, abgerufen am 9. April 2024 (Schweizer Hochdeutsch).
  4. Statuten vom 15. September 2023. In: Klimaseniorinnen. 15. September 2023, abgerufen am 9. April 2024 (Schweizer Hochdeutsch).
  5. Klimaseniorinnen. Abgerufen am 19. April 2023.
  6. a b Über uns. Abgerufen am 19. April 2023.
  7. a b c Warum wir klagen. Abgerufen am 19. April 2023.
  8. KlimaSeniorinnen ziehen vor Gericht. 23. Mai 2017, abgerufen am 19. April 2023.
  9. Bundesverwaltungsgericht BVGer: Klimaseniorinnen unterliegen vor Gericht. Abgerufen am 19. April 2023.
  10. Seniorinnen verlieren vor Gericht. Abgerufen am 19. April 2023.
  11. Bundesgerichtsentschied: Medienmitteilung des Bundesgerichts. In: BGE. BGE, 20. Mai 2020, abgerufen am 28. April 2023.
  12. Europäischer Gerichtshof – Worum geht es bei der Klage der Klimaseniorinnen? In: srf.ch. 29. März 2023, abgerufen am 19. April 2023.
  13. 10 vor 10 vom 29.03.2023 – Play SRF. Abgerufen am 19. April 2023.
  14. Swiss court case ties human rights to climate change. Abgerufen am 19. April 2023 (englisch).
  15. ‘Historic’ climate cases against governments at European court. Abgerufen am 19. April 2023 (englisch).
  16. Isabella Kaminski: Switzerland and France accused of lack of climate action in ECHR hearing. In: The Guardian. 29. März 2023, ISSN 0261-3077 (theguardian.com [abgerufen am 19. April 2023]).
  17. Fürs Klima vor Gericht – Kontext – SRF. Abgerufen am 19. April 2023.
  18. Irène Troxler: Reportage: Klimaseniorinnen verklagen Schweiz am EGMR. In: Neue Zürcher Zeitung. (nzz.ch [abgerufen am 19. April 2023]).
  19. Klimaseniorinnen reisen nach Strassburg – Im Zug mit den Frauen, die die Schweiz verklagen. Abgerufen am 19. April 2023.
  20. Klage der Klimaseniorinnen: Die grosse Vorführung | WOZ Die Wochenzeitung. Abgerufen am 19. April 2023.
  21. HUDOC – European Court of Human Rights. Abgerufen am 9. April 2024.
  22. Grand Chamber rulings in the climate change cases. EGMR, 9. April 2024, abgerufen am 9. April 2024 (britisches Englisch).
  23. a b Von «historisch» bis «lächerlich» – so gehen die Meinungen zum Klima-Urteil auseinander. In: watson.ch. 9. April 2024, abgerufen am 9. April 2024.
  24. Nach EGMR-Urteil: Der Bund ist überrascht, die Parteien gespalten. 9. April 2024, abgerufen am 9. April 2024.
  25. Katharina Fontana: Strassburger Urteil gegen die Schweiz: Klimapolitik von der Richterbank herab. In: Neue Zürcher Zeitung. 9. April 2024, ISSN 0376-6829 (nzz.ch [abgerufen am 9. April 2024]).
  26. Rolf Cavalli: Kommentar zum Urteil aus Strassburg: Wir wollen keine Klima-Justiz. In: Blick.ch. Ringier, 9. April 2024, abgerufen am 9. April 2024.
  27. Stefan Häne: Kommentar zur Rüge aus Strassburg – Das Klima-Urteil birgt eine Gefahr. In: Tages-Anzeiger. 9. April 2024, abgerufen am 9. April 2024.
  28. Brigitte Hürlimann: Klimaschutz ist ein Menschenrecht. In: Republik. 9. April 2024 (republik.ch [abgerufen am 9. April 2024]).
  29. SP Schweiz: Schweiz wegen Untätigkeit im Klimabereich verurteilt: Der EGMR bestätig die Bedenken der SP Schweiz – SP Schweiz. 9. April 2024, abgerufen am 9. April 2024 (Schweizer Hochdeutsch).
  30. antonia.siegen: Historisches EGMR-Urteil: GRÜNE fordern Klimaziele für die Finanz- und Flugbranche. In: GRÜNE Schweiz. 9. April 2024, abgerufen am 9. April 2024 (deutsch).
  31. Das Strassburger Urteil ist inakzeptabel – die Schweiz muss aus dem Europarat austreten. In: SVP Schweiz. Abgerufen am 9. April 2024 (deutsch).
  32. Max Bauer: EMGR-Entscheidung: Klimaschutz - ein Menschenrecht. In: tagesschau.de. 9. April 2024, abgerufen am 9. April 2024.
  33. Ajit Niranjan: Human rights violated by Swiss inaction on climate, ECHR rules in landmark case. In: The Guardian. 9. April 2024, ISSN 0261-3077 (theguardian.com [abgerufen am 9. April 2024]).
  34. Nora Laufer, Jakob Pflügl: Gerichtshof: Schweiz verletzt Menschenrechte wegen mangelnden Klimaschutzes. In: derstandard.at. 9. April 2024, abgerufen am 9. April 2024 (österreichisches Deutsch).